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Paris, Juli 1843
Nachdem der Gesetzvorschlag über die Gefängnisreform während vier Wochen in der Deputiertenkammer debattiert worden, ist derselbe endlich mit sehr unwesentlichen Abänderungen und durch eine bedeutende Majorität angenommen worden. Damit wir es gleich von vornherein sagen, nur der Minister des Innern, der eigentliche Schöpfer jenes Gesetzvorschlags, war der einzige, der mit festen Füßen auf der Höhe der Frage stand, der bestimmt wußte, was er wollte, und einen Triumph der Überlegenheit feierte. Dem Rapporteur, Herrn von Tocqueville, gebührt das Lob, daß er mit Festigkeit seine Gedanken durchfocht; er ist ein Mann von Kopf, der wenig Herz hat und bis zum Gefrierpunkt die Argumente seiner Logik verfolgt; auch haben seine Reden einen gewissen frostigen Glanz, wie geschnittenes Eis. Was Herrn Tocqueville jedoch an Gemüt fehlt, das hat sein Freund, M. de Beaumont, in liebreichster Fülle, und diese beiden Unzertrennlichen, die wir immer gepaart sehen, auf ihren Reisen, in ihren Publikationen, in der Deputiertenkammer, ergänzen sich aufs beste. Der eine, der scharfe Denker, und der andere, der milde Gemütsmensch, gehören beisammen, wie das Essigfläschchen und das Ölfläschchen. – Aber die Opposition, wie vage, wie gehaltlos, wie schwach, wie ohnmächtig zeigte sie sich bei dieser Gelegenheit! Sie wußte nicht, was sie wollte, sie mußte das Bedürfnis der Reform eingestehen, konnte nichts Positives vorschlagen, war beständig im Widerspruch mit sich selber und opponierte hier, wie gewöhnlich, aus blöder Gewohnheit des Oppositionsmetiers. Und dennoch würde sie, um letzterm zu genügen, leichtes Spiel gehabt haben, wenn sie sich auf das hohe Pferd der Idee gesetzt hätte, auf irgendeine generöse Rosinante der Theorienwelt, statt auf ebener Erde den zufälligen Lücken und Schwächen des ministeriellen Systems nachzukriechen und im Detail zu schikanieren, ohne das Ganze erschüttern zu können. Nicht einmal unser unvergleichlicher Don Alphonso de la Martine, der ingeniose Junker, zeigte sich hier in seiner idealen Ritterlichkeit. Und doch war die Gelegenheit günstig, und er hätte hier die höchsten und wichtigsten Menschheitsfragen besprechen können, mit olymperschütternden Worten; er konnte hier feuerspeiende Berge reden und mit einem Ozean von Weltuntergangspoesie die Kammer überschwemmen. Aber nein, der edle Hidalgo war hier ganz entblößt von seinem schönen Wahnsinn und sprach so vernünftig wie die nüchternsten seiner Kollegen.
Ja, nur auf dem Felde der Idee hätte die Opposition, wo nicht sich behaupten, doch wenigstens glänzen können. Bei solcher Gelegenheit hätte eine deutsche Opposition ihre gelehrtesten Lorbeeren erfochten. Denn die Gefängnisfrage ist ja enthalten in jener allgemeinen Frage über die Bedeutung der Strafe überhaupt, und hier treten uns die großen Theorien entgegen, die wir heute nur in flüchtigster Kürze erwähnen wollen, um für die Würdigung des neuen Gefängnisgesetzes einen deutschen Standpunkt zu gewinnen.
Wir sehen hier zunächst die sogenannte Vergeltungstheorie, das alte harte Gesetz der Urzeit, jenes jus talionis, das wir noch bei dem alttestamentalischen Moses in schauerlichster Naivetät vorfinden: Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Mit dem Martyrtode des großen Versöhners fand auch diese Idee der Sühne ihren Abschluß, und wir können behaupten, der milde Christus habe dem antiken Gesetze auch hier persönlich Genüge getan und dasselbe auch für die übrige Menschheit aufgehoben. Sonderbar! während hier die Religion im Fortschritt erscheint, ist es die Philosophie, welche stationär geblieben, und die Strafrechtstheorie unserer Philosophen von Kant bis auf Hegel ist trotz aller Verschiedenheit des Ausdrucks noch immer das alte jus talionis. Selbst unser Hegel wußte nichts Besseres anzugeben, und er vermochte nur die rohe Anschauungsweise einigermaßen zu spiritualisieren, ja bis zur Poesie zu erheben. Bei ihm ist die Strafe das Recht des Verbrechers; nämlich indem dieser das Verbrechen begeht, gewinnt er ein unveräußerliches Recht auf die adäquate Bestrafung; letztere ist gleichsam das objektive Verbrechen. Das Prinzip der Sühne ist hier bei Hegel ganz dasselbe wie bei Moses, nur daß dieser den antiken Begriff der Fatalität in der Brust trug, Hegel aber immer von dem modernen Begriff der Freiheit bewegt wird: sein Verbrecher ist ein freier Mensch, das Verbrechen selbst ist ein Akt der Freiheit, und es muß ihm dafür sein Recht geschehen. Hierüber nur ein Wort. Wir sind dem altsazerdotalen Standpunkt entwachsen, und es widerstrebt uns, zu glauben, daß, wenn der einzelne eine Untat begangen, die Gesellschaft in corpore gezwungen sei, dieselbe Untat zu begehen, sie feierlich zu wiederholen. Für den modernen Standpunkt, wie wir ihn bei Hegel finden, ist jedoch unser sozialer Zustand noch zu niedrig; denn Hegel setzt immer eine absolute Freiheit voraus, von der wir noch sehr entfernt sind und vielleicht noch eine gute Weile entfernt bleiben werden.
Unsere zweite große Straftheorie ist die der Abschreckung. Diese ist weder religiös noch philosophisch, sie ist rein absurd. Hier wird einem Menschen, der ein Verbrechen beging, Pein angetan, damit ein Dritter dadurch abgeschreckt werde, ein ähnliches Verbrechen zu begehen. Es ist das höchste Unrecht, daß jemand leiden soll zum Heile eines andern, und diese Theorie mahnte mich immer an die armen souffre-douleurs, die ehemals mit den kleinen Prinzen erzogen wurden und jedesmal durchgepeitscht wurden, wenn ihr erlauchter Kamerad irgendeinen Fehler begangen. Diese nüchterne und frivole Abschreckungstheorie borgt von der sazerdotalen Theorie gleichsam ihre pompes funèbres, auch sie errichtet auf öffentlichem Markt ein castrum doloris, um die Zuschauer anzulocken und zu verblüffen. Der Staat ist hier ein Scharlatan, nur mit dem Unterschied, daß der gewöhnliche Scharlatan dir versichert, er reiße die Zähne aus, ohne Schmerzen zu verursachen, während jener im Gegenteil durch seine schauerlichen Apparate mit weit größern Schmerzen droht, als vielleicht der arme Patient wirklich zu ertragen hat. Diese blutige Scharlatanerie hat mich immer angewidert.
Soll ich hier die sogenannte Theorie vom physischen Zwang, die zu meiner Zeit in Göttingen und in der umliegenden Gegend zum Vorschein gekommen, als eine besondere Theorie erwähnen? Nein, sie ist nichts als der alte Abschreckungssauerteig, neu umgeknetet. Ich habe mal einen ganzen Winter hindurch den Lykurg Hannovers, den traurigen Hofrat Bauer, darüber schwätzen gehört, in seiner seichtesten Prosa. Diese Tortur erduldete ich ebenfalls aus physischem Zwang, denn der Schwätzer war Examinator meiner Fakultät, und ich wollte damals Doctor juris werden.
Die dritte große Straftheorie ist die, wobei die moralische Verbesserung des Verbrechers in Betracht kommt. Die wahre Heimat dieser Theorie ist China, wo alle Autorität von der väterlichen Gewalt abgeleitet wird. Jeder Verbrecher ist dort ein ungezogenes Kind, das der Vater zu bessern sucht, und zwar durch den Bambus. Diese patriarchalische, gemütliche Ansicht hat in neuerer Zeit ganz besonders in Preußen ihre Verehrer gefunden, die sie auch in die Gesetzgebung einzuführen suchten. Bei solcher chinesischen Bambustheorie drängt sich uns zunächst das Bedenken auf, daß alle Verbesserung nichts helfen dürfte, wenn nicht vorher die Verbesserer gebessert würden. In China scheint das Staatsoberhaupt dergleichen Einrede dunkel zu fühlen, und wenn im Reiche der Mitte irgendein ungeheures Verbrechen begangen wird, legt sich der Kaiser, der Himmelssohn, selber eine harte Buße auf, wähnend, daß er selber durch irgendeine Sünde ein solches Landesunglück verschuldet haben müsse. Wir würden es mit großem Vergnügen sehen, wenn unser heimischer Pietismus auf solche fromme Irrtümer geriete und sich zum Heil des Staats weidlich kasteien wollte. In China gehört es zur Konsequenz der patriarchalischen Ansicht, daß es neben den Bestrafungen auch gesetzliche Belohnungen gibt, daß man für gute Handlungen irgendeinen Ehrenknopf mit oder ohne Schleife bekömmt, wie man für schlechte Handlungen die gehörige Tracht Schläge empfängt, so daß, um mich philosophisch auszudrücken, der Bambus die Belohnung des Lasters und der Orden die Strafe der Tugend ist. Die Partisane der körperlichen Züchtigung haben jüngst in den Rheinprovinzen einen Widerstand gefunden, der aus einer Empfindungsweise her, vorgegangen, die nicht sehr original ist und leider als ein Überbleibsel der französischen Fremdherrschaft betrachtet werden dürfte.
Wir haben noch eine vierte große Straftheorie, die wir kaum noch eine solche nennen können, da der Begriff »Strafe« hier ganz verschwindet. Man nennt sie die Präventionstheorie, weil hier die Verhütung der Verbrechen das leitende Prinzip ist. Die eifrigsten Vertreter dieser Ansicht sind zunächst die Radikalen aller sozialistischen Schulen. Als der Entschiedenste muß hier der Engländer Owen genannt werden, der kein Recht der Bestrafung anerkennt, solange die Ursache der Verbrechen, die sozialen Übel, nicht fortgeräumt worden. So denken auch die Kommunisten, die materialistischen ebensowohl wie die spiritualistischen, welche letztern ihre Abneigung gegen das herkömmliche Kriminalrecht, das sie das alttestamentalische Rachegesetz nennen, durch evangelische Texte beschönigen. Die Fourieristen dürfen ebenfalls konsequenterweise kein Strafrecht anerkennen, da nach ihrer Lehre die Verbrechen nur durch ausgeartete Leidenschaften entstehen und ihr Staat sich eben die Aufgabe gestellt hat, durch eine neue Organisation der menschlichen Leidenschaften ihre Ausartung zu verhüten. Die Saint-Simonisten hatten freilich weit höhere Begriffe von der Unendlichkeit des menschlichen Gemütes, als daß sie sich auf einen geregelten und numerierten Schematismus der Leidenschaften, wie wir ihn bei Fourier finden, eingelassen hätten. Jedoch auch sie hielten das Verbrechen nicht bloß für ein Resultat gesellschaftlicher Mißstände, sondern auch einer fehlerhaften Erziehung, und von den besser geleiteten, wohlerzogenen Leidenschaften erwarteten sie eine vollständige Regeneration, das Weltreich der Liebe, wo alle Traditionen der Sünde in Vergessenheit geraten und die Idee eines Strafrechts als eine Blasphemie erscheinen würde.
Minder schwärmerische und sogar sehr praktische Naturen haben sich ebenfalls für die Präventionstheorie entschieden, insofern sie von der Volkserziehung die Abnahme der Verbrechen erwarteten. Sie haben noch ganz besondere staatsökonomische Vorschläge gemacht, die dahin zielen, den Verbrecher vor seinen eigenen bösen Anfechtungen zu schützen, in derselben Weise, wie die Gesellschaft vor der Untat selbst hinreichend bewahrt wird. Hier stehen wir auf dem positiven Boden der Präventionslehre. Der Staat wird hier gleichsam eine große Polizeianstalt, im edelsten und würdigsten Sinne, wo dem bösen Gelüste jeder Antrieb entzogen wird, wo man nicht durch Ausstellungen von Leckerbissen und Putzwaren einen armen Schlucker zum Diebstahl und die arme Gefallsucht zur Prostitution reizt, wo keine diebischen Emporkömmlinge, keine Robert Macaires der hohen Finanz, keine Menschenfleischhändler, keine glücklichen Halunken ihren unverschämten Luxus öffentlich zur Schau geben dürfen, kurz, wo das demoralisierende böse Beispiel unterdrückt wird. Kommen trotz aller Vorkehrungsmaßregeln dennoch Verbrechen zum Vorschein, so sucht man die Verbrecher unschädlich zu machen, und sie werden entweder eingesperrt oder, wenn sie der Ruhe der Gesellschaft gar zu gefährlich sind, ein bißchen hingerichtet. Die Regierung, als Mandatarin der Gesellschaft, verhängt hier keine Pein als Strafe, sondern als Notwehr, und der höhere oder geringere Grad dieser Pein wird nur von dem Grade des Bedürfnisses der sozialen Selbstverteidigung bestimmt. Nur von diesem Gesichtspunkte aus sind wir für die Todesstrafe oder vielmehr für die Tötung großer Bösewichter, welche die Polizei aus dem Wege schaffen muß, wie sie tolle Hunde totschlägt.
Wenn man aufmerksam das exposé des motifs liest, womit der französische Minister des Innern seinen Gesetzentwurf in betreff der Gefängnisreform einleitete, so ist es augenscheinlich, wie hier die zuletzt bezeichnete Ansicht den Grundgedanken bildet und wie das sogenannte Repressivprinzip der Franzosen im Grunde nur die Praxis unserer Präventivtheorie ist.
Im Prinzip sind also unsere Ansichten ganz übereinstimmend mit denen der französischen Regierung. Aber unsere Gefühle sträuben sich gegen die Mittel, wodurch die gute Absicht erreicht werden soll. Auch halten wir sie für Frankreich ganz ungeeignet. In diesem Lande der Soziabilität wäre die Absperrung in Zellen, die pennsylvanische Methode, eine unerhörte Grausamkeit, und das französische Volk ist zu großmütig, als daß es je um solchen Preis seine gesellschaftliche Ruhe erkaufen möchte. Ich bin daher überzeugt, selbst nachdem die Kammern eingewilligt, kommt das entsetzliche, unmenschliche, ja unnatürliche Zellulargefängniswesen nicht in Ausführung, und die vielen Millionen, welche die nötigen Bauten kosten, sind gottlob verlorenes Geld. Diese Burgverliese des neuen Bürgerrittertums wird das Volk ebenso unwillig niederreißen, wie es einst die adelige Bastille zerstörte. So furchtbar und düster dieselbe von außen gewesen sein mochte, so war sie doch gewiß nur ein heiteres Kiosk, ein sonniges Gartenhaus, im Vergleich mit jenen kleinen, schweigenden amerikanischen Höllen, die nur ein blödsinniger Pietist ersinnen und nur ein herzloser Krämer, der für sein Eigentum zittert, billigen konnte. Der gute fromme Bürger soll hinfüro ruhiger schlafen können – das will die Regierung mit löblichem Eifer bewirken. Aber warum sollen sie nicht etwas weniger schlafen? – Bessere Leute müssen jetzt wachend die Nächte verbringen. Und dann, haben sie nicht den lieben Gott, um sie zu schützen, sie, die Frommen? – Oder zweifeln sie an diesem Schutz, sie, die Frommen?