» Startseite » Texte von Heine » Lutetia - Artikel XVIII

Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XVIII

Granville (Departement de la Manche),
25. August 1840


Seit drei Wochen durchstreife ich die Normandie die Kreuz und die Quer, und über die Stimmung, die sich hier bei Gelegenheit der letzten Ereignisse kundgab, kann ich Ihnen aus eigener Beobachtung berichten. Die Gemüter waren durch die kriegerischen Trompetenstöße der französischen Presse schon ziemlich aufgeregt, als die Landung des Prinzen Ludwig allen möglichen Befürchtungen Spielraum gab. Man ängstigte sich durch die verzweiflungsvollsten Hypothesen. Bis auf diese Stunde glauben die Leute hierzulande, daß der Prinz auf eine ausgebreitete Verschwörung rechnete und sein langes Verharren bei der Säule von Boulogne von einem Rendezvous zeugte, das durch Verrat oder Zufall vereitelt ward. Zwei Drittel der zahlreichen englischen Familien, die in Boulogne wohnen, nahmen Reißaus, ergriffen von panischer Furcht, als sie in dem geruhsamen Städtchen einige gefährliche Flintenschüsse vernahmen und den Krieg vor ihrer eigenen Tür sahen. Diese Flüchtlinge, um ihre Angst zu rechtfertigen, brachten die entsetzlichsten Gerüchte nach der englischen Küste, und Englands Kalkfelsen wurden noch blässer vor Schrecken. Durch Wechselwirkung werden jetzt die Engländer, die in der Normandie hausen, von ihren heimischen Angehörigen zurückberufen in das glückliche Eiland, das vor den Verheerungen des Krieges noch lange geschützt sein wird – nämlich so lange, bis einmal die Franzosen eine hinlängliche Anzahl Dampfschiffe ausgerüstet haben werden, womit man eine Landung in England bewerkstelligen kann.

In Boulogne wäre eine solche Dampfflotte bis zum Tage der Ausfahrt von unzähligen kleinen Forts beschützt. Letztere, welche die ganze Küste der Departements du Nord und de la Manche umgehen, sind auf Felsen gepflanzt, die, aus dem Meere hervorragend, wie vor Anker liegende steinerne Kriegsschiffe aussehen. Sie sind während der langen Friedenszeit etwas baufällig geworden, jetzt aber werden sie mit großem Eifer gerüstet. Von allen Seiten sah ich zu diesem Behufe eine Menge blanke Kanonen heranschleppen, die mich sehr freundlich anlachten; denn diese klugen Geschöpfe teilen meine Antipathie gegen die Engländer und werden solche gewiß weit donnernder und treffender aussprechen. Beiläufig bemerke ich, daß die Kanonen der französischen Küstenforts über ein Drittel weiter schießen als die englischen Schiffskanonen, welche zwar von so großem Kaliber, aber nicht von derselben Länge sein können.

Hier in der Normandie haben die Kriegsgerüchte alle Nationalgefühle und Nationalerinnerungen aufgeregt, und als ich im Wirtshaus zu Saint-Valéry, während des Tischgesprächs den Plan einer Landung in England diskutieren hörte, fand ich die Sache durchaus nicht lächerlich: denn auf derselben Stelle hatte sich einst Wilhelm der Eroberer eingeschifft, und seine damaligen Kameraden waren ebensolche Normannen wie die guten Leute, die ich jetzt eine ähnliche Unternehmung besprechen hörte. Möge der stolze englische Adel nie vergessen, daß es Bürger und Bauern in der Normandie gibt, die ihre Blutsverwandtschaft mit den vornehmsten Häusern Englands urkundlich beweisen können und gar nicht übel Lust hätten, ihren lieben Vettern und Basen einen Besuch abzustatten.

Der englische Adel ist im Grunde der jüngste in Europa, trotz der hochklingenden Namen, die selten ein Zeichen der Abstammung, sondern gewöhnlich nur ein übertragener Titel sind. Der übertriebene Hochmut dieser Lordships und Ladyships ist vielleicht eine Nücke ihrer parvenierten Jugendlichkeit, wie denn immer, je jünger der Stammbaum, desto grünlich bitterer die Früchtchen. Jener Hochmut trieb einst die englische Ritterschaft in den verderblichen Kampf mit den demokratischen Richtungen und Ansprüchen Frankreichs, und es ist leicht möglich, daß ihre jüngsten Übermüte aus ähnlichen Gründen entsprungen: denn zu unserer größten Verwunderung fanden wir, daß bei jener Gelegenheit die Tories mit den Whigs übereinstimmten.

Woher aber kommt es, daß solche Emeute aller aristokratischen Interessen immer im englischen Volke so vielen Anklang fand? Der Grund liegt darin, daß erstens das ganze englische Volk, die Gentry ebensogut wie die High nobility und der Mob ebensogut wie jene, von sehr aristokratischer Gesinnung sind, und zweitens, weil immer im Herzen der Engländer eine geheime Eifersucht, wie ein böses Geschwür, juckt und eitert, sobald in Frankreich ein behaglicher Wohlstand emporblüht, sobald die französische Industrie durch den Frieden gedeiht und die französische Marine sich bedeutend ausbildet.

Namentlich in Beziehung auf die Marine wird den Engländern die gehässigste Mißgunst zugeschrieben, und in den französischen Häfen zeigt sich wirklich eine Entwickelung von Kräften, die leicht den Glauben erregt, die englische Seemacht in einiger Zeit von der französischen überflügelt zu sehen. Erstere ist seit zwanzig Jahren stationär geblieben, statt daß letztere im tätigsten Fortschritt begriffen ist. Ich habe in einem früheren Briefe bereits bemerkt, wie im Arsenal zu Toulon der Bau der Kriegsschiffe so eifrig betrieben worden, daß im Fall eines Krieges binnen kurzer Frist fast doppelt so viele Schiffe, wie Frankreich 1814 besitzen durfte, in See stechen können. Ein Leipziger Tagesblatt widersprach dieser Behauptung in einer ziemlich herben Weise; ich kann nur die Achsel darüber zucken, denn dergleichen Angaben schöpfe ich nicht aus bloßem Hörensagen, sondern aus der unmittelbarsten Anschauung. In Cherbourg, wo ich mich vor acht Tagen befand (ein gut Stück französischer Marine plätschert dort im Hafen), versicherte man mir, daß zu Brest ebenfalls doppelt so viele Kriegsschiffe befindlich wie früher, nämlich über funfzehn Linienschiffe, Fregatten und Briggs, von der anständigsten Kanonenzahl, teils ganz, teils bis auf einige Zwanzigstel fertiggebaut und ausgerüstet. In vier Wochen werde ich Gelegenheit haben, sie persönlich kennenzulernen. Bis dahin begnüge ich mich, zu berichten, daß ebenso wie hier, in der Basse-Normandie, auch an der bretonischen Küste unter dem Seevolke die kriegsmutigste Aufregung herrscht und die ernsthaftesten Vorbereitungen zum Kriege gemacht werden. – –

Ach Gott! nur kein Krieg! Ich fürchte, daß das ganze französische Volk, wenn man es hart bedränge, jene rote Mütze wieder hervorholt, die ihm noch weit mehr als das dreieckige bonapartistische Wünschelhütchen das Haupt erhitzen dürfte! Ich möchte hier gern die Frage aufwerfen, inwieweit die dämonischen Zerstörungskräfte, die jenem alten Talisman in Frankreich gehorchen, auch im Auslande sich geltend machen könnten. Es wäre wichtig, zu untersuchen, von welcher Bedeutung die Gewalten sind, die einem Zaubermittel zugeschrieben werden, wovon die französische Presse in der jüngsten Zeit unter dem Namen »Propaganda« so geheimnisvoll und bedrohsam flüsterte und zischelte. Ich muß mich aus leicht begreiflichen Gründen aller solchen Untersuchungen enthalten, und in betreff der vielbesprochenen Propaganda erlaube ich mir nur eine parabolische Andeutung. Es ist Ihnen bekannt, daß in Lappland noch viel Heidentum herrscht und daß die Lappen, welche zur See gehen wollen, sich vorher, um den notwendigen Fahrwind einzukaufen, zu einem Hexenmeister begehen. Dieser überliefert ihnen ein Tuch, worin drei Knoten sind. Sobald man auf dem Meere ist und den ersten Knoten öffnet, bewegt sich die Luft, und es bläst ein guter Fahrwind. Öffnet man den zweiten Knoten, so entsteht schon eine weit stärkere Lufterschütterung, und es heult ein wütendes Wetter. Öffnet man aber gar den dritten Knoten, so erhebt sich der wildeste Sturm und peitscht das rasende Meer, und das Schiff kracht und geht unter mit Mann und Maus. Wenn der arme Lappe zu seinem Hexenmeister kommt, beteuert er freilich, er habe genug an einem einzigen Knoten, an gutem Fahrwind, er brauche keinen stärkeren Wind und am allerwenigsten einen gefährlichen Sturm; aber es hilft ihm nichts, man verkauft ihm den Wind nur en gros, er muß für alle drei Sorten zahlen, und wehe ihm, wenn er etwa späterhin auf dem hohen Meere zuviel Branntwein trinkt und im Rausche die bedenklicheren Knoten aufknüpft! – Die Franzosen sind nicht so läppisch wie die Lappen, obgleich sie leichtsinnig genug wären, die Stürme zu entzügeln, wodurch sie selber zugrunde gehen müßten. Bis jetzt sind sie noch weit genug davon entfernt. Wie man mir mit Betrübnis versichert, hat sich das französische Ministerium nicht sehr kauflustig gezeigt, als ihm einige preußische und polnische Windmacher (die aber keine Hexenmeister sind!) ihren Wind anboten.






© Wolfgang Fricke