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Heinrich Heine
Lutetia – Zweiter Teil






XLV

Paris, 20. Juni 1842


In einem Lande, wo die Eitelkeit so viele eifrige Jünger zählt, wird die Zeit der Deputiertenwahl immer eine sehr bewegte sein. Da die Deputation aber nicht bloß die Eigenliebe kitzelt, sondern auch zu den fettesten Ämtern und zu den einträglichsten Einflüssen führt; da hier also nicht bloß der Ehrgeiz, sondern auch die Habsucht ins Spiel kommt; da es sich hier auch um jene materiellen Interessen handelt, denen unser Zeitalter so inbrünstig huldigt: so ist die Deputiertenwahl ein wahrer Wettlauf, ein Pferderennen, dessen Anblick für den fremden Zuschauer eher kurios als erfreulich sein mag. Es sind nämlich nicht eben die schönsten und besten Pferde, die bei solchem Rennen zum Vorschein kommen, nicht die inwohnenden Tugenden der Stärke, des Vollbluts, der Ausdauer kommen hier in Anschlag, sondern nur die leichtfüßige Behendigkeit. Manches edle Roß, dem der feurigste Schlachtmut aus den Nüstern schnaubt und Vernunft aus den Augen blitzt, muß hier einem magern Klepper nachstehen, der aber zu Triumphen auf dieser Bahn ganz besonders abgerichtet worden. Überstolze, störrige Gäule geraten hier schon beim ersten Anlauf in unzeitiges Bäumen, oder sie vergaloppieren sich. Nur die dressierte Mittelmäßigkeit erreicht das Ziel. Daß ein Pegasus beim parlamentarischen Rennen kaum zugelassen wird und tausenderlei Ungunst zu erfahren hat, versteht sich von selbst; denn der Unglückselige hat Flügel und könnte sich einst höher emporschwingen, als der Plafond des Palais Bourbon gestattet. Eine merkwürdige Erscheinung, daß unter den Wettrennern fast ein Dutzend von arabischer oder, um noch deutlicher zu sprechen, von semitischer Rasse. Doch was geht das uns an! Uns interessiert nicht dieser mäkelnde Lärm, dieses Stampfen und Wiehern der Selbstsucht, dieses Getümmel der schäbigsten Zwecke, die sich mit den brillantesten Farben geschmückt, das Geschrei der Stallknechte und der stäubende Mist – uns kümmert bloß zu erfahren: werden die Wahlen zugunsten oder zum Nachteil des Ministeriums ausfallen? Man kann hierüber noch nichts Bestimmtes melden. Und doch ist das Schicksal Frankreichs und vielleicht der ganzen Welt von der Frage abhängig, ob Guizot in der neuen Kammer die Majorität behalten wird oder nicht. Hiermit will ich keineswegs der Vermutung Raum geben, als könnten unter den neuen Deputierten sich ganz gewaltige Eisenfresser auftun und die Bewegung aufs höchste treiben. Nein, diese Ankömmlinge werden nur klingende Worte zu Markte bringen und sich vor der Tat ebenso bescheidentlich fürchten wie ihre Vorgänger; der entschiedenste Neuerer in der Kammer will nicht das Bestehende gewaltsam umstürzen, sondern nur die Befürchtungen der obern Mächte und die Hoffnungen der untern für sich selber ausbeuten. Aber die Verwirrungen, Verwicklungen und momentanen Nöten, worin die Regierung infolge dieses Treibens geraten kann, geben den dunkeln Gewalten, die im verborgenen lauern, das Signal zum Losbruch, und wie immer erwartet die Revolution eine parlamentarische Initiative. Das entsetzliche Rad käme dann wieder in Bewegung, und wir sähen diesmal einen Antagonisten auftreten, welcher der schrecklichste sein dürfte von allen, die bisher mit dem Bestehenden in die Schranken getreten. Dieser Antagonist bewahrt noch sein schreckliches Inkognito und residiert wie ein dürftiger Prätendent in jenem Erdgeschoß der offiziellen Gesellschaft, in jenen Katakomben, wo unter Tod und Verwesung das neue Leben keimt und knospet. Kommunismus ist der geheime Name des furchtbaren Antagonisten, der die Proletarierherrschaft in allen ihren Konsequenzen dem heutigen Bourgeoisieregimente entgegensetzt. Es wird ein furchtbarer Zweikampf sein. Wie möchte er enden? Das wissen die Götter und Göttinnen, denen die Zukunft bekannt ist. Nur soviel wissen wir: der Kommunismus, obgleich er jetzt wenig besprochen wird und in verborgenen Dachstuben auf seinem elenden Strohlager hinlungert, so ist er doch der düstre Held, dem eine große, wenn auch nur vorübergehende Rolle beschieden in der modernen Tragödie und der nur des Stichworts harrt, um auf die Bühne zu treten. Wir dürfen daher diesen Akteur nie aus den Augen verlieren, und wir wollen zuweilen von den geheimen Proben berichten, worin er sich zu seinem Debüt vorbereitet. Solche Hindeutungen sind vielleicht wichtiger als alle Mitteilungen über Wahlumtriebe, Parteihader und Kabinettsintrigen.






© Wolfgang Fricke