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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XXXVIII

Paris, den 19. Dezember 1841


Wird sich Guizot halten? Heiliger Gott, hierzuland hält sich niemand auf die Länge, alles wackelt, sogar der Obelisk von Luxor! Das ist keine Hyperbel, sondern buchstäbliche Wahrheit; schon seit mehren Monaten geht hier die Rede, der Obelisk stehe nicht fest auf seinem Postament, er schwanke zuweilen hin und her, und eines frühen Morgens werde er den Leuten, die eben vorüberwandeln, auf die Köpfe purzeln. Die Ängstlichen suchen schon jetzt, wenn ihr Weg sie über die Place Louis-Quinze führt, sich etwas entfernt zu halten von der fallenden Größe. Die Mutigern lassen sich freilich nicht in ihrem gewöhnlichen Gange stören, weichen keinen Fingerbreit, können aber doch nicht umhin, im Vorübergehen ein bißchen hinaufzuschielen, ob der große Stein wirklich nicht wackelmütig geworden. Wie dem auch sei, es ist immer schlimm, wenn das Publikum Zweifel hegt über die Festigkeit der Dinge; mit dem Glauben an ihre Dauer schwindet schon ihre beste Stütze. Wird er sich halten? Jedenfalls glaub ich, daß er sich die nächste Sitzung hindurch halten wird, sowohl der Obelisk als Guizot, der mit jenem eine gewisse Ähnlichkeit hat, z.B. die, daß er ebenfalls nicht auf seinem rechten Platze steht. Ja, sie stehen beide nicht auf ihrem rechten Platz, sie sind herausgerissen aus ihrem Zusammenhang, ungestüm verpflanzt in eine unpassende Nachbarschaft. Jener, der Obelisk, stand einst vor den lotosknäufigen Riesensäulen am Eingang des Tempels von Luxor, welcher wie ein kolossaler Sarg aussieht und die ausgestorbene Weisheit der Vorwelt, getrocknete Königsleichen, einbalsamierten Tod enthält. Neben ihm stand ein Zwillingsbruder von demselben roten Granit und derselben pyramidalischen Gestalt, und ehe man zu diesen beiden gelangte, schritt man durch zwei Reihen Sphinxe, stumme Rätseltiere, Bestien mit Menschenköpfen, ägyptische Doktrinäre. In der Tat, solche Umgebung war für den Obelisken weit geeigneter als die, welche ihm auf der Place Louis- Quinze zuteil ward, dem modernsten Platz der Welt, dem Platz, wo eigentlich die moderne Zeit angefangen und von der Vergangenheit gewaltsam abgeschnitten wurde mit frevelhaftem Beil. – Zittert und wackelt vielleicht wirklich der große Obelisk, weil es ihm graut, sich auf solchem gottlosen Boden zu befinden, er, der gleichsam ein steinerner Schweizer in Hieroglyphenlivree jahrtausendelang Wache hielt vor den heiligen Pforten der Pharaonengräber und des absoluten Mumientums? Jedenfalls steht er dort sehr isoliert, fast komisch isoliert, unter lauter theatralischen Architekturen der Neuzeit, Bildwerken im Rokokogeschmack, Springbrunnen mit vergoldeten Najaden, allegorischen Statuen der französischen Flüsse, deren Piedestal eine Portierloge enthält, in der Mitte zwischen dem Arc de triomphe, den Tuilerien und der Chambre des députés – ungefähr wie der sazerdotal tiefsinnige, ägyptisch steife und schweigsame Guizot zwischen dem imperialistisch rohen Soult, dem merkantilisch flachköpfigen Human und dem hohlen Schwätzer Villemain, der halb voltairisch und halb katholisch angestrichen ist und in jedem Fall einen Strich zuviel hat.

Doch laßt uns Guizot beiseite setzen und nur von dem Obelisken reden: es ist ganz wahr, daß man von seinem baldigen Sturze spricht. Es heißt: im stillen Sonnenbrand am Nil, in seiner heimatlichen Ruhe und Einsamkeit, hätte er noch Jahrtausende aufrecht stehenbleiben können, aber hier in Paris agitierte ihn der beständige Wetterwechsel, die fieberhaft aufreibende, anarchische Atmosphäre, der unaufhörlich wehende feuchtkalte Kleinwind, welcher die Gesundheit weit mehr angreift als der glühende Samum der Wüste; kurz, die Pariser Luft bekomme ihm schlecht. Der eigentliche Rival des Obelisken von Luxor ist noch immer die Colonne Vendôme. Steht sie sicher? Ich weiß nicht, aber sie steht auf ihrem rechten Platze, in Harmonie mit ihrer Umgebung. Sie wurzelt treu im nationalen Boden, und wer sich daran hält, hat eine feste Stütze. Eine ganz feste? Nein, hier in Frankreich steht nichts ganz fest. Schon einmal hat der Sturm das Kapital, den eisernen Kapitalmann, von der Spitze der Vendômesäule herabgerissen, und im Fall die Kommunisten ans Regiment kämen, dürfte wohl zum zweiten Male dasselbe sich ereignen, wenn nicht gar die radikale Gleichheitsraserei die Säule selbst zu Boden reißt, damit auch dieses Denkmal und Sinnbild der Ruhmsucht von der Erde schwinde: kein Mensch und kein Menschenwerk soll über ein bestimmtes Kommunalmaß hervorragen, und der Baukunst ebensogut wie der epischen Poesie droht der Untergang. »Wozu noch ein Monument für ehrgeizige Völkermörder«, hörte ich jüngst ausrufen bei Gelegenheit des Modellkonkurses für das Mausoleum des Kaisers, »das kostet das Geld des darbenden Volkes, und wir werden es ja doch zerschlagen, wenn der Tag kommt!« Ja, der tote Held hätte in St. Helena bleiben sollen, und ich will ihm nicht dafür stehen, daß nicht einst sein Grabmal zertrümmert und seine Leiche in den schönen Fluß geschmissen wird, an dessen Ufern er so sentimental ruhen sollte, nämlich in die Seine! Thiers hat ihm als Minister vielleicht keinen großen Dienst geleistet.

Wahrlich, er leistet dem Kaiser einen größern Dienst als Historiker, und ein solideres Monument als die Vendômesäule und das projektierte Grabmal errichtet ihm Thiers durch das große Geschichtsbuch, woran er beständig arbeitet, wie sehr ihn auch die politischen Tageswehen in Anspruch nehmen. Nur Thiers hat das Zeug dazu, die große Historie des Napoleon Bonaparte zu schreiben, und er wird sie besser schreiben als diejenigen, die sich dazu besonders berufen glauben, weil sie treue Gefährten des Kaisers waren und sogar beständig mit seiner Person in Berührung standen. Die persönlichen Bekannten eines großen Helden, seine Mitkämpfer, seine Leibdiener, seine Kämmerer, Sekretäre, Adjutanten, vielleicht seine Zeitgenossen überhaupt, sind am wenigsten geeignet, seine Geschichte zu schreiben; sie kommen mir manchmal vor wie das kleine Insekt, das auf dem Kopf eines Menschen herumkriecht, ganz eigentlich in der unmittelbarsten Nähe seiner Gedanken verweilt, ihn überall begleitet und doch nie von seinem wahren Leben und der Bedeutung seiner Handlungen das mindeste ahnte.

Ich kann nicht umhin, bei dieser Gelegenheit auf einen Kupferstich aufmerksam zu machen, der in diesem Augenblick bei allen Kunsthändlern ausgehängt ist und den Kaiser darstellt nach einem Gemälde von Delaroche, welches derselbe für Lady Sandwich gemalt hat. Der Maler verfuhr bei diesem Bilde (wie in allen seinen Werken) als Eklektiker, und zur Anfertigung desselben benutzte er zunächst mehre unbekannte Porträte, die sich im Besitz der Bonapartischen Familie befinden, sodann die Maske des Toten, ferner die Details, die ihm über die Eigentümlichkeiten des kaiserlichen Gesichts von einigen Damen mitgeteilt worden, und endlich seine eignen Erinnerungen, da er in seiner Jugend mehrmals den Kaiser gesehen. Mein Urteil über dieses Bild kann ich hier nicht mitteilen, da ich zugleich über die Art und Weise des Delaroche ausführlich reden müßte. Die Hauptsache habe ich bereits angedeutet: das eklektische Verfahren, welches eine gewisse äußere Wahrheit befördert, aber keinen tiefern Grundgedanken aufkommen läßt. – Dieses neue Porträt des Kaisers ist bei Goupil und Rittner erschienen, die fast alle bekannten Werke des Delaroche in Kupferstich herausgegeben. Sie gaben uns jüngst seinen Karl I., welcher im Kerker von den Soldaten und Schergen verhöhnt wird, und als Seitenstück erhielten wir im selben Format den Grafen Stafford, welcher, zur Richtstätte geführt, dem Gefängnisse vorbeikommt, wo der Bischof Law gefangensitzt und dem vorüberziehenden Grafen seinen Segen erteilt, wir sehen nur seine aus einem Gitterfenster hervorgestreckten zwei Hände, die wie hölzerne Wegweiser aussehen, recht prosaisch abgeschmackt. In derselben Kunsthandlung erschien auch des Delaroche großes Kabinettstück: der sterbende Richelieu, welcher mit seinen beiden Schlachtopfern, den zum Tode verurteilten Rittern Saint-Mars und de Thou, in einem Boote die Rhône hinabfährt. Die beiden Königskinder, die Richard III. im Tower ermorden läßt, sind das Anmutigste, was Delaroche gemalt und als Kupferstich in bemeldeter Kunsthandlung herausgegeben. In diesem Augenblick läßt dieselbe ein Bild von Delaroche stechen, welches Maria Antoinette im Tempelgefängnisse vorstellt; die unglückliche Fürstin ist hier äußerst ärmlich, fast wie eine Frau aus dem Volke gekleidet, was gewiß dem edlen Faubourg die legitimsten Tränen entlocken wird. Eins der Hauptrührungswerke von Delaroche, welches die Königin Jeanne Grey vorstellt, wie sie im Begriff ist, ihr blondes Köpfchen auf den Block zu legen, ist noch nicht gestochen und soll nächstens ebenfalls erscheinen. Seine Maria Stuart ist auch noch nicht gestochen. Wo nicht das Beste, doch gewiß das Effektvollste, was Delaroche geliefert, ist sein Cromwell, welcher den Sargdeckel aufhebt von der Leiche des enthaupteten Karl I., ein berühmtes Bild, worüber ich vor geraumer Zeit ausführlich berichtete. Auch der Kupferstich ist ein Meisterstück technischer Vollendung. Eine sonderbare Vorliebe, ja Idiosynkrasie bekundet Delaroche in der Wahl seiner Stoffe. Immer sind es hohe Personen, die entweder hingerichtet werden oder wenigstens dem Henker verfallen. Herr Delaroche ist der Hofmaler aller geköpften Majestäten. Er kann sich dem Dienst solcher erlauchten Delinquenten niemals ganz entziehen, und sein Geist beschäftigt sich mit ihnen selbst bei Porträtierung von Potentaten, die auch ohne scharfrichterliche Beihilfe das Zeitliche segneten. So z.B. auf dem Gemälde seiner sterbenden Elisabeth von England sehen wir, wie die greise Königin sich verzweiflungsvoll auf dem Estrich wälzt, in dieser Todesstunde gequält von der Erinnerung an den Grafen Essex und Maria Stuart, deren blutige Schatten ihr stieres Auge zu erblicken scheint. Das Gemälde ist eine Zierde der Luxembourg-Galerie und ist nicht so schauderhaft banal oder banal schauderhaft wie die andern erwähnten historischen Genrebilder, Lieblingsstücke der Bourgeoisie, der wackern, ehrsamen Bürgersleute, welche die Überwindung der Schwierigkeiten für die höchste Aufgabe der Kunst halten, das Grausige mit dem Tragischen verwechseln und sich gern erbauen an dem Anblick gefallener Größe, im süßen Bewußtsein, daß sie vor dergleichen Katastrophen gesichert sind in der bescheidenen Dunkelheit einer arrière-boutique der Rue Saint-Denis.






© Wolfgang Fricke