» Startseite » Texte von Heine » Lutetia - Artikel XX

Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XX

Paris, den 1. Oktober 1840


»Haben Sie das Buch Baruch gelesen?« Mit dieser Frage lief einst Lafontaine durch alle Straßen von Paris, jeden seiner Bekannten anhaltend, um ihm die große Neuigkeit mitzuteilen, daß das Buch Baruch wunderschön sei, eine der besten Sachen, die je geschrieben worden. Die Leute sahen ihn verwundert an und lächelten vielleicht in derselben Weise, wie ich Sie lächeln sehe, wenn ich Ihnen mit der heutigen Post die wichtige Nachricht mitteile, daß »Tausend und eine Nacht« eines der besten Bücher ist und gar besonders nützlich und belehrsam in jetziger Zeit... Denn aus jenem Buche lernt man den Orient besser kennen als aus den Berichten Lamartines, Poujoulats und Konsorten; und wenn auch diese Kenntnis nicht hinreicht, die orientalische Frage zu lösen, so wird sie uns wenigstens ein bißchen aufheitern in unserm okzidentalischen Elend! Man fühlt sich so glücklich, während man dies Buch liest! Schon der Rahmen ist kostbarer als die besten Gemälde des Abendlandes. Welch ein prächtiger Kerl ist jener Sultan Schariar, der seine Gattinnen des andern Morgens, nach der Brautnacht, unverzüglich töten läßt! Welche Tiefe des Gemüts, welche schauerliche Seelenkeuschheit, welche Zartheit des ehelichen Bewußtseins offenbart sich in jener naiven Liebestat, die man bisher als grausam, barbarisch, despotisch verunglimpfte! Der Mann hatte einen Abscheu gegen jede Verunreinigung seiner Gefühle, und er glaubte sie schon verunreinigt durch den bloßen Gedanken, daß die Gattin, die heut an seinem hohen Herzen lag, vielleicht morgen in die Arme eines andern, eines schmutzigen Lumps, hinabsinken könne – und er tötete sie lieber gleich nach der Brautnacht! Da man so viele verkannte Edle, die das blödsinnige Publikum lange Zeit verlästerte und schmähte, jetzt wieder zu Ehren bringt, so sollte man auch den wackern Sultan Schariar in der öffentlichen Meinung zu rehabilitieren suchen. Ich selbst kann mich in diesem Augenblick einem solchen verdienstlichen Werke nicht unterziehen, da ich schon mit der Rehabilitation des seligen Königs Prokrustus beschäftigt bin; ich werde nämlich beweisen, daß dieser Prokrustus bisher so falsch beurteilt worden, weil er seiner Zeit vorausgeschritten und in einer heroisch aristokratischen Periode die heutigsten Plebejerideen zu verwirklichen suchte. Keiner hat ihn verstanden, als er die Großen verkleinerte und die Kleinen so lange ausreckte, bis sie in sein eisernes Gleichheitsbett paßten.

Der Republikanismus macht in Frankreich täglich bedeutendere Fortschritte, und Robespierre und Marat sind vollständig rehabilitiert. Oh, edler Schariar und echt demokratischer Prokrustus! auch ihr werdet nicht lange mehr verkannt bleiben. Erst jetzt versteht man euch. Die Wahrheit siegt am Ende.

Madame Lafarge wird seit ihrer Verurteilung noch leidenschaftlicher als früher besprochen. Die öffentliche Meinung ist ganz zu ihren Gunsten, seitdem Herr Raspail sein Gutachten in die Waagschale geworfen. Bedenkt man einerseits, daß hier ein strenger Republikaner gegen seine eigenen Parteiinteressen auftritt und durch seine Behauptungen eins der volkstümlichsten Institute des neuen Frankreichs, die Jury, unmittelbar kompromittiert; und bedenkt man andrerseits, daß der Mann, auf dessen Ausspruch die Jury das Verdammungsurteil basierte, ein berüchtigter Intrigant und Scharlatan ist, eine Klette am Kleide der Großen, ein Dorn im Fleische der Unterdrückten, schmeichelnd nach oben, schmähsüchtig nach unten, falsch im Reden wie im Singen: o Himmel! dann zweifelt man nicht länger, daß Marie Capelle unschuldig ist und an ihrer Statt der berühmte Toxologe, welcher Dekan der Medizinischen Fakultät von Paris, nämlich Herr Orfila, auf dem Marktplatz von Tulle an den Pranger gestellt werden sollte! Wer aus näherer Beobachtung die Umtriebe jenes eiteln Selbstsüchtlings nur einigermaßen kennt, ist in tiefster Seele überzeugt, daß ihm kein Mittel zu schlecht ist, wo er eine Gelegenheit findet, sich in seiner wissenschaftlichen Spezialität wichtig zu machen und überhaupt den Glanz seiner Berühmtheit zu fördern! In der Tat, dieser schlechte Sänger, der, wenn er in den Soireen von Paris seine schlechten Romanzen meckert, kein menschliches Ohr schont und jeden töten möchte, der ihn auslacht: er würde auch kein Bedenken tragen, ein Menschenleben zu opfern, wo es gälte, das versammelte Publikum glauben zu machen, niemand sei so geschickt wie er, jedes verborgene Gift an den Tag zu bringen! Die öffentliche Meinung geht dahin, daß im Leichnam des Lafarge gar kein Gift, desto mehr hingegen im Herzen des Herrn Orfila vorhanden war. Diejenigen, welche dem Urteil der Jury von Tulle beistimmen, bilden eine sehr kleine Minorität und gebärden sich nicht mehr mit der frühern Sicherheit. Unter ihnen gibt es Leute, welche zwar an Vergiftung glauben, dieses Verbrechen aber als eine Art Notwehr betrachten und gewissermaßen justifizieren. Lafarge, sagen sie, sei einer größern Untat anklagbar: er habe, um sich durch ein Heiratsgut vom Bankerotte zu retten, mit betrügerischen Vorspiegelungen das edle Weib gleichsam gestohlen und sie nach seiner öden Diebeshöhle geschleppt, wo, umgehen von der rohen Sippschaft, unter moralischen Martern und tödlichen Entbehrungen, die arme verzärtelte, an tausend geistige Bedürfnisse gewöhnte Pariserin, wie ein Fisch außer dem Wasser, wie ein Vogel unter Fledermäusen, wie eine Blume unter limosinischen Bestien, elendiglich dahinsterben und vermodern mußte! »Ist das nicht ein Meuchelmord, und war hier nicht Notwehr zu entschuldigen?« – so sagen die Verteidiger, und sie setzen hinzu: »Als das unglückliche Weib sah, daß sie gefangen war, eingekerkert in der wüsten Kartause, welche Glandier heißt, bewacht von der alten Diebesmutter, ohne gesetzliche Rettungshilfe, ja gefesselt durch die Gesetze selbst – da verlor sie den Kopf, und zu den tollen Befreiungsmitteln, die sie zuerst versuchte, gehört jener famöse Brief, worin sie dem rohen Gatten vorlog, sie liebe einen andern, sie könne ihn nicht lieben, er möge sie also loslassen, sie wolle nach Asien fliehen, und er möge ihr Heiratsgut behalten. Die holde Närrin! In ihrem Wahnsinn glaubte sie, ein Mann könne mit einem Weibe nicht leben, welches ihn nicht liebe, daran stürbe er, das sei der Tod... Da sie aber sah, daß der Mann auch ohne Liebe leben konnte, daß ihn Lieblosigkeit nicht tötete, da griff sie zu purem Arsenik... Rattengift für eine Ratte!« – Die Männer der Jury von Tulle scheinen Ähnliches gefühlt zu haben, denn sonst wäre es nicht zu begreifen, weshalb sie in ihrem Verdikt von Milderungsgründen sprachen. Soviel ist aber gewiß, daß der Prozeß der Dame von Glandier ein wichtiges Aktenstück ist, wenn man sich mit der großen Frauenfrage beschäftigt, von deren Lösung das ganze gesellschaftliche Leben Frankreichs abhängt. Die außerordentliche Teilnahme, die jener Prozeß erregt, entspringt aus dem Bewußtsein eignen Leids. Ihr armen Frauen, ihr seid wahrhaftig übel dran. Die Juden in ihren Gebeten danken täglich dem lieben Gott, daß er sie nicht als Frauenzimmer zur Welt kommen ließ. Naives Gebet von Menschen, die eben durch Geburt nicht glücklich sind, aber ein weibliches Geschöpf zu sein für das schrecklichste Unglück halten! Sie haben recht, selbst in Frankreich, wo das weibliche Elend mit so vielen Rosen bedeckt wird.






© Wolfgang Fricke