» Startseite » Texte von Heine » Lutetia - Artikel III

Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






III

Paris, den 9. April 1840


Nachdem die Leidenschaften sich etwas abgekühlt und denkende Besonnenheit sich allmählich geltend macht, gesteht jeder, daß die Ruhe Frankreichs aufs gefährlichste bedroht war wenn es den sogenannten Konservativen gelang, das jetzige Ministerium zu stürzen. Die Glieder desselben sind gewiß in diesem Augenblick die geeignetsten Lenker des Staatswagens. Der König und Thiers, der eine im Innern des Wagens, der andere auf dem Bocke, sie müssen jetzt einig bleiben, denn trotz der verschiedenen Situation sind sie denselben Gefahren des Umsturzes ausgesetzt. Der König und Thiers hegen durchaus keinen geheimen Hader, wie man allgemein glaubt. Persönlich hatten sich beide schon vor geraumer Zeit ausgesöhnt. Die Differenz bleibt nur eine politische. Bei aller jetzigen Einigkeit, bei dem besten Willen des Königs für die Erhaltung des Ministeriums, kann doch in seinem Geiste jene politische Differenz nie ganz schwinden; denn der König ist ja der Repräsentant der Krone, deren Interessen und Rechte in beständigem Konflikt mit den usurpierten Gelüsten der Kammer. In der Tat, wir müssen der Wahrheit gemäß das ganze Streben der Kammer mit dem Ausdruck Usurpationslust bezeichnen; sie war auch immer der angreifende Teil, sie suchte bei jeder Veranlassung die Rechte der Krone zu schmälern, die Interessen derselben zu untergraben, und der König übte nur eine natürliche Notwehr. Zum Beispiel die Charte verlieh dem König das Recht, seine Minister zu wählen, und jetzt ist dieses Prärogativ nur ein leerer Schein, eine ironische, das Königtum verhöhnende Formel, denn in der Wirklichkeit ist es die Kammer, welche die Minister wählt und verabschiedet. Auch ist es sehr charakteristisch, daß seit einiger Zeit die französische Staatsregierung nicht mehr ein konstitutionelles, sondern ein parlamentarisches Gouvernement genannt wird. Das Ministerium vom 1. März erhielt gleich in der Taufe diesen Namen, und durch die Tat wie durch das Wort ward eine Rechtsberaubung der Krone zugunsten der Kammer öffentlich proklamiert und sanktioniert.

Thiers ist der Repräsentant der Kammer, er ist ihr gewählter Minister, und in dieser Beziehung kann er dem König nie ganz behagen. Die allerhöchste Mißhuld trifft also, wie gesagt, nicht die Person des Ministers, sondern das Prinzip, das sich durch seine Wahl geltend gemacht hat. – Wir glauben, daß die Kammer den Sieg jenes Prinzips nicht weiter verfolgen wird; denn es ist im Grunde dasselbe Elektionsprinzip, als dessen letzte Konsequenz die Republik sich darbietet. Wohin sie führen, diese gewonnenen Kammerschlachten, merken die dynastischen Oppositionshelden jetzt ebensogut wie jene Konservativen, die aus persönlicher Leidenschaft, bei Gelegenheit der Dotationsfrage, sich die lächerlichsten Mißgriffe zuschulden kommen ließen.

Das Verwerfen der Dotation, und gar der schweigende Hohn, womit man sie verwarf, war nicht bloß eine Beleidigung des Königtums, sondern auch eine ungerechte Torheit; – denn indem man der Krone alle wirkliche Macht allmählich abkämpfte, mußte man sie wenigstens entschädigen durch äußern Glanz und ihr moralisches Ansehen in den Augen des Volks vielmehr erhöhen als herabwürdigen. Welche Inkonsequenz! Ihr wollt einen Monarchen haben und knickert bei den Kosten für Hermelin und Goldprunk! Ihr schreckt zurück vor der Republik und insultiert euren König öffentlich, wie ihr getan bei der Abstimmung der Dotationsfrage! Und sie wollen wahrlich keine Republik, diese edlen Geldritter, diese Barone der Industrie, diese Auserwählten des Eigentums, diese Enthusiasten des ruhigen Besitzes, welche die Majorität in der französischen Kammer bilden. Sie hegen vor der Republik ein noch weit entsetzlicheres Grauen als der König selbst, sie zittern davor noch weit mehr als Ludwig Philipp, welcher sich in seiner Jugend schon daran gewöhnt hat.

Wird sich das Ministerium Thiers lange halten? Das ist jetzt die Frage. Dieser Mann spielt eine schauerliche Rolle. Er verfügt nicht bloß über alle Streitkräfte des mächtigsten Reiches, sondern auch über alle Heeresmacht der Revolution, über alles Feuer und allen Wahnsinn der Zeit. Reizt ihn nicht aus seiner weisen Jovialität hinaus in die fatalistischen Irrgänge der Leidenschaft, legt ihm nichts in den Weg, weder goldene Äpfel noch rohe Klötze! ... Die ganze Partei der Krone sollte sich Glück wünschen, daß die Kammer eben den Thiers gewählt, den Staatsmann, der in den jüngsten Debatten seine ganze politische Größe offenbart hat. Ja, während die andern nur Redner sind oder Administratoren oder Gelehrte oder Diplomaten oder Tugendhelden, so ist Thiers alles dieses zusammen, sogar letzteres, nur daß sich bei ihm diese Fähigkeiten nicht als schroffe Spezialitäten hervorstellen, sondern von seinem staatsmännischen Genie überragt und absorbiert werden. Thiers ist Staatsmann; er ist einer von jenen Geistern, denen das Talent des Regierens angeboren ist. Die Natur schafft Staatsmänner, wie sie Dichter schafft, zwei sehr heterogene Arten von Geschöpfen, die aber von gleicher Unentbehrlichkeit; denn die Menschheit muß begeistert werden und regiert. Die Männer, denen die Poesie oder die Staatskunst angeboren ist, werden auch von der Natur getrieben, ihr Talent geltend zu machen, und wir dürfen diesen Trieb keineswegs mit jener kleinen Eitelkeit verwechseln, welche die Minderbegabten anstachelt, die Welt mit ihren elegischen Reimereien oder mit ihren prosaischen Deklamationen zu langweilen.

Ich habe angedeutet, daß Thiers eben durch seine letzte Rede seine staatsmännische Größe bekundete. Berryer hat vielleicht mit seinen sonoren Phrasen auf die Ohren der großen Menge eine pomphaftere Wirkung ausgeübt; aber dieser Orator verhält sich zu jenem Staatsmann wie Cicero zu Demosthenes. Wenn Cicero auf dem Forum plädierte, dann sagten die Zuhörer, daß niemand schöner zu reden verstehe als der Marcus Tullius; sprach aber Demosthenes, so riefen die Athener: »Krieg gegen Philipp!« Statt aller Lobsprüche, nachdem Thiers geredet hatte, öffneten die Deputierten ihren Säckel und gaben ihm das verlangte Geld.

Kulminierend in jener Rede des Thiers war das Wort »Transaktion« – ein Wort, das unsere Tagespolitiker sehr wenig begriffen, das aber nach meiner Ansicht die tiefsinnigste Bedeutung enthält. War denn von jeher die Aufgabe der großen Staatsmänner etwas anderes als eine Transaktion, eine Vermittlung zwischen Prinzipien und Parteien? Wenn man regieren soll und sich zwischen zwei Faktionen, die sich befehden, befindet, so muß man eine Transaktion versuchen. Wie könnte die Welt fortschreiten, wie könnte sie nur ruhig stehenbleiben, wenn nicht nach wilden Umwälzungen die gebietenden Männer kämen, die unter den ermüdeten und leidenden Kämpfern den Gottesfrieden wiederherstellten, im Reiche des Gedankens wie im Reiche der Erscheinung? Ja, auch im Reiche des Gedankens sind Transaktionen notwendig. Was war es anders als Transaktion zwischen der römisch-katholischen Überlieferung und der menschlich-göttlichen Vernunft, was vor drei Jahrhunderten in Deutschland als Reformation und protestantische Kirche ins Leben trat? Was war es anders als Transaktion, was Napoleon in Frankreich versuchte, als er die Menschen und die Interessen des alten Regimes mit den neuen Menschen und neuen Interessen der Revolution zu versöhnen suchte? Er gab dieser Transaktion den Namen »Fusion« – ebenfalls ein sehr bedeutungsvolles Wort, welches ein ganzes System offenbart. – Zwei Jahrtausende vor Napoleon hatte ein anderer großer Staatsmann, Alexander von Mazedonien, ein ähnliches Fusionssystem ersonnen, als er den Okzident mit dem Orient vermitteln wollte, durch Wechselheiraten zwischen Siegern und Besiegten, Sittentausch, Gedankenverschmelzung. – Nein, zu solcher Höhe des Fusionssystems konnte sich Napoleon nicht erheben, nur die Personen und die Interessen wußte er zu vermitteln, nicht die Ideen, und das war sein großer Fehler und auch der Grund seines Sturzes. Wird Herr Thiers denselben Mißgriff begehen? Wir fürchten es fast. Herr Thiers kann sprechen von Morgen bis Mitternacht, unermüdet, immer neue glänzende Gedanken, immer neue Geistesblitze hervorsprühend, den Zuhörer ergötzend, belehrend, blendend man möchte sagen: ein gesprochenes Feuerwerk. Und dennoch begreift er mehr die materiellen als die idealen Bedürfnisse der Menschheit; er kennt den letzten Ring nicht, womit die irdischen Erscheinungen an den Himmel gekettet sind: er hat keinen Sinn für große soziale Institutionen.






© Wolfgang Fricke