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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






VIII

Paris, 20. Mai 1840


Herr Thiers hat, durch die überzeugende Klarheit, womit er in der Kammer die trockensten und verworrensten Gegenstände abhandelte, wieder neue Lorbeern errungen. Die Bankverhältnisse wurden uns durch seine Rede ganz veranschaulicht sowie auch die algierschen Angelegenheiten und die Zuckerfrage. Der Mann versteht alles; es ist schade, daß er sich nicht auf deutsche Philosophie gelegt hat; er würde auch diese zu verdeutlichen wissen. Aber wer weiß! wenn die Ereignisse ihn antreiben und er sich auch mit Deutschland beschäftigen muß, wird er über Hegel und Schelling ebenso belehrend sprechen wie über Zuckerrohr und Runkelrübe.

Wichtiger aber für die Interessen Europas als die kommerziellen, finanziellen und Kolonialgegenstände, die in der Kammer zur Sprache kamen, ist die feierliche Rückkehr der irdischen Reste Napoleons. Diese Angelegenheit beschäftigt hier noch immer alle Geister, die höchsten wie die niedrigsten. Während unten im Volke alles jubelt, jauchzt, glüht und aufflammt, grübelt man oben, in den kältern Regionen der Gesellschaft, über die Gefahren, die jetzt von Sankt Helena aus täglich näher ziehen und Paris mit einer sehr bedenklichen Totenfeier bedrohen. Ja, könnte man schon den nächsten Morgen die Asche des Kaisers unter der Kuppel des Invalidenpalastes beisetzen, so dürfte man dem jetzigen Ministerium Kraft genug zutrauen, bei diesem Leichenbegängnisse jeden ungefügen Ausbruch der Leidenschaften zu verhüten. Aber wird es diese Kraft noch nach sechs Monaten besitzen, zur Zeit, wenn der triumphierende Sarg in die Seine hereinschwimmt? In Frankreich, dem rauschenden Lande der Bewegung, können sich binnen sechs Monaten die sonderbarsten Dinge ereignen: Thiers ist unterdessen vielleicht wieder Privatmann geworden (was wir sehr wünschten), oder er ist unterdessen als Minister sehr depopularisiert (was wir sehr befürchten), oder Frankreich ward unterdessen in einen Krieg verwickelt – und alsdann könnten aus der Asche Napoleons einige Funken hervorsprühen, ganz in der Nähe des Stuhls, der mit rotem Zunder bedeckt ist!

Schuf Herr Thiers jene Gefahr, um sich unentbehrlich zu machen, da man ihm auch die Kunst zutraut, alle selbstgeschaffenen Gefahren glücklich zu überwinden, oder sucht er im Bonapartismus eine glänzende Zuflucht für den Fall, daß er einmal mit dem Orleanismus ganz brechen müßte? Herr Thiers weiß sehr gut, daß, wenn er, in die Opposition zurücksinkend, den jetzigen Thron umstürzen hülfe, die Republikaner ans Ruder kämen und ihm für den besten Dienst den schlechtesten Dank widmen würden; im günstigsten Falle schöben sie ihn sacht beiseite. Stolpernd über jene rohen Tugendklötze, könnte er leicht den Hals brechen und noch obendrein verhöhnt werden. Dergleichen hätte er aber nicht vom Bonapartismus zu befürchten, wenn er dessen Wiedereinsetzung förderte. Und leichter wäre es, in Frankreich ein Bonapartistenregiment als eine Republik wieder zu begründen.

Die Franzosen, aller republikanischen Eigenschaften bar, sind ihrer Natur nach ganz bonapartistisch. Ihnen fehlt die Einfalt, die Selbstgenügsamkeit, die innere und die äußere Ruhe; sie lieben den Krieg des Krieges wegen; selbst im Frieden ist ihr Leben eitel Kampf und Lärm; die Alten wie die Jungen ergötzen sich gern am Trommelschlag und Pulverdampf, an Knalleffekten jeder Art.

Dadurch, daß Herr Thiers ihrem angebornen Bonapartismus schmeichelte, hat er unter den Franzosen die außerordentlichste Popularität gewonnen. Oder ward er populär, weil er selber ein kleiner Napoleon ist, wie ihn jüngst ein deutscher Korrespondent nannte? Ein kleiner Napoleon! Ein kleiner gotischer Dom! Ein gotischer Dom erregt eben dadurch, unser Erstaunen, weil er so kolossal, so groß ist. Im verjüngten Maßstabe verlöre er alle Bedeutung. Herr Thiers ist gewiß mehr als so ein winziges Dömchen. Sein Geist überragt alle Intelligenzen rund um ihn her, obgleich manche darunter sind, die von bedeutender Statur. Keiner kann sich mit ihm messen, und in einem Kampfe mit ihm muß die Schlauheit selbst den kürzern ziehen. Er ist der klügste Kopf Frankreichs, obgleich er, wie man behauptet, es selbst gesteht. In seiner schnellzüngigen Weise soll er nämlich voriges Jahr, während der Ministerkrisis, zum König gesagt haben: »Ew. Majestät glauben, Sie seien der klügste Mann in diesem Lande, aber ich kenne hier jemand, der noch weit klüger ist, und das bin ich!« Der schlaue Philipp soll hierauf geantwortet haben: »Sie irren sich, Herr Thiers; wenn Sie es wären, würden Sie es nicht sagen.« – Dem sei aber, wie ihm wolle, Herr Thiers wandelt zu dieser Stunde durch die Gemächer der Tuilerien mit dem Selbstbewußtsein seiner Größe, als ein maire du palais der Orleanischen Dynastie.

Wird er lange diese Allmacht behaupten? Ist er nicht jetzt schon heimlich gebrochen, infolge ungeheurer Anstrengungen? Sein Haupt ist vor der Zeit gebleicht, man findet darauf gewiß kein einziges schwarzes Haar mehr; und je länger er herrscht, desto mehr schwindet die kecke Gesundheit seines Naturells. Die Leichtigkeit, womit er sich bewegt, hat jetzt sogar etwas Unheimliches. Aber außerordentlich und bewunderungswürdig ist sie noch immer, diese Leichtigkeit, und wie leicht und beweglich auch die andern Franzosen sind, in Vergleichung mit Thiers erscheinen sie wie lauter plumpe Deutsche.






© Wolfgang Fricke