» Startseite » Texte von Heine » Französische Zustände - Artikel VII

Heinrich Heine
Französische Zustände






Artikel VII

Paris, 12. Mai 1832


Die geschichtlichen Rückblicke, die der vorige Artikel angekündigt, müssen vertagt werden. Die Gegenwart hat sich unterdessen so herbe geltend gemacht, daß man sich wenig mit der Vergangenheit beschäftigen konnte. — Das große allgemeine Übel, die Cholera, entweicht zwar allmählich, aber es hinterläßt viel Betrübung und Bekümmernis. Die Sonne scheint zwar lustig genug, die Menschen gehen wieder lustig spazieren und kosen und lächeln; aber die vielen schwarzen Trauerkleider, die man überall sieht, lassen keine rechte Heiterkeit in unserem Gemüte aufkommen. Eine krankhafte Wehmut scheint jetzt im ganzen Volke zu herrschen, wie bei Leuten, die ein schweres Siechtum überstanden. Nicht bloß auf der Regierung, sondern auch auf der Opposition liegt eine fast sentimentale Mattigkeit. Die Begeisterung des Hasses erlischt, die Herzen versumpfen, im Gehirne verblassen die Gedanken, man betrachtet einander gutmütig gähnend, man ist nicht mehr böse aufeinander, man wird sanftlebig, liebsam, vertröstet, christlich; deutsche Pietisten könnten jetzt hier gute Geschäfte machen.

Man hatte früher wunder geglaubt, wie schnell sich die Dinge ändern würden, wenn Casimir Périer sie nicht mehr leite. Aber es scheint, als sei unterdessen das Übel inkurabel geworden; nicht einmal durch den Tod Périers kann der Staat genesen.

Daß Périer durch die Cholera fällt, durch ein Weltunglück, dem weder Kraft noch Klugheit widerstehen kann, muß auch seine abgesagtesten Gegner mißstimmen. Der allgemeine Feind hat sich in ihre Bundesgenossenschaft gedrängt, und von solcher Seite kann ihnen auch die wirksamste Hülfeleistung nicht sehr behagen. Périer hingegen gewinnt dadurch die Sympathie der Menge, die plötzlich einsieht, daß er ein großer Mann war. Jetzt, wo er durch andere ersetzt werden soll, mußte diese Größe bemerkbar werden. Vermochte er auch nicht mit Leichtigkeit den Bogen des Odysseus zu spannen, so hätte er doch vielleicht, wo es not tat, mit Anstrengung aller seiner Spannkraft, das Werk vollbracht. Wenigstens können jetzt seine Freunde prahlen, er hätte, intervenierte nicht die Cholera, alle seine Vorsätze durchgeführt. Was wird aber aus Frankreich werden? Nun ja, Frankreich ist jene harrende Penelope, die täglich webt und täglich ihr Gewebe wieder zerstört, um nur Zeit zu gewinnen bis zur Ankunft des rechten Mannes. Wer ist dieser rechte Mann? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, er wird den großen Bogen spannen können, er wird den frechen Freiern den Schmaus verleiden, er wird sie mit tödlichen Bolzen bewirten, er wird die doktrinären Mägde, die mit ihnen allen gebuhlt haben, aufhängen, er wird das Haus säubern von der großen Unordnung und mit Hülfe der weisen Göttin eine bessere Wirtschaft einführen. Wie unser jetziger Zustand, wo die Schwäche regiert, ganz der Zeit des Direktoriums ähnelt, so werden wir auch unseren achtzehnten Brumaire erleben, und der rechte Mann wird plötzlich unter die erblassenden Machthaber treten und ihnen die Endschaft ihrer Regierung ankündigen. Man wird alsdann über Verletzung der Konstitution schreien, wie einst im Rate der Alten, als ebenfalls der rechte Mann kam, welcher das Haus säuberte. Aber wie dieser entrüstet ausrief: „Konstitution! Ihr wagt es noch euch auf die Konstitution zu berufen, ihr, die ihr sie verletzt habt am 18. Fructidor, verletzt am 22. Floréal, verletzt am 30. Prairial!“, so wird der rechte Mann auch jetzt Tag und Datum anzugeben wissen, wo die Justemilieu-Ministerien die Konstitution verletzt haben.

Wie wenig die Konstitution nicht bloß in die Gesinnung der Regierung, sondern auch des Volks eingedrungen, ergibt sich hier jedesmal, wenn die wichtigsten konstitutionellen Fragen zur Sprache kommen. Beide, Volk und Regierung, wollen die Konstitution nach ihren Privatgefühlen auslegen und ausbeuten. Das Volk wird hierzu mißleitet durch seine Schreiber und Sprecher, die entweder aus Unwissenheit oder Parteisucht die Begriffe zu verkehren suchen; die Regierung wird dazu mißleitet durch jene Fraktion der Aristokratie, die, aus Eigennutz ihr zugetan, den jetzigen Hof bildet und noch immer, wie unter der Restauration, das Repräsentativsystem als einen modernen Aberglauben betrachtet, woran das Volk nun einmal hänge, den man ihm auch nicht mit Gewalt rauben dürfe, den man jedoch unschädlich mache, wenn man den neuen Namen und Formen, ohne daß die Menge es merke, die alten Menschen und Wünsche unterschiebt. Nach den Begriffen solcher Leute ist derjenige der größte Minister, der mit den neuen konstitutionellen Formeln ebensoviel auszurichten vermag, wie man sonst mit den alten Formeln des alten Regimes durchzusetzen wußte. Ein solcher Minister war Villèle, an den man jedoch jetzt, als nämlich Périer erkrankte, nicht zu denken gewagt. Indessen man hatte Mut genug, an Decazes zu denken. Er wäre auch Minister geworden, wenn der neue Hof nicht gefürchtet hätte, daß er alsdann durch die Glieder des alten Hofes bald verdrängt würde. Man fürchtete, er möchte die ganze Restauration mit sich ins Ministerium bringen. Nächst Decazes hatte man Herrn Guizot besonders im Auge. Auch diesem wird viel zugetraut, wo es gilt, unter konstitutionellen Namen und Formen die absolutesten Gelüste zu verbergen. Denn dieser Quasivater der neuern Doktrinäre, dieser Verfasser einer englischen Geschichte und einer französischen Synonymik versteht aufs meisterhafteste, durch parlamentarische Beispiele aus England, die illegalsten Dinge mit einem ordre legal zu bekleiden und durch das plump gelehrte Wort den hochfliegenden Geist der Franzosen zu unterdrücken. Aber man sagt, während er mit dem Könige, welcher ihm ein Portefeuille antrug, etwas feurig sprach, habe er plötzlich die ignobelsten Wirkungen der Cholera verspürt, und schnell in der Rede abbrechend, sei er geschieden mit der Äußerung, er könne dem Drange der Zeit nicht widerstehen. Guizots Durchfall bei der Wahl eines neuen Ministers wird von andern noch komischer erzählt. Mit Dupin, den man immer als Périers Nachfolger betrachtet hatte und dem man viel Kraft und Mut zutraut, begannen jetzt die Unterhandlungen. Aber diese scheiterten ebenfalls, indem Dupin sich manche Beschränkungen nicht gefallen lassen wollte, die zunächst die Präsidentur des Konseils betrafen. Mit der erwähnten Präsidentur des Konseils hat es eine eigene Bewandtnis. Der König hat nämlich sich selber sehr oft diese Präsidentur zugeteilt, namentlich im Beginne seiner Regierung; dieses war für die Minister immer ein fataler Umstand, und die damaligen Mißhelligkeiten sind meistens daraus hervorgegangen. Périer allein hat sich solchen Eingriffen zu widersetzen gewußt; er entzog dadurch die Geschäfte dem allzu großen Einflusse des Hofes, der unter allen Regierungen die Könige lenkt; und man sagt, daß die Nachricht von Périers Krankheit nicht allen Freunden der Tuilerien unangenehm gewesen sei. Der König schien jetzt gerechtfertigt, wenn er selbst die Präsidentur des Konzils übernahm. Als solches offenkundig ward, entstand in Salons und Journalen die leidenschaftlichste Polemik über die Frage, ob der König das Recht habe, dem Konzil zu präsidieren.

Hiebei kam nun viel Schikane und noch mehr Unwissenheit zum Vorscheine. Da schwatzten die Leute, was sie nur jemals halb gehört und gar nicht verstanden hatten, und das rauschte und spritzte ihnen aus dem Munde wie ein politischer Wasserfall. Die Einsicht der meisten Journale war ebenfalls nicht von der brillantesten Art. Nur der „National“ zeichnete sich aus. Man hörte auch wieder die alte Streitformel, die er in der letzten Zeit der Restauration vorgebracht hatte: „Le roi règne, mais ne gouverne pas.“ Die dreiundeinhalb Menschen, die sich damals in Deutschland mit Politik beschäftigten, übersetzten diesen Satz, wenn ich nicht irre, mit den Worten: „Der König herrscht, aber er regiert nicht.“ Ich bin jedoch gegen das Wort „herrschen“; es trägt nach meinen Gefühlen eine Färbung von Absolutismus. Und doch sollte eben dieser Satz den Unterschied beider Gewalten, der absoluten und der konstitutionellen, bezeichnen.

Worin besteht dieser Unterschied? Wer politisch reinen Herzens ist, darf auch jenseits des Rheins diese Frage aufs bestimmteste erörtern. Durch das absichtliche Umgehen derselben hat man eben auf der einen Seite dem kecksten Jakobinismus, auf der andern Seite dem feigsten Knechtsinn Vorschub geleistet.

Da die Theorie des Absolutismus, von dem verächtlichen, gelehrten Salmasius bis herunter auf den Herren Jarcke, der nicht gelehrt ist, meistens von verdächtigen Schriftstellern verteidigt worden, so hat die Verrufenheit der Anwälte über alle Maßen der Sache selber geschadet. Wer seinen ehrlichen Namen liebhat, darf kaum wagen, sie öffentlich zu verfechten, und wäre er noch so sehr von ihrer Vortrefflichkeit überzeugt. Und doch ist die Lehre von der absoluten Gewalt ebenso honett und ebenso vertretbar wie jede andere politische Meinung. Nichts ist widersinniger, als, wie jetzt so oft geschieht, den Absolutismus mit dem Despotismus zu verwechseln. Der Despot handelt nach der Willkür seiner Laune, der absolute Fürst handelt nach Einsicht und Pflichtgefühl. Das Charakteristische eines absoluten Königs ist hiebei, daß alles im Staate durch seinen Selbstwillen geschieht. Da aber nur wenige Menschen einen Selbstwillen haben, da vielmehr die meisten Menschen, ohne es zu wissen, nur das wollen, was ihre Umgebung will, so herrscht gewöhnlich diese an der Stelle der absoluten Könige. Die Umgebung eines Königs nennen wir Hof, und Höflinge sind es also, die in denjenigen absoluten Monarchien herrschen, wo die Fürsten nicht von allzu störrischer Natur und dadurch dem fremden Einflusse unzugänglich sind. Die Kunst der Höfe besteht darin, die sanften Fürsten so zu härten, daß sie eine Keule werden in der Hand des Höflings, und die wilden Fürsten so zu sänftigen, daß sie sich willig zu jedem Spiele, zu allen Posituren und Aktionen hergeben, wie die Löwen des Herrn Martin. Ach! fast auf dieselbe Weise, wie dieser den König der Tiere zu zähmen weiß, indem er nämlich des Nachts seinem Käfige naht, ihn mit dunkler Hand in menschliche Laster einweiht und nachher, am Tage, den Geschwächten ganz gehorsam findet: so wissen die Höflinge manchen König der Menschen, wenn er allzu strebsam und wild ist, durch entnervende Lüste zu zähmen, und sie beherrschen ihn durch Mätressen, Köche, Komödianten, üppige Musik, Tanz und sonstigen Sinnenrausch. Nur zu oft sind absolute Fürsten die abhängigsten Sklaven ihrer Umgebung, und könnte man die Stimme derjenigen vernehmen, die man in der öffentlichen Meinung am gehässigsten beurteilt sieht, so würde man vielleicht gerührt werden von den gerechtesten Klagen über unerhörte Verführungskünste und trübselige Verkehrung der menschlich schönsten Gefühle. Außerdem liegt in der unumschränkten Gewalt eine so schauerliche Macht der bösen Versuchung, daß nur die alleredelsten Menschen ihr widerstehen können. Wer keinem Gesetze unterworfen ist, der entbehrt der heilsamsten Schutzwehr; denn die Gesetze sollen uns nicht bloß gegen andere, sondern auch gegen uns selbst schützen. Der Glaube, daß ihre Macht ihnen von Gott verliehen sei, ist daher bei den absoluten Fürsten nicht nur verzeihlich, sondern auch notwendig. Ohne solchen Glauben wären sie die unglücklichsten der Sterblichen, die, ohne mehr als Menschen zu sein, sich der übermenschlichsten Versuchung und übermenschlichsten Verantwortlichkeit ausgesetzt hätten. Eben jener Glaube an ein göttliches Mandat gab den absoluten Königen, die wir in der Geschichte bewundern, eine Herrlichkeit, wozu das neuere Königtum sich nimmermehr erheben wird. Sie waren weltliche Vermittler, sie mußten zuweilen büßen für die Sünden ihrer Völker, sie waren zugleich Opfer und Opferpriester, sie waren heilig, sacer in der antiken Bedeutung der Todesweihe. So sehen wir Könige des Altertums, die in Pestzeiten mit ihrem eigenen Blute das Volk sühnten oder das allgemeine Unglück als eine Strafe für eigene Verschuldung betrachteten. Noch jetzt, wenn eine Sonnenfinsternis in China eintritt, erschrickt der Kaiser und denkt darüber nach, ob er etwa durch irgendeine Sünde solche allgemeine Verdüsterung verschuldet habe, und er tut Buße, damit sich für seine Untertanen der Himmel wieder lichte. Bei den Völkern, wo der Absolutismus noch in so heiliger Strenge herrscht, und das ist auch bei den nordwestlichen Nachbarn der Chinesen bis an die Elbe der Fall, würde es zu mißbilligen sein, wenn man ihnen die repräsentative Verfassungsdoktrin predigen wollte; ebenso tadelhaft ist es aber, wenn man im größten Teile des Übrigen Europas, wo der Glaube an das göttliche Recht bei Fürsten und Völkern erloschen ist, den Absolutismus doziert. Indem ich das Wesen des Absolutismus dadurch bezeichnete, daß in der absoluten Monarchie der Selbstwille des Königs regiert, bezeichne ich das Wesen der repräsentativen, der konstitutionellen Monarchie um so leichter, wenn ich sage: diese unterscheide sich von jener dadurch, daß an die Stelle des königlichen Selbstwillens die Institution getreten ist. An die Stelle eines Selbstwillens, der leicht mißleitet werden kann, sehen wir hier eine Institution, ein System von Staatsgrundsätzen, die unveränderlich sind. Der König ist hier eine Art moralischer Person im juristischen Sinne, und er gehorcht jetzt weniger den Leidenschaften seiner physischen Umgebung als vielmehr den Bedürfnissen seines Volks, er handelt nicht mehr nach den losen Wünschen des Hofes, sondern nach festen Gesetzen. Deshalb sind die Höflinge in allen Ländern dem konstitutionellen Wesen heimlich oder gar öffentlich gram. Letzteres brach ihre vieltausendjährige Macht durch die tieferdachte, ingeniöse Einrichtung, daß der König gleichsam nur die Idee der Gewalt repräsentiert, daß er zwar seine Minister wählen könne, jedoch nicht er, sondern diese regieren, daß diese aber nur so lange regieren können, als sie im Sinne der Majorität der Volksvertreter regieren, indem letztere die Regierungsmittel, z.B. die Steuern, verweigern können. Dadurch, daß der König nicht selbst regiert, kann ihn auch, bei schlechter Regierung, der Volksunmut nicht unmittelbar treffen; dieser wird in konstitutionellen Staaten nur die Folge haben, daß der König andere, und zwar populäre Minister erwählt, von denen man ein besseres Regiment erwartet, statt daß in absoluten Staaten, wo der König selbst regiert, ihn unmittelbar selbst der Unmut des Volks trifft und dieses, um sich zu helfen, genötigt ist, den Staat umzustürzen. Dadurch, daß der König nicht selbst regiert, ist das Heil des Staates unabhängig von seiner Persönlichkeit, der Staat wird da nicht mehr durch jeden Zufall, durch jede allerhöchste oder allerniedrigste Leidenschaft gefährdet und gewinnt eine Sicherung, wovon die frühern Staatsweisen gar keine Ahnung hatten: denn von Xenophon bis Fénelon erschien ihnen die Erziehung eines Fürsten als die Hauptsache; sogar der große Aristoteles muß in seiner „Politik“ darauf hinzielen, und der größere Plato weiß nichts Besseres vorzuschlagen, als die Philosophen auf den Thron zu setzen oder die Fürsten zu Philosophen zu machen. Dadurch, daß der König nicht selbst regiert, ist er auch nicht verantwortlich, ist er unverletzlich, inviolable, und nur seine Minister können wegen schlechter Regierung angeklagt, verurteilt und bestraft werden. Der Kommentator der englischen Konstitution, Blackstone, begeht einen Mißgriff, wenn er die Unverantwortlichkeit des Königs zu dessen Prärogativen zählt. Diese Ansicht schmeichelt einem Könige mehr, als sie ihm nützt. In den Ländern des politischen Protestantismus, in konstitutionellen Ländern, will man die Rechte der Fürsten vielmehr in der Vernunft begründet wissen, und diese gewährt hinlängliche Gründe für ihre Unverletzlichkeit, wenn man annimmt, daß sie nicht selbst handeln können und also deshalb nicht zurechnungsfähig, nicht verantwortlich, nicht bestrafbar sind, wie jeder, der nicht selbst handelt. Der Grundsatz „the king cannot do wrong“ mag also insofern man die Unverantwortlichkeit darauf gründet, nur dadurch seine Gültigkeit erlangen, daß man hinzusetzt: because he does nothing. Aber an der Stelle des konstitutionellen Königs handeln die Minister, und daher sind diese verantwortlich. Sie handeln selbständig, dürfen jedes königlichte Ansinnen, womit sie nicht übereinstimmen, geradezu abweisen und, im Fall dem Könige ihre Regierungsart miß. fällt, sich ganz zurückziehen. Ohne solche Freiheit des Willens wäre die Verantwortlichkeit der Minister, die sie durch die Kontrasignatur bei jedem Regierungsakte sich aufbürden, eine heillose Ungerechtigkeit, eine Grausamkeit, ein Widersinn, es wäre gleichsam die Lehre vom Sündenbocke in das Staatsrecht eingeführt. Aus demselben Grund sind die Minister eines absoluten Fürsten ganz unverantwortlich, außer gegen diesen selbst; wie dieser nur Gott, so sind jene nur ihrem unumschränkten Herrn Rechenschaft schuldig. Sie sind nur seine untergebenen Gehülfen, seine getreuen Diener, und müssen ihm unbedingt gehorchen. Ihre Kontrasignatur dient nur, die Echtheit der Ausfertigung und der fürstlichen Unterschrift zu beglaubigen. Man hat freilich nach dem Tode der Fürsten viele solcher Minister angeklagt und verurteilt; aber immer mit Unrecht. Enguerrand de Marigny verteidigte sich in einem solchen Falle mit den rührenden Worten: „Wir als Minister sind nur wie Hände und Füße, wir müssen dem Haupte, dem Könige, gehorchen; dieses ist jetzt tot, und seine Gedanken liegen mit ihm im Grabe; wir können und wir dürfen nicht sprechen.“

Nach diesen wenigen Andeutungen über den Unterschied der beiden Gewalten, der absoluten und der konstitutionellen, wird es jedem einleuchtend sein, daß der Streit über die Präsidentur, wie er in den hiesigen Verhältnissen zum Vorscheine kam, minder die Frage betreffen sollte, ob der König das Konseil präsidieren darf, als vielmehr, inwiefern er es präsidieren darf. Es kommt nicht darauf an, daß ihm die Charte die Präsidentur nicht verbietet oder ein Paragraph derselben ihm solche sogar zu erlauben scheint; sondern es kommt darauf an, ob er nur honoris causa, zu seiner eigenen Belehrung, ganz passiv, ohne aktive Teilnahme präsidiert oder ob er als Präsident seinen Selbstwillen geltend macht in der Leitung und Ausführung der Staatsgeschäfte. Im ersten Falle mag es ihm immerhin erlaubt sein, sich täglich einige Stunden lang in der Gesellschaft von Herrn Barthe, Louis, Sebastiani usw. zu ennuyieren, im andern Falle muß ihm jedoch dieses Vergnügen streng verboten bleiben. In diesem letztern Falle würde er, durch seinen Selbstwillen regierend, sich dem absoluten Königtume nähern, wenigstens würde er selbst als ein verantwortlicher Minister betrachtet werden können. Ganz richtig behaupteten einige Journale, daß es unrecht wäre, wenn ein Mann, der auf dem Todbette läge, wie Périer, oder der nicht einmal seine Gesichtsmuskeln regieren könne, wie Sebastiani für die selbstwilligen Regierungsakte des Königs verantwortlich sein müsse. Das ist jedenfalls eine schlimme Streitfrage, die eine hinlänglich grelle Bedeutung hat; denn mancher erinnert sich dabei an das terroristische Wort: La responsabilité c'est la mort. Mit einer Inoffiziosität, die ich nicht billigen darf, wird bei dieser Gelegenheit, namentlich von dem „National“, die Verantwortlichkeit des Königs behauptet und infolgedessen seine Inviolabilität geleugnet. Dieses ist immer für Ludwig Philipp eine mißbehagliche Mahnung und dürfte wohl einiges Nachsinnen in seinem Haupte hervorbringen. Seine Freunde meinten, es wäre wünschenswert, daß er gar nichts tue, wobei nur im mindesten das Prinzip von der Inviolabilität zur Diskussion kommen und dadurch in der öffentlichen Meinung erschüttert werden könnte. Aber Ludwig Philipp, wenn wir seine Lage billig ermessen, möchte doch nicht unbedingt zu tadeln sein, daß er beim Regieren ein bißchen nachzuhelfen sucht. Er weiß, seine Minister sind keine Genies; das Fleisch ist willig, aber der Geist ist schwach. Die faktische Erhaltung seiner Macht scheint ihm die Hauptsache. Das Prinzip von der Inviolabilität muß für ihn nur ein sekundäres Interesse haben. Er weiß, daß Ludwig XVI., kopflosen Andenkens, ebenfalls inviolabel gewesen. Es hat überhaupt in Frankreich mit der Inviolabilität eine eigene Bewandtnis. Das Prinzip der Inviolabilität ist durchaus unverletzlich. Es gleicht dem Edelstein in dem Ringe des Don Louis Fernando Perez Akaiba, welcher Stein die wunderbare Eigenschaft hatte: wenn ein Mann, der ihn am Finger trug, vom höchsten Kirchturme herabfiel, so blieb der Stein unverletzt.

Um jedoch dem fatalen Mißstand einigermaßen abzuhelfen, hat Ludwig Philipp eine Interimspräsidentur gestiftet und den Herrn Montalivet damit bekleidet. Dieser wurde jetzt auch Minister des Innern, und an seiner Stelle wurde Herr Girod de L'Ain Minister des Kultus. Man braucht diese beiden Leute nur anzusehen, um mit Sicherheit behaupten zu können, daß sie keiner Selbständigkeit sich erfreuen und daß sie nur als kontrasignierende Hampelmänner agieren. Der eine, Monsieur le comte de Montalivet, ist ein wohlgeformter junger Mann, fast aussehend wie ein hübscher Schuljunge, den man durch ein Vergrößerungsglas sieht. Der andere, Herr Girod de L'Ain, zur Genüge bekannt als Präsident der Deputiertenkammer, wo er jederzeit durch Verlängerung oder Abkürzung der Sitzung gen die Interessen des Königs zu fördern gewußt, ist das Devouement selbst. Er ist ein untergesetzter Mann von weichem Fleische, gehäbigem Bäuchlein, steifsamen Beinchen, einem Herzen von Papiermaché, und er sieht aus wie ein Braunschweiger, der auf den Märkten mit Pfeifenköpfen handelt, oder auch wie ein Hausfreund, der den Kindern Brezeln mit bringt und die Hunde streichelt.

Vom Marschall Soult, dem Kriegsminister, will man wissen, oder vielmehr man weiß von ihm ganz genau, daß er unterdessen beständig intrigiert, um zur Präsidentur des Konseils zu gelangen. Letztere ist überhaupt das Ziel vieler Bestrebnisse im Ministerium selbst, und die Ränke, die sich dabei durchkreuzen, vereiteln nicht selten die besten Anordnungen, und es entstehen Gegnerschaft, Zwist und Zerwürfnisse, die scheinbar in der verschiedenen Meinung, eigentlich aber in der übereinstimmenden Eitelkeit ihren Grund haben. Jeder ehrgeizt nach der Präsidentur. Präsident des Konseils ist ein bestimmter Titel, der von den übrigen Ministern etwas allzu scharf scheidet. So z.B. bei der Frage von der Verantwortlichkeit der Minister gilt hier die Ansicht, daß der Präsident für Fehler in der Tendenz des Ministeriums, jeder andere Minister aber nur für die Fehler seines Departements verantwortlich sei. — Diese Unterscheidung und überhaupt die offizielle Ernennung eines Präsidenten des Konseils ist ein hemmendes und verwirrendes Gebrechen. Wir finden dieses nicht bei den Engländern, deren konstitutionelle Formen doch immer als Muster dienen; die Präsidentur, wenn ich nicht irre, existiert bei ihnen keineswegs als offizieller Titel. „Der erste Lord des Schatzes“ ist zwar gewöhnlich Präsident, aber nicht als solcher. Der natürliche, wenn auch durch kein Gesetz bestimmte Präsident ist immer derjenige Minister, dem der König den Auftrag gegeben, ein Ministerium zu bilden, d.h. unter seinen Freunden und Bekannten diejenigen als Minister zu wählen, die mit ihm in politischer Meinung übereinstimmen und zugleich die Majorität im Parlamente haben würden. — Solchen Auftrag hat jetzt der Herzog von Wellington erhalten; Lord Grey und seine Whigs unterliegen — für den Augenblick.






© Wolfgang Fricke