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Heinrich Heine
Lutetia






Zueignungsbrief
an Seine Durchlaucht, den Fürsten
Pückler-Muskau


Die Reisenden, welche irgendeinen durch Kunst oder historische Erinnerung denkwürdigen Ort besuchen, pflegen hier an Mauern und Wänden ihre respektiven Namen zu inskribieren, mehr oder minder leserlich, je nachdem das Schreibmaterial war, das ihnen zu Gebote stand. Sentimentale Seelen sudeln hinzu auch einige pathetische Zeilen gereimter oder ungereimter Gefühle. In diesem Wust von Inschriften wird unsre Aufmerksamkeit plötzlich in Anspruch genommen von zwei Namen, die nebeneinander eingegraben sind; Jahrzahl und Monatstag steht darunter, und um Namen und Datum schlängelt sich ein ovaler Kreis, der einen Kranz von Eichen- oder Lorbeerblättern vorstellen soll. Sind den spätern Besuchern des Ortes die Personen bekannt, denen jene zwei Namen angehören, so rufen sie ein heiteres: »Sieh da!«, und sie machen dabei die tiefsinnige Bemerkung, daß jene beiden also einander nicht fremd gewesen, daß sie wenigstens einmal auf derselben Stelle einander nahegestanden, daß sie sich im Raum wie in der Zeit zusammengefunden, sie, die so gut zusammenpaßten. – Und nun werden über beide Glossen gemacht, die wir leicht erraten, aber hier nicht mitteilen wollen.

Indem ich, mein hochgefeierter und wahlverwandter Zeitgenosse, durch die Widmung dieses Buches gleichsam auf die Fassade desselben unsre beiden Namen inskribiere, folge ich nur einer heiter gaukelnden Laune des Gemütes, und wenn meinem Sinne irgendein bestimmter Beweggrund vorschwebt, so ist es allenfalls der oberwähnte Brauch der Reisenden. – Ja, Reisende waren wir beide auf diesem Erdball, das war unsre irdische Spezialität, und diejenigen, welche nach uns kommen und in diesem Buche den Kranz sehen, womit ich unsre beiden Namen umschlungen, gewinnen wenigstens ein authentisches Datum unsres zeitlichen Zusammentreffens, und sie mögen nach Belieben darüber glossieren, inwieweit der Verfasser der »Briefe eines Verstorbenen« und der Berichterstatter der »Lutetia« zusammenpaßten. –

Der Meister, dem ich dieses Buch zueigne, versteht das Handwerk und kennt die ungünstigen Umstände, unter welchen der Autor schrieb. Er kennt das Bett, in welchem meine Geisteskinder das Licht erblickten, das Augsburgische Prokrustesbett, wo man ihnen manchmal die allzu langen Beine und nicht selten sogar den Kopf abschnitt. Um unbildlich zu sprechen, das vorliegende Buch besteht zum größten Teil aus Tagesberichten, welche ich vor geraumer Zeit in der Augsburgischen »Allgemeinen Zeitung« drucken ließ. Von vielen hatte ich Brouillons zurückbehalten, wonach ich jetzt, bei dem neuen Abdruck, die unterdrückten oder veränderten Stellen restaurierte. Leider erlaubt mir nicht der Zustand meiner Augen, mich mit vielen solcher Restaurationen zu befassen; ich konnte mich aus dem verwitterten Papierwust nicht mehr herausfinden. Hier nun sowie auch bei Berichten, die ich ohne vorläufigen Entwurf abgeschickt hatte, ersetzte ich die Lakunen und verbesserte ich die Alterationen soviel als möglich aus dem Gedächtnisse, und bei Stellen, wo mir der Stil fremdartig und der Sinn noch fremdartiger vorkam, suchte ich wenigstens die artistische Ehre, die schöne Form, zu retten, indem ich jene verdächtigen Stellen gänzlich vertilgte. Aber dieses Ausmerzen an Orten, wo der wahnwitzige Rotstift allzusehr gerast zu haben schien, traf nur Unwesentliches, keineswegs die Urteile über Dinge und Menschen, die oft irrig sein mochten, aber immer treu wiedergegeben werden mußten, damit die ursprüngliche Zeitfarbe nicht verlorenging. Indem ich eine gute Anzahl von ungedruckt gebliebenen Berichten, die keine Zensur passiert hatten, ohne die geringste Veränderung hinzufügte, lieferte ich durch eine künstlerische Zusammenstellung aller dieser Monographien ein Ganzes, welches das getreue Gemälde einer Periode bildet, die Ebenso wichtig wie interessant war.

Ich spreche von jener Periode, welche man zur Zeit der Regierung Ludwig Philipps die »parlamentarische« nannte, ein Name, der sehr bezeichnend war und dessen Bedeutsamkeit mir gleich im Beginn auffiel. Wie im ersten Teil dieses Buches zu lesen, schrieb ich am 9. April 1840 folgende Worte: »Es ist sehr charakteristisch, daß seit einiger Zeit die französische Staatsregierung nicht mehr ein konstitutionelles, sondern ein parlamentarisches Gouvernement genannt wird. Das Ministerium vom 1. März erhielt gleich in der Taufe diesen Namen.« – Das Parlament, nämlich die Kammer, hatte damals schon die bedeutendsten Prärogative der Krone an sich gerissen, und die ganze Staatsmacht fiel allmählich in seine Hände. Seinerseits war der König, es ist nicht zu leugnen, ebenfalls von usurpatorischen Begierden gestachelt, er wollte selbst regieren, unabhängig von Kammer- und Ministerlaune, und in diesem Streben nach unbeschränkter Souveränetät suchte er immer die legale Form zu bewahren. Ludwig Philipp kann daher mit Fug behaupten, daß er nie die Legalität verletzt, und vor den Assisen der Geschichte wird man ihn gewiß von jedem Vorwurf, eine ungesetzliche Handlung begangen zu haben, ganz freisprechen und ihn allenfalls nur der allzu großen Schlauheit schuldig erklären können. Die Kammer, welche ihre Eingriffe in die königlichen Vorrechte wenigstens klug durch legale Form bemäntelte, träfe gewiß ein weit herberes Verdikt wenn nicht etwa als Milderungsgrund angeführt werden dürfte, daß sie provoziert worden sei durch die absoluten Gewaltsgelüste des Königs; sie kann sagen, sie habe denselben befehdet, um ihn zu entwaffnen und selber die Diktatur zu übernehmen, die in seinen Händen staats- und freiheitsverderblich werden konnte. Der Zweikampf zwischen dem König und der Kammer bildet den Inhalt der parlamentarischen Periode, und beide Parteien hatten sich zu Ende derselben so sehr abgemüdet und geschwächt, daß sie kraftlos zu Boden sanken, als ein neuer Prätendent auf dem Schauplatz erschien. Am 24. Februar 1848 fielen sie fast gleichzeitig zu Boden, das Königtum in den Tuilerien und einige Stunden später das Parlament in dem nachbarlichen Palais Bourbon. Die Sieger, das glorreiche Lumpengesindel jener Februartage, brauchten wahrhaftig keinen Aufwand von Heldenmut zu machen, und sie können sich kaum rühmen, ihrer Feinde ansichtig geworden zu sein. Sie haben das alte Regiment nicht getötet, sondern sie haben nur seinem Scheinleben ein Ende gemacht: König und Kammer starben, weil sie längst tot waren. Diese beiden Kämpen der parlamentarischen Periode mahnen mich an ein Bildwerk, das ich einst zu Münster in dem großen Saale des Rathauses sah, wo der Westfälische Frieden geschlossen worden. Dort stehen nämlich längs den Wänden, wie Chorstühle, eine Reihe hölzerner Sitze, auf deren Lehne allerlei humoristische Skulpturen zu schauen sind. Auf einem dieser Holzstühle sind zwei Figuren dargestellt, welche in einem Zweikampf begriffen; sie sind ritterlich geharnischt und haben eben ihre ungeheuer großen Schwerter erhoben, um aufeinander einzuhauen – doch sonderbar! jedem von ihnen fehlt die Hauptsache, nämlich der Kopf, und es scheint, daß sie sich in der Hitze des Kampfes einander die Köpfe abgeschlagen haben und jetzt, ohne ihre beiderseitige Kopflosigkeit zu bemerken, weiterfechten. –

Die Blütezeit der parlamentarischen Periode waren das Ministerium vom 1. März 1840 und die ersten Jahre des Ministeriums vom 29. November 1840. Ersteres mag für den Deutschen noch ein besonderes Interesse bewahren, weil damals Thiers unser Vaterland in die große Bewegung hineintrommelte, welche das politische Leben Deutschlands weckte Thiers brachte uns wieder als Volk auf die Beine, und dieses Verdienst wird ihm die deutsche Geschichte hoch anrechnen. Auch der Erisapfel der orientalischen Frage kommt unter jenem Ministerium bereits zum Vorschein, und wir sehen im grellsten Lichte den Egoismus jener britischen Oligarchie, die uns damals gegen die Franzosen verhetzte. Daß das aufrichtige und großmütige, bis zur Fanfaronade großmütige Frankreich unser natürlicher und wahrhaft sicherster Alliierter ist, war die Überzeugung meines ganzen Lebens, und das patriotische Bedürfnis, meine verblendeten Landsleute über den treulosen Blödsinn der Franzosenfresser und Rheinliedbarden aufzuklären, hat vielleicht meinen Berichten über das Ministerium Thiers manchmal, namentlich in bezug auf die Engländer, ein allzu leidenschaftliches Kolorit erteilt; aber die Zeit war eine höchst gefährliche, und Schweigen war ein halber Verrat.

Bis zur Katastrophe vom 24. Februar gehen nicht meine Pariser Berichte, aber man sieht schon auf jeder Seite ihre Notwendigkeit, und sie wird beständig vorausgesagt mit jenem prophetischen Schmerz, den wir in dem alten Heldenliede finden, wo Trojas Brand nicht den Schluß bildet, aber in jedem Verse geheimnisvoll knistert. Ich habe nicht das Gewitter, sondern die Wetterwolken beschrieben, die es in ihrem Schoße trugen und schauerlich düster heranzogen. Ich berichtete oft und bestimmt über die Dämonen, welche in den untern Schichten der Gesellschaft lauerten und aus ihrer Dunkelheit hervorbrechen würden, wenn der rechte Tag gekommen. Diese Ungetüme, denen die Zukunft gehört, betrachtete man damals nur durch ein Verkleinerungsglas, und da sahen sie wirklich aus wie wahnsinnige Flöhe – aber ich zeigte sie in ihrer wahren Lebensgröße, und da glichen sie vielmehr den furchtbarsten Krokodilen, welche jemals aus dem Schlamm gestiegen. –

Um die betrübsamen Berichterstattungen zu erheitern, verwob ich sie mit Schilderungen aus dem Gebiete der Kunst und der Wissenschaft, aus den Tanzsälen der guten und der schlechten Sozietät, und wenn ich unter solchen Arabesken manche allzu närrische Virtuosenfratze gezeichnet, so geschah es nicht, um irgendeinem längst verschollenen Biedermann des Pianoforte oder der Maultrommel ein Herzeleid zuzufügen, sondern um das Bild der Zeit selbst in seinen kleinsten Nuancen zu liefern. Ein ehrliches Daguerreotyp muß eine Fliege ebensogut wie das stolzeste Pferd treu wiedergeben, und meine Berichte sind ein daguerreotypisches Geschichtsbuch, worin jeder Tag sich selber abkonterfeite, und durch die Zusammenstellung solcher Bilder hat der ordnende Geist des Künstlers ein Werk geliefert, worin das Dargestellte seine Treue authentisch durch sich selbst dokumentiert. Mein Buch ist daher zugleich ein Produkt der Natur und der Kunst, und während es jetzt vielleicht den populären Bedürfnissen der Leserwelt genügt, kann es auf jeden Fall dem späteren Historiographen als eine Geschichtsquelle dienen, die, wie gesagt, die Bürgschaft ihrer Tageswahrheit in sich trägt. Man hat in solcher Beziehung bereits meinen »Französischen Zuständen«, welche denselben Charakter tragen, die größte Anerkennung gezollt, und die französische Übersetzung wurde von historienschreibenden Franzosen vielfach benutzt. Ich erwähne dieses alles, damit ich für mein Werk ein solides Verdienst vindiziere und der Leser um so nachsichtiger sein möge, wenn er darin wieder jenen frivolen Esprit bemerkt, den unsre kerndeutschen, ich möchte sagen eicheldeutschen Landsleute auch dem Verfasser der »Briefe eines Verstorbenen« vorgeworfen haben. Indem ich demselben mein Buch zueigne, kann ich wohl, in bezug auf den darin enthaltenen Esprit, heute von mir sagen, daß ich Eulen nach Athen bringe.

Aber wo befindet sich in diesem Augenblick der vielverehrte und vielteure Verstorbene? Wohin adressiere ich mein Buch? Wo ist er? Wo weilt er, oder vielmehr, wo galoppiert er, wo trottiert er? er, der romantische Anacharsis, der fashionabelste aller Sonderlinge, Diogenes zu Pferde, dem ein eleganter Groom die Laterne vorträgt, womit er einen Menschen sucht. – Sucht er ihn in Sandomir oder in Sandomich, wo ihm der große Wind, der durch das Brandenburger Tor weht, die Laterne ausbläst? Oder trabt er jetzt auf dem höckerichten Rücken eines Kamels durch die arabische Sandwüste, wo der langbeinichte Hut-Hut, den die deutschen Dragomanen den Legationssekretär von Wiedehopf nennen, an ihm vorüberläuft, um seiner Gebieterin, der Königin von Saba, die Ankunft des hohen Gastes zu verkünden – denn die alte fabelhafte Person erwartet den weltberühmten Touristen auf einer schönen Oase in Äthiopien, wo sie mit ihm unter wehenden Fächerpalmen und plätschernden Springbrunnen frühstücken und kokettieren will, wie einst auch die verstorbene Lady Esther Stanhope getan, die ebenfalls viele kluge Rätselsprüche wußte – Apropos: aus den Memoiren, welche ein Engländer nach dem Tode dieser berühmten Sultanin der Wüste herausgegeben, habe ich nicht ohne Verwunderung gelesen, daß die hohe Dame, als Ew. Durchlaucht sie auf dem Libanon besuchten, auch von mir sprach und der Meinung gewesen, ich sei der Stifter einer neuen Religion. Du lieber Himmel! da sehe ich, wie schlecht man in Asien über mich unterrichtet ist! –

Ja, wo ist jetzt der wandersüchtige Überall und Nirgends? Korrespondenten einer mongolischen Zeitung behaupten, er sei auf dem Wege nach China, um die Chinesen zu sehen, ehe es zu spät ist und dieses Volk von Porzellan in den plumpen Händen der rothaarichten Barbaren ganz zerbricht – ach! seinem armen wackelköpfigen Porzellan-Kaiser ist schon vor Gram das Herz gebrochen! – Der »Calcutta Advertiser« scheint der obenerwähnten mongolischen Zeitungsnachricht keinen Glauben zu schenken und behauptet vielmehr, daß Engländer, welche jüngst den Himalaja bestiegen, den Fürsten Piukler-Miuskau auf den Flügeln eines Greifen durch die Lüfte fliegen sahen. Jenes Journal bemerkt, daß der erlauchte Reisende sich wahrscheinlich nach dem Berge Kaf begab, um dem Vogel Simurgh, der dort haust, seinen Besuch abzustatten und mit ihm über antediluvianische Politik zu plaudern. – Aber der alte Simurgh, der Dekan der Diplomaten, der Exwesir so vieler präadamitischen Sultane, die alle weiße Röcke und rote Hosen getragen, residiert er nicht während den Sommermonaten auf seinem Schloß Johannisberg am Rhein? Ich habe den Wein, der dort wächst, immer für den besten gehalten, und für einen gar klugen Vogel hielt ich immer den Herrn des Johannisbergs; aber mein Respekt hat sich noch vermehrt, seitdem ich weiß, in welchem hohen Grade er meine Gedichte liebt und daß er einst Ew. Durchlaucht erzählte, wie er bei der Lektüre derselben zuweilen Tränen vergossen habe. Ich wollte, er läse auch einmal zur Abwechslung die Gedichte meiner Parnaßgenossen, der heutigen Gesinnungspoeten; er wird freilich bei dieser Lektüre nicht weinen, aber desto herzlicher lachen. –

Jedoch noch immer weiß ich nicht ganz bestimmt den Aufenthaltsort des Verstorbenen, des lebendigsten aller Verstorbenen, der soviel Titularlebendige überlebt hat. – Wo ist er jetzt? Im Abendland oder im Morgenland? In China oder in England? In Hosen von Nanking oder von Manchester? In Vorderasien oder in Hinterpommern? Muß ich mein Buch nach Kyritz adressieren oder nach Tombuktu, poste restante? – Gleichviel, wo er auch sei, überall verfolgen ihn die heiter treuherzigsten und wehmütig tollsten Grüße seines ergebenen

Heinrich Heine.

Paris, den 23. August 1854






© Wolfgang Fricke