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Heinrich Heine
Lutetia – Zweiter Teil






LIII

Paris, 31. Dezember 1842


Noch ein kleiner Fußtritt, und das alte böse Jahr rollt hinunter in den Abgrund der Zeit. Dieses Jahr war eine Satire auf Ludwig Philipp, auf Guizot, auf alle, die sich so viele Mühe gegeben haben, den Frieden in Europa zu erhalten. Dieses Jahr ist eine Satire auf den Frieden selbst, denn im geruhsamen Schoße desselben wurden wir mit Schrecknissen heimgesucht, wie sie der gefürchtete Krieg gewiß nicht schrecklicher hervorbringen konnte. Entsetzlicher Wonnemond, wo fast gleichzeitig in Frankreich, in Deutschland und Haiti die fürchterlichsten Trauerspiele aufgeführt wurden! Welches Zusammentreffen der unerhörtesten Unglücksfälle! Welcher boshafte Witz des Zufalls! Welche höllischen Überraschungen! Ich kann mir die Verwunderung denken, womit die Bewohner des Schattenreichs die neuen Ankömmlinge vom 6. Mai betrachteten, die geputzten Sonntagsgesichter, Studenten, Grisetten, junge Ehepaare, vergnügungssüchtige Drogisten, Philister von allen Farben, die zu Versailles die Kunstwasser springen sahen und statt in Paris, wo schon die Mittagstafel für sie gedeckt war, plötzlich in der Unterwelt anlangten! Und zwar verstümmelt, gesotten und geschmort! »Ist es der Krieg, der euch so schnöde zugerichtet?« – »Ach nein, wir haben Frieden, und wir kommen eben von einer Spazierfahrt.« Auch die gebratenen Spritzenleute und Litzenbrüder, die einige Tage später aus Hamburg ankamen, mußten nicht geringeres Erstaunen im Lande Plutos erregen. »Seid ihr die Opfer des Kriegsgottes?« war gewiß die Frage, womit sie empfangen wurden. »Nein, unsre Republik hat Frieden mit der ganzen Welt, der Tempel des Janus war geschlossen, nur die Bacchushalle stand offen, und wir lebten im ruhigen Genusse unsrer spartanischen Mockturtlesuppen, als plötzlich das große Feuer entstand, worin wir umkamen.« – »Und eure berühmten Löschanstalten?« – »Die sind gerettet, nur ihr Ruhm ist verloren.« – »Und die alten Perücken?« – »Die werden wie gepuderte Phönixe aus der Asche hervorsteigen.« Den folgenden Tag, während Hamburg noch loderte, entstand das Erdbeben zu Haiti, und die armen schwarzen Menschen wurden zu Tausenden ins Schattenreich hinabgeschleudert. Als sie bluttriefend anlangten, glaubte man gewiß dort unten, sie kämen aus einer Schlacht mit den Weißen und sie seien von diesen gemetzelt oder gar als revoltierte Sklaven zu Tode gepeitscht worden. Nein, auch diesmal irrten sich die guten Leute am Styx. Nicht der Mensch, sondern die Natur hatte das große Blutbad angerichtet auf jener Insel, wo die Sklaverei längst abgeschafft, wo die Verfassung eine republikanische ist, ohne verjüngende Keime, aber wurzelnd in ewigen Vernunftgesetzen; es herrscht dort Freiheit und Gleichheit, sogar schwarze Preßfreiheit. – Greiz-Schleiz ist keine solche Republik, kein so hitziger Boden wie Haiti, wo das Zuckerrohr, die Kaffeestaude und die schwarze Preßfreiheit wächst und also ein Erdbeben sehr leicht entstehen konnte; aber trotz des zahmen Kartoffelklimas, trotz der Zensur, trotz der geduldigen Verse, die eben deklamiert oder gesungen wurden, ist den Greiz- Schleizern, während sie vergnügt und schaulustig im Theater saßen, plötzlich das Dach auf den Kopf gefallen, und ein Teil des verehrungswürdigen Publikums sah sich unerwartet in den Orkus geschleudert!

Ja, im sanftseligsten Stilleben, im Zustande des Friedens, häufte sich mehr Unheil und Elend, als jemals der Zorn Bellonas zusammentrompeten konnte. Und nicht bloß zu Lande, sondern auch zu Wasser haben wir in diesem Jahr das Außerordentliche erduldet. Die zwei großen Schiffbrüche an den Küsten von Südafrika und der Manche gehören zu den schauderhaftesten Kapiteln in der Martyrgeschichte der Menschheit. Wir haben keinen Krieg, aber der Frieden richtet uns hin, und gehen wir nicht plötzlich zugrunde durch einen brutalen Zufall, so sterben wir doch allmählich an einem gewissen schleichenden Gift, an einer Aquatofana, welche uns in den Kelch des Lebens geträufelt worden, der Himmel weiß, von welcher Hand!

Ich schreibe diese Zeilen in den letzten Stunden des scheidenden bösen Jahres. Das neue steht vor der Türe. Möge es minder grausam sein als sein Vorgänger! Ich sende meinen wehmütigsten Glückwunsch zum Neujahr über den Rhein. Ich wünsche den Dummen ein bißchen Verstand und den Verständigen ein bißchen Poesie. Den Frauen wünsche ich die schönsten Kleider und den Männern sehr viel Geduld. Den Reichen wünsche ich ein Herz und den Armen ein Stückchen Brot. Vor allem aber wünsche ich, daß wir in diesem neuen Jahr einander sowenig als möglich verleumden mögen.






© Wolfgang Fricke