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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XLI

Paris, 24. Januar 1842


In der parlamentarischen Arena sah man dieser Tage wieder einen glänzenden Zweikampf von Guizot und Thiers, jener zwei Männer, deren Namen in jedem Munde und deren unaufhörliche Besprechung nachgerade langweilig werden dürfte. Ich wundere mich, daß die Franzosen noch nicht darüber die Geduld verlieren, daß man seit Jahr und Tag, von Morgen bis Abend, beständig von diesen beiden Personen schwatzt Aber im Grunde sind es ja nicht Personen, sondern Systeme, von denen hier die Rede ist, Systeme, die überall zur Sprache kommen müssen, wo eine Staatsexistenz von außen bedroht ist, überall, in China so gut wie in Frankreich. Nur daß hier Thiers und Guizot genannt wird, was dort, in China, Lin und Keschen heißt. Ersterer ist der chinesische Thiers und repräsentiert das kriegerische System, welches die herandrohende Gefahr durch die Gewalt der Waffen, vielleicht auch nur durch schreckendes Waffengeräusch, abwehren wollte. Keschen hingegen ist der chinesische Guizot, er repräsentiert das Friedenssystem, und es wäre ihm vielleicht gelungen, die rothaarigen Barbaren durch kluge Nachgiebigkeit wieder aus dem Lande hinauszukomplimentieren, wenn die Thierssche Partei in Peking nicht die Oberhand gewonnen hätte. Armer Keschen! eben weil wir so fern vom Schauplatze, konnten wir ganz klar einsehen, wie sehr du recht hattest, den Streitkräften des Mittelreichs zu mißtrauen, und wie ehrlich du es mit deinem Kaiser meintest, der nicht so vernünftig wie Ludwig Philipp! Ich habe mich recht gefreut, als dieser Tage die »Allgemeine Zeitung« berichtete, daß der vortreffliche Keschen nicht entzweigesägt worden, wie es früher hieß, sondern nur sein ungeheures Vermögen eingebüßt habe. Letzteres kann dem hiesigen Repräsentanten des Friedenssystems nimmermehr passieren; wenn er fällt, können nicht seine Reichtümer konfisziert werden – Guizot ist arm wie eine Kirchenmaus. Und auch unser Lin ist arm, wie ich bereits öfter erwähnt habe; ich bin überzeugt, er schreibt seine Kaisergeschichte hauptsächlich des Geldes wegen. Welch ein Ruhm für Frankreich, daß die beiden Männer, die alle seine Macht verwalteten, zwei arme Mandarinen sind, die nur in ihrem Kopfe ihre Schätze tragen!

Die letzten Reden dieser beiden haben Sie gelesen und fanden vielleicht darin manche Belehrung über die Wirrnisse, welche eine unmittelbare Folge der orientalischen Frage. – Was in diesem Augenblick besonders merkwürdig, ist die Milde der Russen, wo von Erhaltung des türkischen Reichs die Rede. Der eigentliche Grund aber ist, daß sie faktisch schon den größten Teil desselben besitzen. Die Türkei wird allmählich russisch ohne gewaltsame Okkupation. Die Russen befolgen hier eine Methode, die ich nächstens einmal beleuchten werde. Es ist ihnen um die reelle Macht zu tun, nicht um den bloßen Schein derselben, nicht um die byzantinische Titulatur. Konstantinopel kann ihnen nicht entgehen, sie verschlingen es, sobald es ihnen paßt. In diesem Augenblick aber paßt es ihnen noch nicht, und sie sprechen von der Türkei mit einer süßlichen, fast herrenhutischen Friedfertigkeit. Sie mahnen mich an die Fabel von dem Wolf, welcher, als er Hunger hatte, sich eines Schafes bemächtigte. Er fraß mit gieriger Hast dessen beide Vorderbeine, jedoch die Hinterbeine des Tierleins verschonte er und sprach: »Ich bin jetzt gesättigt, und diesem guten Schafe, das mich mit seinen Vorderbeinen gespeiset hat, lasse ich aus Pietät alle seine übrigen Beine und den ganzen Rest seines Leibes.«






© Wolfgang Fricke