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Der folgende Vortrag wurde am 17. Februar 2006 auf Einladung der Goethe-Gesellschaft in Bergisch Gladbach e.V. im Rathaus Bergisch Gladbach gehalten. Heines Werke und Briefe werden nach der Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA), der Heine-Säkularausgabe (HSA) und der von Klaus Briegleb herausgegebenen Werkausgabe (B) zitiert. Vor allem in den biographischen Passagen wurde, ohne in jedem einzelnen Fall die Belegstellen nachzuweisen, auf grundlegende Arbeiten dankbar zurückgegriffen. Genannt seien die Heine-Biographien von Christian Liedtke und von Jan-Christoph Hauschild und Michael Werner, Gerhard Höhns Heine-Handbuch und die von Bernd Füllner und Christian Liedtke zusammengestellte Auswahl der Briefe Heines.
Paris, Avenue Matignon, eine Seitenstraße der Champs Elysées, Hausnummer 3. Eine vornehme Wohnstraße, deren Fronten in Richtung auf die Place de la Concorde und den Tuillerien-Garten blicken. Eine Wohnung im fünften Stock (wo die Miete schon ein wenig erschwinglicher war), 105 Stufen hoch, wie ein gewissenhafter Besucher gezählt und dem neugierigen deutschen Lesepublikum mitgeteilt hat. Helle, luftige Räume, mit einem schattigen Balkon, der den Blick auf das Straßenleben in diesem bevorzugten Wohnviertel des gehobenen Bürgertums zuließ. Februar 1856. Hier lebt, hier stirbt der Dichter Heinrich Heine, seit Mai 1831 in Paris, seit Anfang 1848 gelähmt und bettlägerig, seit November 1854, weil die hohen Honorare der letzten deutschen Buchveröffentlichungen und der französischen Gesamtausgabe seiner Werke den Umzug ermöglichten, in der Wohnung nahe der Champs Elysées. Elise Krinitz, die „Mouche“, die Begleiterin der letzten Lebensmonate und Heines letzte, notgedrungen platonische Liebe, besucht Heine am Mittwoch, dem 13. Februar, zum letzten Mal. Am nächsten Tag sollte sie wiederkommen, doch der Dichter sendet ihr seine vermutlich letzten Zeilen überhaupt: „Liebste! / Komme heute (Donnerstag) nicht. Ich habe die entsetzlichste Migraine. Komm morgen (Freytag) / Dein leidender / H. H.“ (HSA XXIII, 482). Am Freitag ist Elise Krinitz, selbst noch von einer überstandenen Erkrankung geschwächt, nicht in der Lage, Heine zu besuchen. Am Samstag, dem 16. Februar 1856, geht es Heine so schlecht, daß die Mouche nicht mehr vorgelassen wird. Dr. Gruby, Heines Arzt in Paris, verordnet verschiedene Medikamente und Eisumschläge auf den Magen, aber am Abend weist Heine jede weitere Arznei zurück. Von Heinrich Heines letzter Nacht, der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1856, berichtet seine Krankenpflegerin Catherine Bourlois einige Wochen später in einem Brief an Heines Schwester Charlotte Embden:
In der letzten Nacht sagte er immer wieder, wie schon in der Nacht von Freitag: „Es ist aus.“ Während dieser schrecklichen Nacht hatte ich eine Wache mit mir, und ich ging Fräulein Pauline wecken [die Gesellschafterin von Heines Ehefrau Mathilde]; als ich das Ende nahe sah, hätte ich gerne Frau Heine gerufen, aber der geringste Lärm konnte die letzten Augenblicke des Sterbenden verschlimmern, und ich fürchtete die Wirkung, die der Tod des Gatten auf eine Frau ausüben muß; indessen lief Pauline im allerletzten Augenblick zu Frau Heine, und ich hatte gerade noch die Zeit, ihr auf der Türschwelle zuzurufen: „Es ist vorbei!“
Eine Viertelstunde vor seinem Tode war Herr Heine noch bei vollem Bewußtsein. Ich habe ihm fortwährend Mut gemacht und ihn nach meinem Besten getröstet, aber er wie wir sahen, daß die Medikamente keine Besserung mehr hervorriefen. […] Ich füge hinzu, daß mich mein Herr am Samstag Nachmittag von 4 bis 5 dreimal zu sich rief und mich schreiben hieß – – – aber da ich den Sinn seiner Worte nicht verstand und ihn nicht wiederholen lassen wollte, antwortete ich: „Ja“. Kurz darauf sagte ich zu ihm: „Wenn Ihre Brechanfälle aufhören, werden Sie selbst schreiben“, und er entgegnete: „Ich werde sterben.“ (Begegnungen mit Heine, Bd. 2, S. 475 f.)
Am 17. Februar 1856, Sonntags gegen fünf Uhr in der Frühe, stirbt Heinrich Heine, nicht einmal 60 Jahre alt. Was er seiner Pflegerin wenige Stunden zuvor diktieren wollte, wissen wir nicht. Es werden, da sie ihn nicht verstand, vermutlich deutsche Worte gewesen sein. Das letzte, was Heine schrieb, war möglicherweise die kurze Nachricht an Elise Krinitz, ihn am Donnerstag nicht zu besuchen. Oder jene Zeilen, die Heine an Alexander von Humboldt in Berlin schrieb, und auf deren Rückseite Humboldt notierte: „Das letzte, was ich von Heine erhalten. Februar 1856“ (HSA XXIII K, 257). Sie lauteten: „Dem großen Alexandros sendet seinen letzten Gruß der sterbende / H. Heine.“ (HSA XXIII, 482) Wohl nicht authentisch ist die Anekdote, die die Brüder Goncourt in ihren Tagebüchern kolportieren: „[Frédéric] Baudry erzählt uns den hübschen Ausspruch Heines auf seinem Sterbebett. Seine Frau betete an seiner Seite zu Gott, er möge ihrem Mann vergeben. Darauf Heine: ‚Keine Angst, meine Liebe, er wird mir vergeben; das ist sein Beruf.‘“. (Begegnungen mit Heine, Bd. 2, S. 492)
Die Beerdigung fand am 20. Februar 1856 statt. Etwa hundert Menschen waren bei der schlichten Feier auf dem Friedhof Montmartre zugegen, darunter die Schriftsteller Alexandre Dumas der Ältere und Théophile Gautier. Die Familie Heines war lediglich durch den Mann einer Cousine vertreten. Jegliches religiöses Zeremoniell hatte sich Heine testamentarisch ebenso verbeten wie Ansprachen und Reden. In einer frühen Fassung des Testaments heißt es:
Ich verordne, daß mein Leichenbegängniß so einfach sey und so wenig kostspielig wie das des gringsten Mannes im Volke. Sterbe ich zu Paris, so will ich auf dem Kirchhofe des Montmartre begraben werden, auf keinem andern, denn unter der Bevölkerung des Faubourg Montmartre habe ich mein liebstes Leben gelebt. Obgleich ich der lutherisch protestantischen Confession angehöre (wenigstens offiziell) so wünsche ich doch in jenem Theile des Kirchhofs beerdigt zu werden, welcher den Bekennern des römisch katholischen Glaubens angewiesen ist, damit die irdischen Reste meiner Frau, die dieser Religion mit großem Eifer zugethan ist, einst neben den meinigen ruhen können […].
Meiner edlen und hochherzigen Mutter, die so viel für mich gethan, so wie auch meinen theuren Geschwistern, mit denen ich im ungetrübtesten Einverständnisse gelebt, sage ich ein letztes Lebewohl! Leb wohl, auch Du, deutsche Heimath, Land der Rätsel und der Schmerzen; werde hell und glücklich. Lebt wohl Ihr geistreichen, guten Franzosen, die ich so sehr geliebt habe! Ich danke Euch für Eure heitre Gastfreundschaft. (DHA XV, 205 f.)
Wie war Heinrich Heine, der jüdische Kaufmannssohn aus der Düsseldorfer Bolkerstraße, aus dem „Land der Räthsel und der Schmerzen“ nach Paris gekommen, zu den „geistreichen, guten Franzosen“, in die Avenue Matignon? Bevor wir uns, an seinem 150. Todestag, dem sterbenden, dem kranken und leidenden Dichter in seiner Matratzengruft unter den Dächern von Paris und den Werken seiner letzten Lebensjahre zuwenden, soll ein knapper Abriß den Lebensweg dieses Romantikers und Revolutionärs, dieses Aufklärers und Skeptikers, dieses Mittlers zwischen Deutschland und Frankreich nachzeichnen.
Geboren wurde Heinrich Heine in Düsseldorf, vermutlich am 13. Dezember 1797, als ältestes Kind des aus einer im Norddeutschen beheimateten Kaufmannsfamilie stammenden Samson Heine und seiner Frau Betty, geborene van Geldern. Die van Gelderns waren eine angesehene jüdische Familie, von deren Mitgliedern es einige am Hof des Herzogtums Berg, dessen Hauptstadt Düsseldorf war, zu Wohlstand und wichtigen Funktionen gebracht hatten, als Hoffaktoren (also als für die Finanzgeschäfte der barocken Hofhaltungen zuständige Bankiers) und als Ärzte. Durch die Heirat erhält Samson Heine eine Zuzugsgenehmigung der jüdischen Gemeinde Düsseldorfs, der 400 der rund 16.000 Einwohner der Residenzstadt angehören, und eröffnet in der Bolkerstraße in der Altstadt eine Tuchwarenhandlung, spezialisiert auf Velveteen, englischen Baumwollsamt. Drei jüngere Geschwister kommen zur Welt: Charlotte (1802), Gustav (1803) und Maximilian (1804). Während Charlotte einen Hamburger Kaufmann heiratet und sich um die bis 1859 lebende Mutter kümmert, stehen die Lebenswege von Heines Brüdern Gustav und Maximilian (wie der von Heinrich Heine ja letztlich auch) für die Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten assimilierter Juden im 19. Jahrhundert: Gustav wird, nach zahlreichen Umwegen, österreichischer Offizier und später Zeitungsverleger und stirbt 1886 als Millionär und Freiherr von Heine-Geldern in Wien, Maximilian bringt es als Arzt am Zarenhof in St. Petersburg zu hohem Ansehen und wird ebenfalls in den Adelsstand erhoben.
Das Leben ihres Vaters verläuft weniger glücklich – und bestimmt in seinem Scheitern auch die Bahn des ältesten Sohnes, der den Vornamen Harry, nach einem englischen Geschäftsfreund des Vaters, erhielt – und erst mit der Taufe 1825 den Vornamen Heinrich annahm. „[I]n seinem Gemüthe war beständig Kirmeß“ (DHA XV, 80), schreibt Heine in seinen „Memoiren“ über den Vater, den er abgöttisch geliebt und dessen Gutherzigkeit und Freigiebigkeit er zeitlebens bewundert hat. Die Geschäfte Samson Heines liefen indes schlecht: Durch die Folgen der Napoleonischen Kriege mit Kontinentalsperre und Finanzkrisen gerät der Tuchhandel in Schieflage, eine Erkrankung, vermutlich Epilepsie, tut ihr übriges, 1820 geht das Geschäft des Vaters bankrott, die Familie verläßt Düsseldorf und begibt sich in die Abhängigkeit von Samsons Bruder Salomon, einem erfolgreichen Bankier in Hamburg, der auf dem Weg ist, einer der reichsten Männer Deutschlands zu werden. Die Mutter, die sich intensiv um die Ausbildung und Erziehung ihrer Kinder kümmert, kann dem Niedergang nur zusehen und wird nach dem Tod ihres Mannes 1828 von einer Rente ihres reichen Schwagers leben.
Heines Düsseldorfer Kindheit verläuft unbeschwert, er genießt eine solide Schulbildung am von ehemaligen Geistlichen geführten Lyzeum, verläßt 1814 die Schule allerdings ohne Abgangszeugnis, da er in die kaufmännischen Fußstapfen des Vaters treten soll und im Bankhaus des Hamburger Onkels eine Lehre beginnt. 1818 eröffnet er in Hamburg, mit dem Geld des Onkels und Waren aus dem Geschäft seines Vaters, eine Manufakturwarenhandlung, die allerdings schon bald in den Strudel der Liquidation des väterlichen Unternehmens gezogen wird. Das ist das Ende von „Harry Heine & Comp.“, und die Familie beschließt, den ältesten Sohn, finanziell unterstützt vom Onkel, Jura studieren zu lassen. Der Dichter Heine hatte schon zuvor in Hamburg das Licht der Welt erblickt: In der Zeitschrift „Hamburgs Wächter“ erscheinen 1817 die ersten Gedichte des jungen Kaufmannslehrlings, noch unter einem Pseudonym, um den guten Ruf des Namens Heine in der Hansestadt nicht zu schädigen.
Im Oktober 1819 nimmt Heine in Bonn das Studium der Rechtswissenschaften auf – beschäftigt sich aber mehr mit den schönen Künsten, hört Vorlesungen über Literatur und germanische Altertümer und ist, wie das noch vorhandene Ausleihverzeichnis belegt, einer der eifrigsten Nutzer der Universitätsbibliothek. Entscheidend für den Dichter ist die Begegnung mit dem Romantiker August Wilhelm von Schlegel, der in Bonn lehrt und sich herabläßt, die Gedichte des jungen Lyrikers durchzusehen. Heine lernt viel, das hindert ihn aber nicht, den überlebten Vertreter einer überholten literarischen Schule später in seinen Schriften hart heranzunehmen: „Denn in der Literatur, wie in den Wäldern der nordamerikanischen Wilden, werden die Väter von den Söhnen todtgeschlagen, sobald sie alt und schwach geworden“ (DHA VIII, 165), schreibt er 1835 in der „Romantischen Schule“. Nach einem Jahr in Bonn wechselt Heine an die Göttinger Universität, um sich dort intensiver seinem Brotstudium zu widmen. Doch schon nach wenigen Monaten wird er, infolge einer der Universitätsleitung ruchbar gewordenen Duellforderung, von der Universität verwiesen.
Ein Vorfall mit Folgen: Die Familie beschließt, daß Heine sein Studium in Berlin fortsetzen soll, und hier taucht der junge Dichter in eine Welt ein, die sein Leben verändern sollte. Im „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ lernt er wichtige Akteure im Prozeß der Assimilation und Integration kennen, im Salon der Rahel Varnhagen kommt er in Kontakt zu Schriftstellern, Philosophen, Verlegern. Sein erstes Buch, „Gedichte“, erscheint im Dezember 1821 in Berlin, regelmäßig veröffentlicht er in Zeitungen und Zeitschriften. 1823 folgt mit den „Tragödien nebst einem lyrischen Intermezzo“ Heines zweites Buch; mit den „Briefen aus Berlin“ und dem Reisebericht „Über Polen“ erscheinen Prosatexte, die auf die berühmten „Reisebilder“ vorausweisen. Doch wieder greift die Familie ein: Das Studium soll endlich abgeschlossen werden, und so kehrt Heine 1824 noch einmal nach Göttingen zurück: „Ich lebe sehr still. Das Corpus Juris ist mein Kopfkissen“ (HSA XX, 145), schreibt er an einen Freund in Berlin. Immerhin: Von Göttingen aus tritt er im Herbst 1824 die Fußreise durch den Harz an, Keim der Reisebilder: „Die Stadt Göttingen […] ist schön, und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht.“ (DHA VI, 83) Die Reise führt zu Goethe nach Weimar, den er, wenn die Anekdote denn stimmt, schwer verstimmt hat: Und womit beschäftigen Sie sich jetzt, junger Mann? – Mit einem „Faust“.
Im Mai 1825 macht Heine sein juristisches Examen, im Juli wird er promoviert. Dazwischen: Die protestantische Taufe, am 28. Juni in, nomen non est omen!, Heiligenstadt. Kein Glaubensakt, sondern die notwendige Bedingung, im reaktionären Deutschland der Restaurationszeit eine Anstellung als Jurist oder im Staatsdienst zu finden: „Der Taufzettel ist das Entre Billet zur Europäischen Kultur“ (DHA X, 313), notiert Heine später, und: „Das ist eitel Wasser und trocknet leicht.“ (DHA XIV, 271) Was ihm immerhin imponiert am Protestantismus, ist dessen Geschichte. Die Reformation bedeutet für ihn den ersten Schritt auf dem Weg zur Revolution: Erst brachte Luther die Gedankenfreiheit, dann Robespierre die politische – die es, nach der Niederlage Napoleons und der Restauration der alten Ordnung in Europa, aufs neue zu erringen gilt. Geholfen, einen gesicherten Platz in Hamburg, Berlin oder München zu finden, hat ihm die Taufe indes nicht, und auch seine literarischen Gegner insistieren immer wieder auf Heines jüdische Abstammung: „der nie abzuwaschende Jude“ (HSA XX, 265) läßt Heine nicht zur Ruhe kommen.
Von 1825 bis 1831 ist Heine mal in Hamburg, wo er sich als Anwalt oder Ratssyndikus zu etablieren sucht, mal in Berlin, mal in München, wo er als Redakteur einer Zeitschrift arbeitet und hofft, eine Professur an der Universität zu erhalten. Dazwischen Reisen an die Nordsee, nach England, nach Italien. Und, 1826, die Begegnung mit dem Hamburger Buchhändler und Verleger Julius Campe: Beginn einer engen Zusammenarbeit, die Heine zu einem der wichtigsten Autoren seiner Zeit, Campe zu dem Verleger moderner Literatur macht – und trotz aller Auseinandersetzungen und Krisen (Campe spricht von einer „Literarischen Ehe“ [HSA XXV, 37]) bis zu Heines Tod 1856 andauert. Im Mai 1826 erscheint bei Hoffmann und Campe der erste Band der „Reisebilder“, die Heine zu einer literarischen Sensation machen: Prosastücke, meist lose an einer Reisefiktion orientiert, von der schon erwähnten „Harzreise“ bis zum Aufenthalt in Oberitalien 1828, hemmungslos subjektiv, abschweifend, witzig – und unter dem Schutzmantel des Reiseberichts kritisch den gesellschaftlichen Stillstand im restaurativen Deutschland kritisierend. Dazwischen Gedichtzyklen, die leichthin mit romantischen Motiven spielen, am Schluß aber meist mit einem artistischen Salto auf dem Boden der deutschen Realität landen, gespiegelt im Leiden des lyrischen Ich an Liebesunglück und Einsamkeit, aber auch im trotzigen Aufbegehren gegen ein miserables Zeitalter. Gesammelt erscheinen die verstreut in den „Reisebilder“-Bänden und anderen Publikationen erschienenen Gedichte 1827 im „Buch der Lieder“ – erst ein Ladenhüter, ab der zweiten Auflage 1837 einer der erfolgreichsten (und meistvertonten) Gedichtbände der deutschen Literatur.
Heines Veröffentlichungen, die an politische und moralische Tabus rühren und von Anfang an Zensurmaßnahmen und Verbote nach sich ziehen, tragen nicht dazu bei, seine Chancen auf einen bürgerlichen Beruf zu erhöhen. Heine ist frustriert, Deutschland liegt in einem tödlichen Schlummer und hat sich nicht wecken lassen:
[I]ch mußte politische Annalen herausgeben, Zeitinteressen vortragen, revoluzionäre Wünsche anzetteln, die Leidenschaften aufstacheln, den armen deutschen Michel beständig an der Nase zupfen, daß er aus seinem gesunden Riesenschlaf erwache … […]
Ich bin müde und lechze nach Ruhe. Ich werde mir ebenfalls eine deutsche Nachtmütze anschaffen und über die Ohren ziehen. Wenn ich nur wüßte, wo ich jetzt mein Haupt niederlegen kann. In Deutschland ist das unmöglich. Jeden Augenblick würde ein Polizeydiener herankommen und mich rütteln, um zu erproben, ob ich wirklich schlafe […] (DHA XI, 35)
Dann, 1830, ein Ereignis von epochaler Bedeutung, die Heine sofort erkennt: Die Juli-Revolution in Paris, die die Bourbonenherrschaft endgültig beendet und den Bürgerkönig Louis Philippe an die Macht bringt:
Fort ist meine Sehnsucht nach Ruhe, Ich weiß jetzt wieder was ich will, was ich soll, was ich muß … Ich bin der Sohn der Revoluzion und greife wieder zu den gefeyten Waffen, worüber meine Mutter ihren Zaubersegen ausgesprochen … […] Ich bin ganz Freude und Gesang, ganz Schwert und Flamme!
[…] Der Fischer welcher mich gestern nach der kleinen Sandinsel, wo man badet, überfuhr, lachte mich an mit den Worten: „Die armen Leute haben gesiegt!“ Ja, mit seinem Instinkt, begreift das Volk die Ereignisse vielleicht besser als wir mit allen unseren Hülfskenntnissen. (DHA XI, 50 f.)
Im Mai 1831 siedelt Heine nach Paris über. „Paris ist das neue Jerusalem, und der Rhein ist der Jordan, der das geweihte Land der Freyheit trennt vom Lande der Philister (DHA VII, 269), hatte Heine unter dem Eindruck der Nachrichten von der Juli-Revolution geschrieben. Er fühlt, schreibt er nach seiner Ankunft, „auf die Spitze der Welt“ gestellt: „Hier […] ertrinke ich im Strudel der Begebenheiten, der Tageswellen, der brausenden Revoluzion“ (HSA XXI, 20 f.). Ein wenig schwindet die Begeisterung, und mit der Erkenntnis, „daß nicht bloß die französische Spezialrevoluzion noch nicht vollendet sey, sondern daß erst die weit umfassendere Universalrevoluzion ihren Anfang genommen habe“ (DHA XII, 131), macht er sich an die Arbeit, den deutschen Lesern die Entwicklungen in Frankreich nahe zu bringen, zunächst als Korrespondent für die Augsburger „Allgemeine Zeitung“, damals das führende Blatt in Deutschland. Die Aufgabe, die sich Heine von nun an stellt, ist eine doppelte: Den Franzosen „das geistige Leben der Deutschen bekannt zu machen“ (HSA XXI, 51) und den Deutschen dementsprechend „das praktische Treiben unserer Nachbarn jenseits des Rheins“ (DHA XI, 134) zu vermitteln. Die Korrespondentenartikel über das politische und gesellschaftliche Leben in Paris, gesammelt in den Büchern „Französische Zustände“ (1832) und „Lutezia“ (1854, als Teil der „Vermischten Schriften“) leisten diese Vermittlungsarbeit ebenso wie die großen Essays über deutsche Literatur und Philosophie, die zunächst in französischen Zeitschriften erscheinen. Sein Ziel: Deutsche Theorie und französische Praxis, die Philosophie Kants und Hegels und die Revolutionen von 1789 und 1830, zusammenzuführen und deutlich zu machen, daß Tat und Gedanke zusammengehören in dem, was er als „Befreyungskrieg der Menschheit“ (DHA VII, 70) versteht, als Prozeß der Emanzipation von jeder Fremdbestimmung in Politik, Religion und Moral:
Was ist aber diese große Aufgabe unserer Zeit?
Es ist die Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes, sondern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig geworden ist, und sich jetzt losreißt von dem eisernen Gängelbande der Bevorrechteten […]. (DHA VII, 69)
Den Anfang haben die Franzosen gemacht, und Heines Lob der fortschrittlichen Nachbarn macht deutlich, daß es ihm nicht nur um Freiheit und Gleichheit, sondern um den Zugang zu sinnlichen Genüssen geht – und daß wir es bei ihm weniger mit Realpolitik zu tun haben als mit einer Utopie, die sich selbst wiederum einer religiösen Sprache bedient und daraus ihr Pathos bezieht:
Laßt uns die Franzosen preisen! sie sorgten für die zwey größten Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft, für gutes Essen und bürgerliche Gleichheit, in der Kochkunst und in der Freyheit haben sie die größten Fortschritte gemacht, und wenn wir einst alle, als gleiche Gäste, das große Versöhnungsmahl halten, und guter Dinge sind, […] dann wollen wir den Franzosen den ersten Toast darbringen. […] sie wird doch endlich kommen, diese Zeit, wir werden, versöhnt und allgleich, um denselben Tisch sitzen; wir sind dann vereinigt, und kämpfen vereinigt gegen andere Weltübel, vielleicht am Ende gar gegen den Tod […] (DHA VII, 70)
Heine entfaltet sein Programm einer im Sinnlichen wurzelnden, den ganzen Menschen und alle seine Lebensbedingungen umfassenden Befreiung in immer neuen Anläufen: In Korrespondentenberichten und Essays, in der Auseinandersetzung mit Kunst und Musik, in großstädtischen Liebesgedichten, die den Lesern im kleinstaatlichen Deutschland wie die pure Unmoral vorkommen. Seinem Publikum entfremdet er sich, ohne es recht zu merken. Am deutlichsten wird dies, als er 1840 eine Schrift über den verstorbenen Republikaner Ludwig Börne veröffentlicht, in der gerade die an politischer Veränderung Interessierten in Deutschland Verrat an ihrer Sache und an einem ihrer Idole vermuten – obwohl Heine doch nur sein Modell einer lustvollen Revolution von der asketisch-trockenen politischen Vision der deutschen Demokraten abgrenzen wollte.
In Paris lebt Heine derweil inmitten der Gesellschaft, verkehrt mit Schriftstellern, Musikern, aber auch Politikern und Bankiers. Hector Berlioz und Giacomo Meyerbeer gehören ebenso zu seinem Bekanntenkreis wie George Sand, Honoré de Balzac und Alexandre Dumas. Bei den Rothschilds ging er ein und aus, der Ministerpräsident Thiers verschaffte ihm eine französische Staatspension, die Cafés des Palais Royal und die Theater der Hauptstadt gehören zu seinem Revier. Und 1833 lernt er, in einem Schuhladen der Passage des Panoramas, jene junge Verkäuferin kennen, der er den Namen Mathilde gibt und die, nachdem er sich eine Weile dagegen gesträubt hatte, daß seine Gefühle über das für eine Affäre mit einer Grisette übliche Maß weit hinausschossen, seine Gefährtin für die verbleibenden zwei Jahrzehnte seines Lebens wurde. Daß er Mathilde, die ebenso schön wie schlicht war und nie eine rechte Ahnung davon hatte, daß sie an der Seite eines der berühmtesten deutschen Dichter lebte, schließlich heiratete, hing mit dem erwähnten Buch über Ludwig Börne zusammen: Heine konnte einen Ehrenhandel, den ihm beleidigende Worte über eine Freundin Börnes eingetragen hatten, nur durch ein Duell beilegen, und um Mathilde finanziell abzusichern, heiratete er sie zuvor.
1843 reist Heine zum ersten Mal seit zwölf Jahren nach Deutschland und besucht den Verleger und seine Familie in Hamburg, eine zweite Reise (diesmal mit dem Schiff, da ein preußischer Haftbefehl gegen Heine vorliegt) folgt 1844. Nicht nur räumlich sieht sich Heine den deutschen Verhältnissen wieder nähergerückt: Mit den satirischen Versepen „Atta Troll“ und, inspiriert von der ersten Hamburg-Reise, „Deutschland. Ein Wintermärchen“ steht Heine plötzlich wieder im Fokus des literarischen Interesses, mit diesen Texten und mit den 1844 erscheinenden „Neuen Gedichten“ hat er die modische politische Lyrik eines Georg Herwegh oder Hoffmann von Fallersleben sozusagen links überholt – bezüglich des zeitkritischen Gehaltes und der Forderung nicht nur nach Freiheit, sondern nach Wohlstand und Glück, vor allem aber in ästhetischer Hinsicht. Und was vielleicht das wichtigste ist: Heine erkannte hellsichtig, daß die Verbindung von demokratischem Freiheitsenthusiasmus mit nationalem Getöse im zersplitterten, kleinstaatlichen Deutschland zwar vielleicht verständlich sei, aber zu keinem guten Ende führen könne. Gegen den engstirnigen Nationalismus, der nach dem Scheitern der Freiheitsträume der Revolution von 1848 dann fast ein Jahrhundert lang von Deutschland aus Krieg und Unheil über Europa bringen sollte, behauptete Heine seine Position zwischen und über den Fronten. Im Vorwort von „Deutschland ein Wintermärchen“ schreibt er:
Ich höre schon ihre Bierstimmen: du lästerst sogar unsere Farben, Verächter des Vaterlandes, Freund der Franzosen, denen du den freyen Rhein abtreten willst! Beruhigt Euch. Ich werde Eure Farben achten und ehren, wenn sie es verdienen, wenn sie nicht mehr eine müßige oder knechtische Spielerey sind. Pflanzt die schwarz-roth-goldne Fahne auf die Höhe des deutschen Gedankens, macht sie zur Standarte des freyen Menschthums, und ich will mein bestes Herzblut für sie hingeben. Beruhigt Euch, ich liebe das Vaterland eben so sehr wie Ihr. Wegen dieser Liebe habe ich dreyzehn Lebensjahre im Exile verlebt, und wegen eben dieser Liebe kehre ich wieder zurück in’s Exil, vielleicht für immer […]. Ich bin der Freund der Franzosen, wie ich der Freund aller Menschen bin, wenn sie vernünftig und gut sind […]. Seyd ruhig, ich werde den Rhein nimmermehr den Franzosen abtreten, schon aus dem einfachen Grunde: weil mir der Rhein gehört. Ja, mir gehört er, durch unveräußerliches Geburtsrecht, ich bin des freyen Rheines noch weit freyerer Sohn, an seinem Ufer stand meine Wiege, und ich sehe gar nicht ein, warum der Rhein irgend einem Andern gehören soll als den Landeskindern. (DHA IV, 300 f.)
Daß die Revolution von 1848 und der Versuch, in der Paulskirche ein demokratisches Parlament zu installieren, scheiterten, betrachtete Heine von Paris aus mit Sorge – und gehörte zu den wenigen Dichtern, die auch in der Totenstille des Nachmärz noch ihre Stimme erhoben und an die Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit mahnten, als sich ganz Deutschland längst dafür entschieden hatte, die Freiheit zugunsten der nationalen Einheit aufzugeben und in Preußens Streben nach einem vereinten Deutschland das Heil zu sehen. Grabesruhe über Deutschland: „Nur manchmal knallt’s – Ist das ein Schuß? – / Es ist vielleicht ein Freund, den man erschossen.“ (DHA III, 117). Mit der Revolutionshoffnung ging es auch mit Heines Gesundheit bergab: „In demselben Maße wie die Revolution Rückschritte macht, macht meine Krankheit die ernstlichsten Fortschritte“ (HSA XXIII, 175), schreibt er an Julius Campe. Persönliche und politische Katastrophe werden eins, das Leiden des Dichters steht für das Leiden der Menschheit. Im Nachwort zum „Romanzero“, seiner dritten Gedichtsammlung von 1851, zwingt er diese Koinzidenz, die im Revolutionsjahr 1848 das eigene Leben zur Signatur der Zeit macht, in ein berührendes Bild:
Es war im May 1848, an dem Tage, wo ich zum letzten Male ausging, als ich Abschied nahm von den holden Idolen, die ich angebetet in den Zeiten meines Glücks. Nur mit Mühe schleppte ich mich bis zum Louvre, und ich brach fast zusammen, als ich in den erhabenen Saal trat, wo die hochgebenedeite Göttin der Schönheit, Unsere liebe Frau von Milo, auf ihrem Postamente steht. Zu ihren Füßen lag ich lange und ich weinte so heftig, daß sich dessen ein Stein erbarmen mußte. Auch schaute die Göttin mitleidig auf mich herab, doch zugleich so trostlos als wollte sie sagen: siehst du denn nicht, daß ich keine Arme habe und also nicht helfen kann? (DHA III, 181)
Den Abschied von der Göttin der Liebe setzt Heine in dieser Selbstinszenierung an den Beginn seiner Zeit in der „Matratzengruft“, die heute vor 150 Jahren endete. Von Heines Krankheit und davon, wie aus dem Leid des Individuums und dem Leiden am Weltlauf Dichtung wird, soll nun die Rede sein – am Beispiel dreier Gedichte aus den letzten Lebensjahren: „Enfant perdü“ aus dem „Romanzero“, dem „Lazarus“-Gedicht „Wie langsam kriechet sie dahin, / Die Zeit, die schauderhafte Schnecke!“ und einem aus den letzten Lebensmonaten stammenden Gedicht an die Mouche, „Wahrhaftig, wir beide bilden / Ein kurioses Paar“.
„Matratzengruft“, so nennt Heine im Nachwort zum „Romanzero“ den Ort seines Daseins zwischen Leben und Tod, gelähmt, hilflos, aber geistig ungebrochen. Für acht Jahre, vom Winter 1847/1848 bis zum 17. Februar 1856, vegetiert der Dichter, der die Gottwerdung des Menschen verkündet hatte, als lebender Leichnam dahin. Betrachtet man die Lebenszeugnisse, erscheint Heines ganzes Leben als Krankheit zum Tode. Schon der Student klagt immer wieder über Kopfschmerzen, seit den 1830er Jahren stellen sich immer wieder Lähmungserscheinungen und Sehstörungen ein. Aufenthalte am Meer versprechen Linderung, in Cuxhaven, auf Norderney und Helgoland, in der Pariser Zeit in der Normandie. Später kommen Aufenthalte in den Pyrenäenbädern hinzu. Massiv zur endgültigen Zerrüttung seiner Gesundheit trägt der Erbschaftsstreit mit seinem Hamburger Vetter Carl Heine bei: Der Millionärs-Onkel Salomon (dem Heine im Streit einmal gesagt hatte, das beste an ihm sei, daß er Heines Namen trage) hatte sich nach einer längeren Auseinandersetzung bereiterklärt, den dichtenden Neffen mit einer regelmäßigen Pension auszustatten – und mündlich zugesichert, wie Giacomo Meyerbeer, der als Freund der Familie und Sproß der ähnlich vermögenden Berliner Bankiersfamilie Beer die Verhandlungen geführt hatte, bezeugen konnte, daß auch nach seinem Tod die Pension fortgezahlt werde. In seinem Testament war indes nichts dergleichen vermerkt, und so versuchte Carl Heine, eine reduzierte und jederzeit widerrufliche Zahlung an die Versicherung zu knüpfen, daß Heine nichts negatives über die Familie schreibe. Der Streit währte von 1844 bis 1847 und kostete Heine, der mit allen erdenklichen Mitteln kämpfte, Energie und Schaffenskraft. Kuren und Krankenhausaufenthalte brachten keine Besserung mehr, ein Besuch bei einem berühmten Berliner Arzt, Studienfreund Heines, scheiterte am preußischen Verhaftbefehl. Was Heines Krankheit war, ist nicht geklärt, diskutiert worden sind eine Lateralsklerose und eine spezielle Form der Tuberkulose. Heine selbst ging davon aus, daß er an der Syphilis leide, daß der Liebling der Göttin Venus an der venerischen Krankheit sterbe. Die Behandlungsmethoden der Zeit, mit künstlich offengehaltenen Wunden, in die Morphium gestreut wird, und Kauterisationen, der Verbrennung von Stellen im Nacken und am Steißbein mit einem glühenden Eisen, klingen für heutige Ohren fast so grausam wie die Krankheit. „Ich werde fast wahnsinnig vor Aerger, Schmerz und Ungeduld. Ich werde den lieben Gott, der so grausam an mir handelt, bey der Thierquälergesellschaft verklagen“ (HSA XIII,477), schreibt Heine in einem Brief. Krämpfe schütteln ihn, er muß mit der einen Hand das gelähmte Augenlid hochschieben, um mit der anderen große Bleistiftschriftzüge auf Papierbögen zu kritzeln, wenn er nicht auf die Hilfe eines Sekretärs zurückgreifen kann. Die Schmerzmittel machen ihn phasenweise völlig benommen: „Ich bin so betäubt vom Opium, das ich zu wiederholten Malen eingenommen, um meine Schmerzen zu betäuben, so daß ich kaum weiß was ich dictire.“ (HSA XXIII, 148). Und trotzdem: Heine arbeitet, wann immer sein Gesundheitszustand es erlaubt, redigiert Manuskripte für Sammelbände und für die französische Gesamtausgabe, verhandelt mit seinem Verleger, schreibt und schreibt – und nicht zuletzt Gedichte, in der deutschen Literatur einzigartige Texte, die das eigene Sterben und die Existenz zwischen Leben und Tod beobachten. In dem Gedicht „Wie langsam kriechet sie dahin, / Die Zeit, die schauderhafte Schnecke“ (DHA III, 199) hat Heine den Schaffensprozeß im Angesicht des Todes reflektiert. Ob er in seiner „Matratzengruft“ überhaupt noch zu den Lebenden zählt und ob er noch ganz bei Verstand ist, scheint ihm dabei gar nicht so sicher:
Vielleicht bin ich gestorben längst;
Es sind vielleicht nur Spukgestalten
Die Phantasieen, die des Nachts
Im Hirn den bunten Umzug halten. (DHA III, 199)
Was da in seinem umnebelten Hirne spukt, sind Gespenster „Altheidnisch göttlichen Gelichters“ (DHA III, 199) – völlig verabschiedet hat also selbst der ganz auf die Hinfälligkeit der eigenen Leiblichkeit zurückgeworfene Heine die griechischen Götter nicht, denen in besseren Tagen seine Liebe galt und deren höchster, der Liebesgöttin Venus, sein letzter Besuch im Louvre. Noch immer ist er, um in seiner eigenen Terminologie zu bleiben, „Hellene“ und nicht „Nazarener“. Und noch mehr: Wir erfahren, wie diese Lyrik vom Rande des Grabes entsteht, aus den Fieberphantasien der qualvollen Nächte:
Die schaurig süßen Orgia,
Das nächtlich tolle Geistertreiben,
Sucht des Poeten Leichenhand
Manchmal am Morgen aufzuschreiben. (DHA III, 199)
Was der kranke Dichter sich des Nachts zusammenphantasiert und des Tags teils diktiert, teils mit dem Bleistift auf große Blätter kritzelt, hat dabei auch Kompensationsfunktion: In der späten Lyrik häufen sich Balladen, die an exotische oder historisch entfernte Schauplätze entführen, nach Siam und Mexiko, nach Jerusalem und in die Karibik – und manchmal sogar nur nach Godesberg am Rhein, dessen Weinschenken für Heine nun genauso unerreichbar entfernt sind wie Bagdad oder Babylon. Doch auch die Bezüge auf literarische Texte, auf Kollegen und Gegner werden deutlicher, in der späten Lyrik verhandelt Heine noch einmal sein Verhältnis zu Goethe, zu August von Platen und zur Opernkunst Meyerbeers. Der Dichter in der Matratzengruft, die ganze Welt in seinem Kopf.
Wir haben gesehen: Nichts nimmt Heine zurück. Noch immer geistern die lustvollen Götter eines sinnenfrohen Griechentums durch seine Gedichte, wenn auch zu Gespenstern entstellt. Aber das hatte Heine auch früher so gesehen und darin ein Zeichen der noch erlösungsbedürftigen Welt gesehen, die den alten Heidengöttern nur als Teufel oder Spukgestalten in der noch von christlicher Entsagung beherrschten Gegenwart Raum lassen konnte. Daß sich die Gesellschaft und die politischen Gegebenheiten ändern müssen, um den Menschen das Glück zu ermöglichen, das ist nach wie vor Heines Gewißheit. „Was mich betrifft, so kann ich mich in der Politik keines sonderlichen Fortschritts rühmen; ich verharrte bey denselben demokratischen Prinzipien, denen meine früheste Jugend huldigte und für die ich seitdem immer flammender erglühte“ (DHA III, 180), schreibt er im Nachwort zum „Romanzero“. Nach wie vor sieht er sich als „des Lebens treuster Sohn“ (DHA III, 58), der den Idealen einer umfassenden Befreiung verbunden ist. Und in den „Geständnissen“, einer 1854 veröffentlichten autobiographischen Schrift, die vordergründig das Interesse des deutschen Lesepublikums an seiner vielbeschworenen Rückkehr zur Religion befriedigt, entwickelt er ein regelrechtes Sozialprogramm, das sich antirevolutionär und ein wenig aristokratisch-hochnäsig gibt, aber in geradezu unerhörter Weise die Forderungen der gerade entstehenden Arbeiterbewegung aufgreift und konkretisiert:
Das arme Volk ist nicht schön; im Gegentheil, es ist sehr häßlich. Aber diese Häßlichkeit entstand durch den Schmutz und wird mit demselben verschwinden, sobald wir öffentliche Bäder erbauen, wo Seine Majestät das Volk sich unentgeltlich baden kann. Ein Stückchen Seife könnte dabey auch nicht schaden, und wir werden dann ein Volk sehen, das sich gewaschen hat. Das Volk […] ist gar nicht gut; es ist manchmal so böse wie einige andere Potentaten. Aber seine Boßheit kommt vom Hunger; wir müssen sorgen, daß das souveraine Volk immer zu essen habe; sobald allerhöchst dasselbe gehörig gefüttert und gesättigt seyn mag, wird es Euch auch huldvoll und gnädig anlächeln, wie die Andern. (DHA XV, 31)
Das ist die „große Suppenfrage“ (DHA V, 377), die Heine umtreibt und die auch das berühmte Gedicht von den „Wanderratten“ beherrscht, mit dem er den Bürgern Angst vor der drohenden Revolution macht, um sie um so nachdrücklicher auf die Notwendigkeit einer grundlegenden Neuordnung der Gesellschaft hinzuweisen: „Es gibt zwei Sorten Ratten / Die hungrigen und die satten“ (DHA III, 334), und: „Im hungrigen Magen Eingang finden / Nur Suppenlogik mit Knödelgründen“ (DHA III, 336).
Der todkranke Heine weiß, daß der Kampf nicht gewonnen ist, aber dennoch ein notwendiger und richtiger war. Er war ein „Enfant perdü“ im Befreiungskampf der Menschheit, ein Vorposten, der eine wichtige Stellung hält, aber geopfert wird:
Verlor’ner Posten in dem Freyheitskriege,
Hielt ich seit dreyzig Jahren treulich aus.
Ich kämpfte ohne Hoffnung, daß ich siege,
Ich wußte, nie komm’ ich gesund nach Haus.
[…]
Ein Posten ist vakant! – Die Wunden klaffen –
Der Eine fällt, die Andern rücken nach –
Doch fall’ ich unbesiegt, und meine Waffen
Sind nicht gebrochen – Nur mein Herze brach. (DHA III, 121 f.)
Um das gebrochene Herz zu entlasten und das Elend der Zeitläufte ebenso wie das der eigenen Existenz auf der Schwelle zum Grabe zu überstehen, fängt Heine an, sich wieder mit den Gottesvorstellungen der jüdischen Religion seiner Väter und der christlichen seiner Umwelt zu beschäftigen. Ob das eine ‚religiöse Wende‘ ist oder nicht, beschäftigt die Heine-Forschung wie kaum ein anderes Thema. Mir scheinen die Anzeichen sehr deutlich, daß es einfach darum ging, in den traditionellen Gottesvorstellungen ein Gegenüber zu finden, mit dem man hadern kann, zu dem aufschreit in seinem Zorn und seinem Schmerz. Heines Äußerungen zu diesem Thema, das schon die lesenden Zeitgenossen beschäftigte, sind schillernd. Eine Kostprobe aus dem Nachwort zum „Romanzero“:
Wenn man nun einen Gott begehrt, der zu helfen vermag – und das ist doch die Hauptsache – so muß man auch seine Persönlichkeit, seine Außerweltlichkeit und seine heiligen Attribute, die Allgüte, die Allweisheit, die Allgerechtigkeit u.s.w. annehmen. Die Unsterblichkeit der Seele, unsre Fortdauer nach dem Tode, wird uns alsdann gleichsam mit in den Kauf gegeben, wie der schöne Markknochen, den der Fleischer, wenn er mit seinen Kunden zufrieden ist, ihnen unentgeltlich in den Korb schiebt. (DHA III, 179)
Sie werden zugeben: Besonders fromm klingt das nicht, und besonders überzeugend auch nicht – Gott als Fleischer, die Unsterblichkeit als Suppenknochen. Seinem Verleger Campe hat Heine versichert:
[…] denn wie nahe ich auch der Gottheit gekommen, so steht mir doch der Himmel noch ziemlich fern; glauben Sie nicht den umlaufenden Gerüchten, als sey ich ein frommes Lämmlein geworden. Die religiöse Umwälzung, die in mir sich ereignete, ist eine bloß geistige, mehr ein Akt meines Denkens als des seligen Empfindelns, und das Krankenbett hat durchaus wenig Antheil daran, wie ich mir fest bewußt bin. Es sind große, erhabne, schauerliche Gedanken über mich gekommen, aber es waren Gedanken, Blitze des Lichtes und nicht die Phosphordünste der Glaubenspisse. (HSA XXIII, 43)
Und wenn Heine in seinen Texten von seiner Rückkehr zu Gott spricht, dann ist meistens eine versteckte politische Botschaft nicht weit, wird Jesus zum Revolutionär und Moses zum Vorläufer von Marx und Engels: „Es giebt wahrhaftig keinen Socialisten, der terroristischer wäre als unser Herr und Heiland, und bereits Moses war ein solcher Socialist“ (DHA XV, 46), behauptet Heine in den „Geständnissen“. So wird Gott für den Schriftsteller Heine zur Argumentationshilfe für seine zeitkritische Schmuggelware, für den leidenden Dichter in der Matratzengruft zur Projektionsfläche seiner Gebete und Klagen. Wenn nicht wahr, so ist doch gut erfunden, was die Brüder Goncourt von Heines Gewißheit, Gott werde ihm verzeihen, denn das sei sein Geschäft, berichtet haben, und schon im Jahr von Heines Tod kolportiert Alfred Meißner dasselbe Bonmot in seinem Buch mit Heine-Erinnerungen: „Einige Stunden vor seinem Ende stürzte ein Bekannter in sein Zimmer, um ihn noch zu sehen. Gleich nach seinem Eintreten richtete er an Heine die Frage, wie er mit Gott stehe. Heine erwiederte lächelnd: Sein Sie ruhig! Dieu me pardonnera, c’est son metier!“
Kehren wir abschließend noch einmal zurück an das Sterbebett des Dichters, in die Matratzengruft in der Avenue Matignon. Zu den merkwürdigen Zufällen dieser Existenz am Abgrund gehört die Begegnung mit einer jungen Frau, die selbst an einer Schriftstellerinnenkarriere arbeitet und sich, mit der Bitte, den verehrten Dichter einmal sprechen zu dürfen, Einlaß bei ihm verschafft. Die Rede ist von Elise Krinitz, die als Schriftstellerin den Namen Camille Selden führte, der Nachwelt aber vor allem bekannt wurde unter dem Namen, den der sterbende Heine ihr gab, Mouche, nach der Fliege, die ihr Petschaft zierte. Aus der Begegnung mit der jungen Frau wuchs eine höchst merkwürdige Beziehung, die Heines Frau Mathilde, durchaus zur Eifersucht neigend, vielleicht deshalb duldete, weil über den zwangsweise platonischen Charakter dieses Verhältnisses kein Zweifel bestehen konnte – und weil sie wohl klar erkannte, welch lindernden Einfluß die Besuche der Dreißigjährigen auf den nur noch wenige Monate zu leben habenden Dichter hatten. Der Reiz lag nicht zuletzt darin, daß die einfühlende junge Frau mit ihm Deutsch sprach und schrieb – umgekehrt wäre Mathildes Eifersucht vielleicht doch entflammt, wenn sie die Gedichte hätte lesen können, die Heine der Mouche widmete und die zum Teil recht drastisch auf das Gefälle zwischen erotischem Wunsch und medizinischer Wirklichkeit anspielen, aus dem der sterbende Heine einen letzten, mehr geistigen als sinnlichen Kitzel zog: „Worte! Worte! keine Thaten!“, klagt der Dichter, der „Kaum ein Glied bewegen kann“. Das muß man wohl durchaus anzüglich verstehen, denn zwei Strophen zuvor ist im selben Gedicht von „Lendenkraft“, dem galoppierenden „Roß der Leidenschaft“ und der „wilde[n] Jagd der Liebe“ (DHA III, 396) die Rede. Vielleicht war die Mouche ganz froh, daß der gelähmte Mann ihr gegenüber nicht mehr so konnte, wie er wollte. Heines Briefe an Elise Krinitz sprechen eine ebenso deutliche Sprache des Verlangens, kokettieren genauso mit der Lust, die ihm verwehrt ist, wie andere Briefe und Texte mit den Tröstungen der Religion, an die Heine – so könnte man eine Analogie zwischen beidem ziehen – ebensowenig zu glauben vermag:
Auch ich freue mich, Sie bald wieder zu sehen […] – ach wäre ich noch ein Mann […] Aber ich bin nur noch ein Geist, was vielleicht Ihnen, aber nicht mir sonderlich zusagt. […] Ja ich freue mich, Sie wiederzusehen! […] Holdeste Bisamkatze […] – Ich befinde mich noch immer sehr schlecht; beständige Krämpfe und Aergernisse – Aerger über meinen Zustand, der hoffnungslos! Ein Todter, lechzend nach den lebendigsten Lebensgenüssen. Das ist schrecklich. Leben Sie wohl! (HSA XXIII, 434 f.)
Heine erkennt durchaus das Groteske, das in seiner merkwürdigen Beziehung zu der jungen Frau liegt – und schlägt Funken daraus, die seine allerletzten Gedichte so anrührend und, trotz des derben erotischen Subtextes, beeindruckend machen. Noch einmal bäumt sich der lebende Leichnam in der Matratzengruft auf:
Wahrhaftig wir beide bilden
Ein kurioses Paar
Die Liebste ist schwach auf den Beinen
Der Liebhaber lahm sogar. (DHA III, 391)
Wie Mond und Lotosblume sind die beiden einander, ihre Seelen sich nah, doch bleibt ihnen fremd, „Was bei dem andern befindlich / Wohl zwischen Seel und Hemd!“ (DHA III, 391). Was kann Heine geben? Nur ein Gedicht:
Die Lotosblume erschließet
Ihr Kelchlein im Mondenlicht;
Doch statt des befruchtenden Lebens
Empfängt sie nur ein Gedicht! (DHA III, 391)
Nur ein Gedicht … Wie hatte Heine in den „Geständnissen“ geschrieben: „Es ist nichts aus mir geworden, nichts als ein Dichter.“ Aber: „Man ist viel, wenn man ein Dichter ist, und gar wenn man ein großer lyrischer Dichter ist in Deutschland […].“ (DHA XV, 55)