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Paris, 7. Mai 1843
Die Gemäldeausstellung erregt dieses Jahr ungewöhnliches Interesse, aber es ist mir unmöglich, über die gepriesenen Vorzüglichkeiten dieses Salons nur ein halbweg vernünftiges Urteil zu fällen. Bis jetzt empfand ich nur ein Mißbehagen sondergleichen, wenn ich die Gemächer des Louvre durchwandelte. Diese tollen Farben, die alle zu gleicher Zeit auf mich loskreischen, dieser bunte Wahnwitz, der mich von allen Seiten angrinst, diese Anarchie in goldnen Rahmen macht auf mich einen peinlichen, fatalen Eindruck. Ich quäle mich vergebens, dieses Chaos im Geiste zu ordnen und den Gedanken der Zeit darin zu entdecken oder auch nur den verwandtschaftlichen Charakterzug, wodurch diese Gemälde sich als Produkte unsrer Gegenwart kundgeben. Alle Werke einer und derselben Periode haben nämlich einen solchen Charakterzug, das Malerzeichen des Zeitgeistes. Zum Beispiel auf der Leinwand des Watteau oder des Boucher oder des Vanloo spiegelt sich ab das graziöse gepuderte Schäferspiel, die geschminkte, tändelnde Leerheit, das süßliche Reifrockglück des herrschenden Pompadourtums: überall hellfarbig bebänderte Hirtenstäbe, nirgends ein Schwert. In entgegengesetzter Weise sind die Gemälde des David und seiner Schüler nur das farbige Echo der republikanischen Tugendperiode, die in den imperialistischen Kriegsruhm überschlägt, und wir sehen hier eine forcierte Begeisterung für das marmorne Modell, einen abstrakten frostigen Verstandesrausch, die Zeichnung korrekt, streng, schroff, die Farbe trüb, hart, unverdaulich: Spartanersuppen. Was wird sich aber unsern Nachkommen, wenn sie einst die Gemälde der heutigen Maler betrachten, als die zeitliche Signatur offenbaren? Durch welche gemeinsame Eigentümlichkeiten werden sich diese Bilder gleich beim ersten Blick als Erzeugnisse aus unsrer gegenwärtigen Periode ausweisen? Hat vielleicht der Geist der Bourgeoisie, der Industrialismus, der jetzt das ganze soziale Leben Frankreichs durchdringt, auch schon in den zeichnenden Künsten sich dergestalt geltend gemacht, daß allen heutigen Gemälden das Wappen dieser neuen Herrschaft aufgedrückt ist? Besonders die Heiligenbilder, woran die diesjährige Ausstellung so reich ist, erregen in mir eine solche Vermutung. Da hängt im langen Saal eine Geißelung, deren Hauptfigur, mit ihrer leidenden Miene, dem Direktor einer verunglückten Aktiengesellschaft ähnlich sieht, der vor seinen Aktionären steht und Rechnung ablegen soll; ja letztere sind auch auf dem Bilde zu sehen, und zwar in der Gestalt von Henkern und Pharisäern, die gegen den Ecce homo schrecklich erbost sind und an ihren Aktien sehr viel Geld verloren zu haben scheinen. Der Maler soll in der Hauptfigur seinen Oheim porträtiert haben. Die Gesichter auf den eigentlich historischen Bildern, welche heidnische und mittelalterliche Geschichten darstellen, erinnern ebenfalls an Kramladen, Börsenspekulation, Merkantilismus, Spießbürgerlichkeit. Da ist ein Wilhelm der Eroberer zu sehen, dem man nur eine Bärenmütze aufzusetzen brauchte, und er verwandelte sich in einen Nationalgardisten, der mit musterhaftem Eifer die Wache bezieht, seine Wechsel pünktlich bezahlt, seine Gattin ehrt und gewiß das Ehrenlegionskreuz verdient. Aber gar die Porträts! Die meisten haben einen so pekuniären, eigennützigen, verdrossenen Ausdruck, den ich mir nur dadurch erkläre, daß das lebendige Original in den Stunden der Sitzung immer an das Geld dachte, welches ihm das Porträt kosten werde, während der Maler beständig die Zeit bedauerte, die er mit dem jämmerlichen Lohndienst vergeuden mußte.
Unter den Heiligenbildern, welche von der Mühe zeugen, die sich die Franzosen geben, recht religiös zu tun, bemerkte ich eine Samaritanerin am Brunnen. Obgleich der Heiland dem feindseligen Stamme der Juden angehört, übt sie dennoch an ihm Barmherzigkeit. Sie bietet dem Durstigen ihren Wasserkrug, und während er trinkt, betrachtet sie ihn mit einem sonderbaren Seitenblick, der ungemein pfiffig und mich an die gescheite Antwort erinnerte, welche einst eine kluge Tochter Schwabens dem Herrn Superintendenten gab, als dieser die Schuljugend im Religionsunterricht examinierte. Er frug nämlich, woran das Weib aus Samaria erkannt hatte, daß Jesus ein Jude war. »An der Beschneidung« – antwortete keck die kleine Schwäbin.
Das merkwürdigste Heiligenbild des Salons ist von Horaz Vernet, dem einzigen großen Meister, welcher dies Jahr ein Gemälde zur Ausstellung geliefert. Das Sujet ist sehr verfänglich, und wir müssen, wo nicht die Wahl, doch gewiß die Auffassung desselben bestimmt tadeln. Dieses Sujet, der Bibel entlehnt, ist die Geschichte Judas und seiner Schwiegertochter Thamar. Nach unsern modernen Begriffen und Gefühlen erscheinen uns beide Personen in einem sehr unsittlichen Lichte. Jedoch nach der Ansicht des Altertums, wo die höchste Aufgabe des Weibes darin bestand, daß sie Kinder gebar, daß sie den Stamm ihres Mannes fortpflanze – (zumal nach der althebräischen Denkweise, wo der nächste Anverwandte die Witwe eines Verstorbenen heiraten mußte, wenn derselbe kinderlos starb, nicht bloß, damit durch solche postume Nachkommenschaft die Familiengüter, sondern damit auch das Andenken der Toten, ihr Fortleben in den Spätergebornen, gleichsam ihre irdische Unsterblichkeit, gesichert werde) –, nach solcher antiken Anschauungsweise war die Handlung der Thamar eine höchst sittliche, fromme, gottgefällige Tat, naiv schön und fast so heroisch wie die Tat der Judith, die unsern heutigen Patriotismusgefühlen schon etwas nähersteht. Was ihren Schwiegervater Juda betrifft, so vindizieren wir für ihn eben keinen Lorbeer, aber wir behaupten, daß er in keinem Falle eine Sünde beging. Denn erstens war die Beiwohnung eines Weibes, das er an der Landstraße fand, für den Hebräer der Vorzeit ebensowenig eine unerlaubte Handlung wie der Genuß einer Frucht, die er von einem Baume an der Straße abgebrochen hätte, um seinen Durst zu löschen; und es war gewiß ein heißer Tag im heißen Mesopotamien, und der arme Erzvater Juda lechzte nach einer Erfrischung. Und dann trägt seine Handlung ganz den Stempel des göttlichen Willens, sie war eine providentielle: ohne jenen großen Durst hätte Thamar kein Kind bekommen; dieses Kind aber wurde der Ahnherr Davids, welcher als König über Juda und Israel herrschte, und es ward also zugleich auch der Stammvater jenes noch größern Königs mit der Dornenkrone, den jetzt die ganze Welt verehrt, Jesus von Nazareth.
Was die Auffassung dieses Sujets betrifft, so will ich, ohne mich in einen allzu homiletischen Tadel einzulassen, dieselbe mit wenigen Worten beschreiben. Thamar, die schöne Person, sitzt an der Landstraße und offenbart bei dieser Gelegenheit ihre üppigsten Reize. Fuß, Bein, Knie usw. sind von einer Vollendung, die an Poesie grenzt. Der Busen quillt hervor aus dem knappen Gewand, blühend, duftig, verlockend, wie die verbotene Frucht im Garten Eden. Mit der rechten Hand, die ebenfalls entzückend trefflich gemalt ist, hält sich die Schöne einen Zipfel ihres weißen Gewandes vors Gesicht, so daß nur die Stirn und die Augen sichtbar. Diese großen schwarzen Augen sind verführerisch wie die Stimme der glatten Satansmuhme. Das Weib ist zu gleicher Zeit Apfel und Schlange, und wir dürfen den armen Juda nicht deswegen verdammen, daß er ihr die verlangten Pfänder: Stab, Ring und Gürtel, sehr hastig hinreicht. Sie hat, um dieselben in Empfang zu nehmen, die linke Hand ausgestreckt, während sie, wie gesagt, mit der rechten das Gesicht verhüllt. Diese doppelte Bewegung der Hände ist von einer Wahrheit, wie sie die Kunst nur in ihren glücklichsten Momenten hervorbringt. Es ist hier eine Naturtreue, die zauberhaft wirkt. Dem Juda gab der Maler eine begehrliche Physiognomie, die eher an einen Faun als an einen Patriarchen erinnern dürfte, und seine ganze Bekleidung besteht in jener weißen wollenen Decke, die seit der Eroberung Algiers auf so vielen Bildern eine große Rolle spielt. Seit die Franzosen mit dem Orient in unmittelbarste Bekanntschaft getreten, geben ihre Maler auch den Helden der Bibel ein wahrhaftes morgenländisches Kostüm. Das frühere traditionelle Idealkostüm ist in der Tat etwas abgenutzt durch dreihundertjährigen Gebrauch, und am allerwenigsten wäre es passend, nach dem Beispiel der Venezianer, die alten Hebräer in einer modernen Tagestracht zu vermummen. Auch Landschaft und Tiere des Morgenlandes behandeln seitdem die Franzosen mit größerer Treue in ihren Historienbildern, und dem Kamele, welches sich auf dem Gemälde des Horaz Vernet befindet, sieht man es wohl an, daß der Maler es unmittelbar nach der Natur kopiert und nicht, wie ein deutscher Maler, aus der Tiefe seines Gemüts geschöpft hat. Ein deutscher Maler hätte vielleicht hier in der Kopfbildung des Kamels, das Sinnige, das Vorweltliche, ja das Alttestamentalische hervortreten lassen. Aber der Franzose hat nur eben ein Kamel gemalt, wie Gott es erschaffen hat, ein oberflächliches Kamel, woran kein einzig symbolisches Haar ist und welches, sein Haupt hervorstreckend über die Schulter des Juda, mit der größten Gleichgültigkeit dem verfänglichen Handel zuschaut. Diese Gleichgültigkeit, dieser Indifferentismus, ist ein Grundzug des in Rede stehenden Gemäldes, und auch in dieser Beziehung trägt dasselbe das Gepräge unsrer Periode. Der Maler tauchte seinen Pinsel weder in die ätzende Böswilligkeit Voltairescher Satire noch in die liederlichen Schmutztöpfe von Parny und Konsorten; ihn leitet weder Polemik noch Immoralität; die Bibel gilt ihm soviel wie jedes andere Buch, er betrachtet dasselbe mit echter Toleranz, er hat gar kein Vorurteil mehr gegen dieses Buch, er findet es sogar hübsch und amüsant, und er verschmäht es nicht, demselben seine Sujets zu entlehnen. In dieser Weise malte er Judith, Rebekka am Brunnen, Abraham und Hagar, und so malte er auch Juda und Thamar, ein vortreffliches Gemälde, das wegen seiner lokalartigen Auffassung ein sehr passendes Altarbild wäre für die Pariser neue Kirche von Notre-Dame de Lorette, im Lorettenquartier.
Horaz Vernet gilt bei der Menge für den größten Maler Frankreichs, und ich möchte dieser Ansicht nicht widersprechen. Jedenfalls ist er der nationalste der französischen Maler, und er überragt sie alle durch das fruchtbare Können, durch die dämonische Überschwenglichkeit, durch die ewig blühende Selbstverjüngung seiner Schöpferkraft. Das Malen ist ihm angeboren wie dem Seidenwurm das Spinnen, wie dem Vogel das Singen, und seine Werke erscheinen wie Ergebnisse der Notwendigkeit. Kein Stil, aber Natur. Fruchtbarkeit, die ans Lächerliche grenzt. Eine Karikatur hat den Horaz Vernet dargestellt, wie er auf einem hohen Rosse, mit einem Pinsel in der Hand, vor einer ungeheuer lang ausgespannten Leinwand hinreitet und im Galopp malt; sobald er ans Ende der Leinwand anlangt, ist auch das Gemälde fertig. Welche Menge von kolossalen Schlachtstücken hat er in der jüngsten Zeit für Versailles geliefert! In der Tat, mit Ausnahme von Österreich und Preußen, besitzt wohl kein deutscher Fürst so viele Soldaten, wie deren Horaz Vernet schon gemalt hat! Wenn die fromme Sage wahr ist, daß am Tage der Auferstehung jeden Menschen auch seine Werke nach der Stätte des Gerichtes begleiten, so wird gewiß Horaz Vernet am Jüngsten Tage in Begleitung von einigen hunderttausend Mann Fußvolk und Kavallerie im Tale Josaphat anlangen. Wie furchtbar auch die Richter sein mögen, die dorten sitzen werden, um die Lebenden und Toten zu richten, so glaube ich doch nicht, daß sie den Horaz Vernet ob der Ungebührlichkeit, womit er Juda und Thamar behandelte, zum ewigen Feuer verdammen werden. Ich glaube es nicht. Denn erstens, das Gemälde ist so vortrefflich gemalt, daß man schon deshalb den Beklagten freisprechen müßte. Zweitens ist der Horaz Vernet ein Genie, und dem Genie sind Dinge erlaubt, die den gewöhnlichen Sündern verboten sind. Und endlich, wer an der Spitze von einigen hunderttausend Soldaten anmarschiert kömmt, dem wird ebenfalls viel verziehen, selbst wenn er zufälligerweise kein Genie wäre.