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(Geschrieben zu Paris, den 22. April 1844)
Was ist der Grund, warum von den Deutschen, die nach Frankreich herübergekommen, sind viele in Wahnsinn verfallen? Die meisten hat der Tod aus der Geistesnacht erlöst; dazu gehören der unglückliche Schubart. Andere sind in Irrenanstalten gleichsam lebendig begraben; viele auch, denen ein Funken von Bewußtsein geblieben, suchen ihren Zustand zu verbergen, und gebärden sich halbweg vernünftig, um nicht eingesperrt zu werden. Dies sind die Pfiffigen; die Dummen können sich nicht lange verstellen. Die Anzahl derer, die mit mehr oder minder lichten Momenten an dem finstern Übel leiden, ist sehr groß, und man möchte fast behaupten, der Wahnsinn sei die Nationalkrankheit der Deutschen in Frankreich. Wahrscheinlich bringen wir den Keim des Gebrestens mit über den Rhein, und auf dem hitzigen Boden, dem glühenden Asphaltpflaster der hiesigen Gesellschaft, gedeiht rasch zur blühendsten Verrücktheit, was in Deutschland lebenslang nur eine närrische Krüppelpflanze geblieben wäre. Oder zeugt es schon von einem hohen Grade des Wahnwitzes, daß man das Vaterland verließ, um in der Fremde »die harten Treppen« auf und ab zu steigen, und das noch härtere Brot des Exils mit seinen Tränen zu feuchten? Und gar jene politische Unzufriedenheit, die dort so manchen aus der heimischen Ruhe vertrieben, ist sie nicht vielleicht einer krankhaften Anschauungsweise zuzuschreiben, die später ganz überschnappen mußte in revolutionäre Wut, wo nicht gar in kommunistische Raserei? In vernünftigen Stunden pflegte ich den Kopf zu schütteln über die Haltlosigkeit der Beklagnisse, womit die Ankömmlinge gegen ihre respektiven Regierungen loszogen. Es ging ihnen zu Hause gar nicht so schlecht, daß sie nicht hätten dort bleiben können. Soviel ich weiß, ist noch niemand in einem deutschen Kerker verhungert. Wie viele dagegen hat Not und Elend hingerafft in der freien Luft, in der luftigen Freiheit des liberalen Frankreichs? Und gar die Seufzer über religiöse Intoleranz sind sie nicht unpassend, seitdem der Dom in Köln ausgebaut wird und jeder Deutsche ohne Unterschied des Glaubens, Christ oder Jude, Katholik oder Protestant, seinen Beitrag dazusteuern kann? Man muß jedoch beileibe nicht glauben, als seien es exzentrische Sturm- und Drang-Naturen, oder gar Freunde des Müßiggangs und der entfesselten Sinnlichkeit, die sich hier in die Abgründe des Irrsinns verlieren – nein, dieses Unglück betraf immer vorzugsweise die honorabelsten Gemüter, die fleißigsten und enthaltsamsten Geschöpfe.
Zu den beklagenswertesten Opfern, die jener Krankheit erlagen, gehört auch unser armer Landsmann Ludwig Marcus. Dieser deutsche Gelehrte, der sich durch Fülle des Wissens ebenso rühmlich auszeichnete, wie durch hohe Sittlichkeit, verdient in dieser Beziehung, daß wir sein Andenken durch einige Worte ehren. Seine Familienverhältnisse und das ganze Detail seiner Lebensumstände sind uns nie genau bekannt gewesen. Soviel ich weiß, ist er geboren zu Dessau im Jahre 1798, von unbemittelten Eltern, die dem gottesfürchtigen Kultus des Judentums anhingen. Er kam Anno 1820 nach Berlin, um Medizin zu studieren, verließ aber bald diese Wissenschaft. Dort zu Berlin sah ich ihn zuerst, und zwar im Kollegium von Hegel, wo er oft neben mir saß und die Worte des Meisters gehörig nachschrieb. Er war damals zweiundzwanzig Jahre alt, doch seine äußere Erscheinung war nichts weniger als jugendlich. Ein kleiner, schmächtiger Leib, wie der eines Jungen von acht Jahren, und im Antlitz eine Greisenhaftigkeit, die wir gewöhnlich mit einem verbogenen Rückgrat gepaart finden. Eine solche Mißförmigkeit aber war nicht an ihm zu bemerken, und eben über diesen Mangel wunderte man sich. Diejenigen, welche den verstorbenen Moses Mendelssohn persönlich gekannt, bemerkten mit Erstaunen die Ähnlichkeit, welche die Gesichtszüge des Marcus mit denen jenes berühmten Weltweisen darboten, der sonderbarerweise ebenfalls aus Dessau gebürtig war. Hätten sich die Chronologie und die Tugend nicht allzu bestimmt für den ehrwürdigen Moses verbürgt, so könnten wir auf einen sehr frivolen Gedanken geraten.
Aber dem Geiste nach war Marcus wirklich ein ganz naher Verwandter jenes großen Reformators der deutschen Juden, und in seiner Seele wohnte ebenfalls die größte Uneigennützigkeit, der duldende Stillmut, der bescheidene Rechtsinn, lächelnde Verachtung des Schlechten, und eine unbeugsame, eiserne Liebe für die unterdrückten Glaubensgenossen. Das Schicksal derselben war, wie bei jenem Moses, auch bei Marcus der schmerzlich glühende Mittelpunkt aller seiner Gedanken, das Herz seines Lebens. Schon damals in Berlin war Marcus ein Polyhistor, er stöberte in allen Bereichen des Wissens, er verschlang ganze Bibliotheken, er verwühlte sich in allen Sprachschätzen des Altertums und der Neuzeit, und die Geographie, im generellsten wie im partikularsten Sinne, war am Ende sein Lieblingsstudium geworden; es gab auf diesem Erdball kein Faktum, keine Ruine, kein Ideom, keine Narrheit, keine Blume, die er nicht kannte – aber von allen seinen Geistesexkursionen kam er immer gleichsam nach Hause zurück zu der Leidensgeschichte Israels, zu der Schädelstätte Jerusalems, um dessentwillen er vielleicht die semitischen Sprachen mit größerer Vorliebe als die andern betrieb. Dieser Zug war wohl der hervorstechend wichtigste im Charakter des Ludwig Marcus, und er gibt ihm seine Bedeutung und sein Verdienst; denn nicht bloß das Tun, nicht bloß die Tatsache der hinterlassenen Leistung gibt uns ein Recht auf ehrende Anerkennung nach dem Tode, sondern auch das Streben selbst, und besonders das unglückliche Streben, das gescheiterte, fruchtlose, aber großmütige Wollen.
Andere werden vielleicht das erstaunliche Wissen, das der Verstorbene in seinem Gedächtnis aufgestapelt hatte, ganz besonders rühmen und preisen; für uns hat dasselbe keinen sonderlichen Wert. Wir konnten überhaupt diesem Wissen, ehrlich gestanden, niemals Geschmack abgewinnen. Alles, was Marcus wußte, wußte er nicht lebendig organisch, sondern als tote Geschichtlichkeit, die ganze Natur versteinerte sich ihm, und er kannte im Grunde nur Fossilien und Mumien. Dazu gesellte sich eine Ohnmacht der künstlerischen Gestaltung, und wenn er etwas schrieb, war es ein Mitleid anzusehen, wie er sich vergebens abmühte, für das Darzustellende die notdürftigste Form zu finden. Ungenießbar, unverdaulich, abstrus waren daher die Artikel und gar die Bücher, die er geschrieben.
Außer einigen linguistischen, astronomischen und botanischen Schriften hat Marcus eine Geschichte der Vandalen in Afrika, und in Verbindung mit dem Professor Duisberg eine nordafrikanische Geographie herausgegeben. Er hinterläßt in Manuskript ein ungeheuer großes Werk über Abyssinien, welches seine eigentliche Lebensarbeit zu sein scheint, da er sich schon zu Berlin mit Abyssinien beschäftigt hatte. Nach diesem Lande zogen ihn wohl zunächst die Untersuchungen über die Falaschas, einen jüdischen Stamm, der lange in den abyssinischen Gebirgen seine Unabhängigkeit bewahrt hat. Ja, obgleich sein Wissen sich über alle Weltgegenden verbreitete, so wußte Marcus doch am besten Bescheid hinter den Mondgebirgen Äthiopens, an den verborgenen Quellen des Nils und seine größte Freude war, den Bruce oder gar den Hasselquist auf Irrtümern zu ertappen. Ich machte ihn einst glücklich, als ich ihn bat, mir aus arabischen und talmudischen Schriften alles zu kompilieren, was auf die Königin von Saba Bezug hat. Dieser Arbeit, die sich vielleicht noch unter meinen Papieren befindet, verdanke ich es, daß ich noch zu heutiger Stunde weiß, weshalb die Könige von Abyssinien sich rühmen, aus dem Stamme David entsprossen zu sein; sie leiten diese Abstammung von dem Besuch her, den ihre Ältermutter, die besagte Königin von Saba, dem weisen Salomon zu Jerusalem abgestattet. Wie ich aus besagter Kompilation ersah, ist diese Dame gewiß ebenso schön gewesen wie die Helena von Sparta. Jedenfalls hat sie ein ähnliches Schicksal nach dem Tode, da es verliebte Rabbinen gibt, die sie durch kabbalistische Zauberkunst aus dem Grabe zu beschwören wissen; nur sind sie manchmal übel daran mit der beschwornen Schönen, die den großen Fehler hat, daß sie, wo sie sich einmal hingesetzt gar zu lange sitzen bleibt. Man kann sie nicht loswerden.
Ich habe bereits angedeutet, daß irgendein Interesse der jüdischen Religion immer letzter Grund und Antrieb war bei den gelehrten Arbeiten des seligen Marcus; inwieweit dergleichen auch bei seinen abyssinischen Studien der Fall war, und wie auch diese ihn ganz frühzeitig in Anspruch genommen, ergibt sich unabweisbar aus einem Artikel, den er schon damals zu Berlin in der »Zeitschrift für Kultur und Wissenschaft des Judentums« abdrucken ließ. Er behandelte nämlich darin die Beschneidung bei den Abyssinierinnen. Wie herzlich lachte der verstorbene Gans, als er mir in jenem Aufsatze die Stelle zeigte, wo der Verfasser den Wunsch aussprach, es möchte jemand diesen Gegenstand bearbeiten, der demselben besser gewachsen sei.
Die äußere Erscheinung des kleinen Mannes, die nicht selten zum Lachen reizte, verhinderte ihn jedoch keineswegs, zu den ehrenwertesten Mitgliedern jener Gesellschaft zu zählen, welche die obenerwähnte Zeitschrift herausgab, und eben unter dem Namen: »Verein für Kultur und Wissenschaft des Judentums« eine hochfliegend große, aber unausführbare Idee verfolgte. Geistbegabte und tiefherzige Männer versuchten hier die Rettung einer längst verlorenen Sache, und es gelang ihnen höchstens, auf den Walstätten der Vergangenheit die Gebeine der älteren Kämpfer aufzufinden. Die ganze Ausbeute jenes Vereins besteht in einigen historischen Arbeiten, in Geschichtsforschungen, worunter namentlich die Abhandlungen des Dr. Zunz über die spanischen Juden im Mittelalter zu den Merkwürdigkeiten der höheren Kritik gezählt werden müssen.
Wie dürfte ich von jenem Vereine reden, ohne diesen vortrefflichen Zunz zu erwähnen, der in einer schwankenden Übergangsperiode immer die unerschütterlichste Unwandelbarkeit offenbarte, und trotz seinem Scharfsinn, seiner Skepsis, seiner Gelehrsamkeit, dennoch treu blieb bei dem selbstgegebenen Worte, der großmütigen Grille seiner Seele. Mann der Rede und der Tat, hat er geschaffen und gewirkt, wo andere träumten und mutlos hinsanken.
Ich kann nicht umhin, auch hier meinen lieben Bendavid zu erwähnen, der mit Geist und Charakterstärke eine großartig urbane Bildung vereinigte und, obgleich schon hochbejahrt, an den jugendlichsten Irrgedanken des Vereins teilnahm. Er war ein Weiser nach antikem Zuschnitt, umflossen von Sonnenlicht griechischer Heiterkeit, ein Standbild der wahrsten Tugend, und pflichtgehärtet wie der Marmor des kategorischen Imperativs seines Meisters Immanuel Kant. Bendavid war zeit seines Lebens der eifrigste Anhänger der Kantischen Philosophie, für diese litt er in seiner Jugend die größten Verfolgungen, und dennoch wollte er sich nie trennen von der alten Gemeinde des mosaischen Bekenntnisses, er wollte nie die äußere Glaubenskokarde ändern, obgleich er selber gar nichts glaubte und keine Überzeugung zu verleugnen brauchte. Aber schon der Schein einer solchen Verleugnung erfüllte ihn mit Widerwillen, mit Ekel und er scheute nicht nur den wirklichen Flecken, sondern auch den bloßen Schatten, den eine zweideutige Handlung auf seine Ehre werfen mochte. Lazarus Bendavid war, wie gesagt, ein eingefleischter Kantianer, und ich habe damit auch die Schranken seines Geistes angedeutet. Wenn wir von Hegelscher Philosophie sprachen, schüttelte er sein kahles Haupt und sagte, das sei Aberglaube. Er schrieb ziemlich gut, sprach aber viel besser. Für die Zeitschrift des Vereins lieferte er einen merkwürdigen Aufsatz über den Messiasglauben bei den Juden, worin er mit kritischem Scharfsinn zu beweisen suchte, daß der Glaube an einen Messias durchaus nicht zu den Fundamentalartikeln der jüdischen Religion gehörte und nur als zufälliges Beiwerk zu betrachten sei.
Das tätigste Mitglied des Vereins, die eigentliche Seele desselben, war M. Moser, der vor einigen Jahren starb, aber schon im jugendlichsten Alter als einer der größten Gelehrten Deutschlands betrachtet werden konnte und nicht bloß die gründlichsten Kenntnisse in allen Wissenschaften besaß, sondern auch durchglüht war von dem großen Mitleid für die Menschheit, von der Sehnsucht, das Wissen zu verwirklichen in heilsamer Tat. Er war unermüdlich in philanthropischen Bestrebungen, er war sehr praktisch und hat in scheinloser Stille an allen Liebeswerken gearbeitet. Das große Publikum hat von seinem Tun und Schaffen nichts erfahren, er focht und blutete inkognito, sein Name ist ganz unbekannt geblieben und steht nicht eingeschrieben im Martyrologium, in dem Adreßkalender der Tagesopfer.
Solcher anonymer Martyrer gab es zu jeder Zeit unter den Juden, und nicht ohne Rührung lasen wir jüngst in den »Archives Israelites«, die der verdienstvolle Bibelübersetzer Cohen herausgibt, folgende Legende aus der mittelalterlichen Nachtzeit:
In der Stadt Metz erhob sich gegen die Juden die Beschuldigung, sie hätten eine Hostie gestohlen und gemartert bis zum Bluten, und sie wurden nun insgesamt aufgefordert, die Täter auszuliefern, widrigenfalls das erzürnte Volk Rache nehmen würde an der ganzen Gemeinde. Diese trauerte nun in Sack und Asche, jeden Augenblick des mörderischen Überfalls gewärtig, als plötzlich zwei wildfremde Männer, die sich für Glaubensgenossen aus fernen Landen ausgaben, unter die Trauernden erschienen, sich die Ursache der allgemeinen Not erzählen ließen und bescheidentlich erboten, ihr eigenes Leben zu opfern für das Heil der Gemeinde. Mit Unerschrockenheit überlieferten sie sich den Henkern als Urheber des vermeintlichen Frevels und starben unter großen Qualen, ohne ihren Namen genannt zu haben. Niemand hat je erfahren, wer sie gewesen und in der Synagoge von Metz wird ihr Andenken bis auf heutigen Tag gefeiert durch eine Gedächtnislampe, welche die der unbekannten Martyrer heißt. Die meisten Juden, dumm wie sie sind, glauben nun freilich, es seien Engel gewesen. Nein es waren Menschen, mit einem wahrhaft Herzen in der Brust, und es sind nicht die letzten gewesen, die solchermaßen inkognito geblutet als Opfer des Pöbelwahns, zum Besten einer Gemeinde. Wie viele dieser bleichen Schar sah ich gemartert hinsinken, in den letzten Jahren.
Die Sonne ist ein schöner Stern, auch der Mond glänzt in vorzüglicher Pracht, insgleichen hat man Diamanten und Perlen von großem Werte – aber herrlicher als Sonne und Mond, als alle Edelsteine und Perlen Hindostans ist das Herz eines Menschen!
Der Nekrolog des verstorbenen Marcus leitete mich unwillkürlich zu dem Nekrolog des Vereins, zu dessen ehrenwertesten Mitgliedern er gehörte, und als dessen Präsident der schon erwähnte, jetzt ebenfalls verstorbene Eduard Gans sich geltend machte. Dieser hochbegabte Mann kann am wenigsten in bezug auf bescheidene Selbstaufopferung, auf anonymes Märtyrertum gerühmt werden. Ja, wenn auch seine Seele sich rasch und weit erschloß für alle Heilsfragen der Menschheit, so ließ er doch selbst im Rausche der Begeisterung niemals die Personalinteressen außer acht. Eine witzige Dame, zu welcher Gans oft des Abends zu Tee kam, machte die richtige Bemerkung, daß er während der eifrigsten Diskussion und trotz seiner großen Zerstreutheit dennoch, nach dem Teller der Butterbröde hinlangend, immer diejenige Butterbröde ergreife, welche nicht mit gewöhnlichem Käse, sondern mit frischem Lachs bedeckt waren.
Die Verdienste des verstorbenen Gans um deutsche Wissenschaft sind allgemein bekannt. Er war einer der rührigsten Apostel der Hegelschen Philosophie, und soweit er sie verstand, vulgarisierte er dessen Schriften elegant, und in der Rechtsgelahrtheit kämpfte er zermalmend gegen jene Lakaien des altrömischen Rechts, welche, ohne Ahnung von dem Geiste, der in der alten Gesetzgebung einmal lebte, nur damit beschäftigt sind, die hinterlassene Garderobe derselben auszustäuben, von Motten zu säubern, oder gar zu modernem Gebrauche zurechtzuflicken. Gans fuchtelte solchen Servilismus selbst in seiner elegantesten Livree. Wie wimmert unter seinen Fußtritten die arme Seele des Herrn von Savigny! Mehr noch durch Wort als durch Schrift förderte Gans die Entwicklung des deutschen Freiheitssinnes, er entfesselte die gebundensten Gedanken und riß der Lüge die Larve ab. Er war ein beweglicher Feuergeist, dessen Witzfunken vortrefflich zündeten, oder wenigstens herrlich leuchteten. Aber den trübsinnigen Ausspruch des Dichters (im zweiten Teile des »Faust«)
dieses fatale Wort müssen wir auch auf das Verhältnis der Genialität zur Tugend anwenden, diese beiden leben ebenfalls in beständigem Hader und kehren sich manchmal verdrießlich den Rücken. Mit Bekümmernis muß ich hier erwähnen, daß Gans in bezug auf den erwähnten Verein für Kultur und Wissenschaft des Judentums nichts weniger als tugendhaft handelte, und sich die unverzeihlichste Felonie zuschulden kommen ließ. Sein Abfall war um so widerwärtiger, da er die Rolle eines Agitators gespielt und bestimmte Präsidialpflichten übernommen hatte. Es ist hergebrachte Pflicht, daß der Kapitän immer der letzte sei, der das Schiff verläßt, wenn dasselbe scheitert – Gans aber rettete sich zuerst. Wahrlich in moralischer Beziehung hat der kleine Marcus den großen Gans überragt, und er konnte hier ebenfalls beklagen, daß Gans seiner Aufgabe nicht besser gewachsen war.
Wir haben die Teilnahme des Marcus an dem Verein für Kultur und Wissenschaft des Judentums als einen Umstand bezeichnet, der uns wichtiger und merkwürdiger erschien, als all sein stupendes Wissen und seine sämtlichen gelehrten Arbeiten. Ihm selber mag ebenfalls die Zeit, wo er den Bestrebungen und Illusionen jenes Vereins sich hingab, als die sonnigste Blütenstunde seines kümmerlichen Lebens erschienen sein. Deshalb mußte hier jenes Vereins ganz besonders Erwähnung geschehen, und eine nähere Erörterung seines Gedankens wäre wohl nicht überflüssig. Aber der Raum und die Zeit und ihre Hüter gestatten in diesen Blättern keine solche ausgeführte Darstellung, da letztere nicht bloß die religiösen und bürgerlichen Verhältnisse der Juden, sondern auch die aller deistischen Sekten auf diesem Erdball umfassen müßte. Nur so viel will ich hier aussprechen, daß der esoterische Zweck jenes Vereins nichts anderes war, als eine Vermittlung des historischen Judentums mit der modernen Wissenschaft, von welcher man annahm, daß sie im Laufe der Zeit zur Weltherrschaft gelangen würde. Unter ähnlichen Umständen, zur Zeit des Philo, als die griechische Philosophie allen alten Dogmen den Krieg erklärte, ward in Alexandrien Ähnliches versucht, mit mehr oder weniger Mißgeschick. Von schismatischer Aufklärung war hier nicht die Rede, und noch weniger von jener Emanzipation, die in unsern Tagen manchmal so ekelhaft geistlos durchgeträtscht wird, daß man das Interesse dafür verlieren könnte. Namentlich haben es die israelitischen Freunde dieser Frage verstanden, sie in eine wäßrig graue Wolke von Langweiligkeit zu hüllen, die ihr schädlicher ist, als das blödsinnige Gift der Gegner. Da gibt es gemütliche Pharisäer, die noch besonders damit prahlen, daß sie kein Talent zum Schreiben besitzen und dem Apollo zum Trotz für Jehova die Feder ergriffen haben. Mögen die deutschen Regierungen doch recht bald ein ästhetisches Erbarmen mit dem Publikum haben, und jenen Salbadereien ein Ende machen durch Beschleunigung der Emanzipation, die doch früh oder spät bewilligt werden muß.
Ja, die Emanzipation wird früh oder spät bewilligt werden müssen, aus Gerechtigkeitsgefühl, aus Klugheit, aus Notwendigkeit. Die Antipathie gegen die Juden hat bei den obern Klassen keine religiöse Wurzel mehr, und bei den untern Klassen transformiert sie sich täglich mehr und mehr in den sozialen Groll gegen die überwuchernde Macht des Kapitals, gegen die Ausbeutung der Armen durch die Reichen. Der Judenhaß hat jetzt einen andern Namen, sogar beim Pöbel. Was aber die Regierungen betrifft, so sind sie endlich zur hochweisen Ansicht gelangt, daß der Staat ein organischer Körper ist, und daß derselbe nicht zu einer vollkommenen Gesundheit gelangen kann, solange ein einziges seiner Glieder, und sei es auch nur der kleine Zeh, an einem Gebreste leidet. Ja, der Staat mag noch so keck sein Haupt tragen und mit breiter Brust allen Stürmen trotzen, das Herz in der Brust, und sogar das stolze Haupt wird dennoch den Schmerz mitempfinden müssen, wenn der kleine Zeh an den Hühneraugen leidet – die Judenbeschränkungen sind solche Hühneraugen an den deutschen Staatsfüßen.
Und bedächten gar die Regierungen, wie entsetzlich der Grundpfeiler aller positiven Religionen, die Idee des Deismus selbst, von neuen Doktrinen bedroht ist, wie die Fehde zwischen dem Wissen und dem Glauben überhaupt nicht mehr ein zahmes Scharmützel, sondern bald eine wilde Todesschlacht sein wird – bedächten die Regierungen diese verhüllten Nöten, sie müßten froh sein, daß es noch Juden auf der Welt gibt, daß die Schweizergarde des Deismus, wie der Dichter sie genannt hat, noch auf den Beinen steht, daß es noch ein Volk Gottes gibt. Statt sie von ihrem Glauben durch gesetzliche Beschränkungen abtrünnig zu machen, sollte man sie noch durch Prämien darin zu stärken suchen, man sollte ihnen auf Staatskosten ihre Synagogen bauen, damit sie nur hineingehen, und das Volk draußen sich einbilden mag, es werde in der Welt noch etwas geglaubt. Hütet euch, die Taufe unter den Juden zu befördern. Das ist eitel Wasser und trocknet leicht. Befördert vielmehr die Beschneidung, das ist der Glauben, eingeschnitten ins Fleisch; in den Geist läßt er sich nicht mehr einschneiden. Befördert die Zeremonie der Denkriemen, womit der Glaube festgebunden wird auf den Arm; der Staat sollte den Juden gratis das Leder dazu liefern, sowie auch das Mehl zu Matzekuchen, woran das gläubige Israel schon drei Jahrtausende knuspert. Fördert, beschleunigt die Emanzipation, damit sie nicht zu spät komme und überhaupt noch Juden in der Welt antrifft, die den Glauben ihrer Väter dem Heil ihrer Kinder vorziehen. Es gibt ein Sprichwort: Während der Weise sich besinnt, besinnt sich auch der Narr.
Aber die deutsche Nationalität wird sie nicht Schaden leiden durch die gänzliche Verschmelzung mit den Juden? Unsere Nationalisten, sogenannte Patrioten, die nur Rasse und Vollblut und dergleichen Roßkammgedanken im Kopfe tragen, diese Nachzügler des Mittelalters werden bald mit Gegnern zusammentreffen, die allen ihren Träumen von germanischer, romanischer und slawischer Volkstümlichkeit ein schreckliches Ende machen dürften, so daß es ihnen nicht mehr in den Sinn kommen wird, an der Deutschheit der Juden zu mäkeln. Ich spreche hier namentlich von jener Verbrüderung der Arbeiter in allen Ländern, von dem wilden Heer des Proletariats, das alles Nationalitätenwesen vertilgen will, um einen gemeinschaftlichen Zweck in ganz Europa zu verfolgen, die Verwirklichung der wahren Demokratie. Aber gibt es in der Tat eine so große Nationalverschiedenheit zwischen den deutschen Juden, die seit anderthalb Jahrtausenden in Deutschland angesiedelt und ihren christlichen Landsleuten? Wahrlich nein. Merkwürdigerweise herrschte schon in den ältesten Zeiten die größte Wahlverwandtschaft zwischen Juden und Germanen, und in Vergleichung mit den Nachbarländern erschien mir Judäa immer als eine Art Deutschland, ich möchte fast sagen als die Mark Brandenburg des Orients. Wunderbare Übereinstimmung in der Sinnesart bei beiden Völkern: der tapferste Haß gegen Rom, persönliches Freiheitsgefühl, Sittlichkeit. Auch haben die Germanen den jüdischen Spiritualismus am gründlichsten in sich aufgenommen; sogar die Geschichtsurkunden der Juden, die Bibel, wurde das Nationalbuch im germanischen Norden, ging über in Fleisch und Blut, gab dort dem innern und äußern Leben sein eigentümliches Gepräge – und die Leute, die von den Spuren des Morgenländischen bei den Juden sprechen, bemerken gar nicht die alttestamentalische echt jüdische Physiognomie des germanischen Nordens in Europa und Amerika.
Die bevorstehenden Betrachtungen knüpfen sich natürlich an die Person, die ich hier zu besprechen hatte, und die, wie ich schon bemerkt, weniger durch individuelle Bedeutung, als vielmehr durch historische und moralische Bezüge, unser Interesse in Anspruch nimmt. Ich kann auch aus eigener Anschauung nur Geringfügiges berichten über das äußere Leben unseres Marcus, den ich zu Berlin bald aus dem Auge verlor. Wie ich hörte, war er nach Frankreich gewandert, da er trotz seines außerordentlichen Wissens und seiner hohen Sittlichkeit, dennoch in den Überbleibseln mittelalterlicher Gesetze ein Hindernis der Beförderung im Vaterlande fand. Seine Eltern waren gestorben und aus Großmut hatte er zum Besten seiner hilfsbedürftigen Geschwister auf die Verlassenschaft verzichtet. Etwa fünfzehn Jahre vergingen, und ich hatte lange nichts mehr gehört, weder von Ludwig Marcus noch von der Königin von Saba, weder von Hasselquist, noch von den beschnittenen Abyssinierinnen, da trat mir eines Tages der kleine Mann hier zu Paris wieder entgegen und erzählte mir, daß er unterdessen Professor in Dijon gewesen, jetzt aber einer ministeriellen Unbill wegen die Professur aufgegeben habe und hier schreiben wollte, um die Hilfsquellen der Bibliothek für sein großes Werk zu benützen. Wie ich von andern hörte, war ein bißchen Eigensinn im Spiel, und das Ministerium hatte ihm sogar vorgeschlagen, wie in Frankreich gebräuchlich, seine Stelle durch einen wohlfeiler besoldeten Suppleanten zu besetzen und ihm selber den größten Teil seines Gehalts zu lassen. Dagegen sträubte sich die große Seele des Kleinen, er wollte nicht fremde Arbeit ausbeuten, und er ließ seinem Nachfolger die ganze Besoldung. Seine Uneigennützigkeit ist hier um so merkwürdiger, da er damals blutarm in rührender Dürftigkeit sein Leben fristete. Es ging ihm sogar sehr schlecht, und ohne die Engelhilfe einer schönen Frau wäre er gewiß im darbenden Elend verkommen. Ja, es war eine sehr schöne und große Dame von Paris, eine der glänzendsten Erscheinungen des hiesigen Weltlebens, die, als sie von dem wunderlichen Kauz hörte, in die Dunkelheit seines kümmerlichen Lebens hinabstieg, und mit anmutiger Zartsinnigkeit ihn dahin zu bringen wußte, einen bedeutenden Jahrgehalt von ihr anzunehmen. Ich glaube, seinen Stolz zähmte hier ganz besonders die Aussicht, daß seine Gönnerin, die Gattin des reichsten Bankiers dieses Erdballs, späterhin sein großes Werk auf ihre Kosten drucken lassen werde. Einer Dame, dachte er, die wegen ihres Geistes und ihrer Bildung so viel gerühmt wird, müsse doch sehr viel daran gelegen sein, daß endlich eine gründliche Geschichte von Abyssinien geschrieben werde, und er fand es ganz natürlich, daß sie dem Autor durch einen Jahrgehalt seine große Mühe und Arbeit zu vergüten suchte.
Die Zeit, während welcher ich den guten Marcus nicht gesehen, etwa fünfzehn Jahre, hatte auf sein Äußeres eben nicht verschönernd gewirkt. Seine Erscheinung, die früher ans Possierliche streifte, war jetzt eine entschiedene Karikatur geworden, aber eine angenehme, liebliche, ich möchte fast sagen: erquickende Karikatur. Ein spaßhaft wehmütiges Ansehen gab ihm sein von Leiden durchfurchtes Greisengesicht, worin die kleinen, pechschwarzen Äuglein vergnügt lebhaft glänzten, und gar sein abenteuerlicher, fabelhafter Haarwuchs! Die Haare nämlich, welche früher pechschwarz und anliegend gewesen, waren jetzt ergraut, und umgaben in krauser aufgesträubter Fülle das schon außerdem unverhältnismäßig große Haupt. Er glich so ziemlich jenen breitköpfigen Figuren mit dünnem Leibchen, und kurzen Beinchen, die wir auf den Glasscheiben eines chinesischen Schattenspiels sehen. Besonders wenn mir die zwerghafte Gestalt in Gesellschaft seines Kollaborators, des ungeheuer großen und stattlichen Professors Duisberg, auf den Boulevards begegnete, jauchzte mir der Humor in der Brust. Einem meiner Bekannten, der mich frug, wer der Kleine wäre, sagte ich, es sei der König von Abyssinien, und dieser Name ist ihm bis an sein Ende geblieben. Hast du mir deshalb gezürnt, teurer, guter Marcus? Für deine schöne Seele hätte der Schöpfer wirklich eine bessere Enveloppe erschaffen können. Der liebe Gott ist aber zu sehr beschäftigt; manchmal, wenn er eben im Begriff ist, der edlen Perle eine prächtig ziselierte Goldfassung zu verleihen, wird er plötzlich gestört, und er wickelt das Juwel geschwind in das erste, beste Stück Fließpapier oder Läppchen – anders kann ich mir die Sache nicht erklären.
Ungefähr fünf Jahre lebte Marcus im weisesten Seelenfrieden zu Paris; es ging ihm gut, ja sogar einer seiner Lieblingswünsche war in Erfüllung gegangen: er besaß eine kleine Wohnung mit eigenen Möbeln, und zwar in der Nähe der Bibliothek! Ein Verwandter, ein Schwestersohn, besuchte ihn hier eines Abends und kann sich nicht genug darüber wundern, daß der Oheim sich plötzlich auf die Erde setzt und mit wilder, trotziger Stimme die scheußlichsten Gassenlieder zu singen beginnt. Er, der nie gesungen, und in Wort und Ton immer die Keuschheit selbst war! Aber die Sache ward noch grauenhaft befremdlicher als der Oheim zornig emporsprang, das Fenster aufstieß und erst seine Uhr zur Straße hinabschmiß, dann seine Manuskripte, Tintenfaß, Federn, seine Geldbörse. Als der Neffe sah, daß der Oheim das Geld zum Fenster hinauswarf, konnte er nicht länger an seinem Wahnsinn zweifeln. Der Unglückliche ward in die Heilanstalt des Dr. Pinel zu Chaillot gebracht, wo er nach vierzehn Tagen unter schauerhaften Leiden den Geist aufgab. Er starb am 15. Julius, und ward am 17. auf dem Kirchhof Montmartre begraben. Ich habe leider seinen Tod zu spät erfahren, als daß ich ihm die letzte Ehre erweisen konnte. Indem ich heute diese Blätter seinem Andenken widme, wollte ich das Versäumte nachholen und gleichsam im Geiste an seinem Leichenbegräbnis teilnehmen.
Jetzt aber öffnet mir noch einmal den Sarg, damit ich nach altem Brauch den Toten um Verzeihung bitte für den Fall, daß ich ihn etwa im Leben beleidigt. – Wie ruhig der kleine Marcus jetzt aussieht! Er scheint darüber zu lächeln, daß ich seine gelehrten Arbeiten nicht besser gewürdigt habe. Daran mag ihm wenig gelegen sein, denn hier bin ich ja doch kein so kompetenter Richter wie etwa sein Freund S. Munk, Orientalist, der mit einer umfassenden Biographie des Verstorbenen und mit der Herausgabe seiner hinterlassenen Werke beschäftigt sein soll.
Da ich mich immer einer guten Gesinnung und eines ebenso guten Stiles beflissen, so genieße ich die Genugtuung, daß ich es wagen darf, unter dem anspruchvollen Namen »Denkworte« die vorstehenden Blätter hier mitzuteilen, obgleich sie anonym für das Tagesbedürfnis der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« bereits vor zehn Jahren geschrieben worden. Seit jener Zeit hat sich vieles in Deutschland verändert, und auch die Frage von der bürgerlichen Gleichstellung der Bekenner des mosaischen Glaubens, die gelegentlich in obigen Blättern besprochen ward, hat seitdem sonderbare Schicksale erlitten. Im Frühling des Jahres 1848 schien sie auf immer erledigt, aber wie mit so vielen andern Errungenschaften aus jener Blütezeit deutscher Hoffnung, mag es jetzt in unsrer Heimat auch mit besagter Frage sehr rückgängig aussehen, und an manchen Orten soll sie sich wieder, wie man mir sagt, im schmachvollsten statu quo befinden. Die Juden dürften endlich zur Einsicht gelangen, daß sie erst dann wahrhaft emanzipiert werden können, wenn auch die Emanzipation der Christen vollständig erkämpft und sichergestellt worden. Ihre Sache ist identisch mit der des deutschen Volks, und sie dürfen nicht als Juden begehren, was ihnen als Deutschen längst gebührte.
Ich habe in obigen Blättern angedeutet, daß sich der Gelehrte S. Munk mit einer Herausgabe der hinterlassenen Schriften des seligen Marcus beschäftigen werde. Leider ist dieses jetzt unmöglich, da jener große Orientalist an einem Übel leidet, das ihm nicht erlaubt, sich einer solchen Arbeit zu unterziehen; er ist nämlich seit zwei Jahren gänzlich erblindet. Ich vernahm erst kürzlich dieses betrübsame Ereignis, und erinnere mich jetzt, daß der vortreffliche Mann trotz bedenklicher Symptome sein leidendes Gesicht nie schonen wollte. Als ich das letzte Mal die Ehre hatte ihn auf der Königlichen Bibliothek zu sehen, saß er vergraben in einem Wust von arabischen Manuskripten, und es war schmerzlich anzusehen, wie er seine kranken blassen Augen mit der Entzifferung des phantastisch geschnörkelten Abrakadabra anstrengte. Er war Kustos in besagter Bibliothek, und er ist jetzt nicht mehr imstande, dieses kleine Amt zu verwalten. Hauptsächlich mit dem Ertrag seiner literarischen Arbeiten bestritt er den Unterhalt einer zahlreichen Familie. Blindheit ist wohl die härteste Heimsuchung, die einen deutschen Gelehrten treffen kann. Sie trifft diesmal die bravste Seele, die gefunden werden mag; Munk ist uneigennützig bis zum Hochmut, und bei all seinem reichen Wissen von einer rührenden Bescheidenheit. Er trägt gewiß sein Schicksal mit stoischer Fassung und religiöser Ergebung in den Willen des Herrn.
Aber warum muß der Gerechte so viel leiden auf Erden? Warum muß Talent und Ehrlichkeit zugrunde gehen, während der schwadronierende Hanswurst, der gewiß seine Augen niemals durch arabische Manuskripte trüben mochte, sich räkelt auf den Pfühlen des Glücks und fast stinkt vor Wohlbehagen? Das Buch Hiob löst nicht diese böse Frage. Im Gegenteil, dieses Buch ist das Hohelied der Skepsis, und es zischen und pfeifen darin die entsetzlichen Schlangen ihr ewiges: Warum? Wie kommt es, daß bei der Rückkehr aus Babylon die fromme Tempelarchiv-Kommission, deren Präsident Esra war, jenes Buch in den Kanon der heiligen Schriften aufgenommen? Ich habe mir oft diese Frage gestellt. Nach meinem Vermuten taten solches jene gotterleuchteten Männer nicht aus Unverstand, sondern weil sie in ihrer hohen Weisheit wohl wußten, daß der Zweifel in der menschlichen Natur tief begründet und berechtigt ist, und daß man ihn also nicht täppisch ganz unterdrücken, sondern nur heilen muß. Sie verfuhren bei dieser Kur ganz homöopathisch, durch das Gleiche auf das Gleiche wirkend, aber sie gaben keine homöopathisch kleine Dosis, sie steigerten vielmehr dieselbe aufs ungeheuerste, und eine solche überstarke Dosis von Zweifel ist das Buch Hiob; dieses Gift durfte nicht fehlen in der Bibel, in der großen Hausapotheke der Menschheit. Ja, wenn der Mensch, wenn er leidet, sich ausweinen muß, so muß er sich auch auszweifeln, wenn er sich grausam gekränkt fühlt in seinen Ansprüchen auf Lebensglück; und wie durch das heftigste Weinen, so entsteht auch durch den höchsten Grad des Zweifels, den die Deutschen so richtig die Verzweiflung nennen, die Krisis der moralischen Heilung. – Aber wohl demjenigen, der gesund ist und keiner Medizin bedarf!