» Startseite » Texte von Heine » Lutetia - Kommunismus, Philosophie und Klerisei

Heinrich Heine
Lutetia – Anhang






Kommunismus, Philosophie und Klerisei



I

Paris, 15. Juni 1843


Hätte ich zur Zeit des Kaisers Nero in Rom privatisiert und etwa für die Oberpostamtszeitung von Böotien oder für die unoffizielle Staatszeitung von Abdera die Korrespondenz besorgt, so würden meine Kollegen nicht selten darüber gescherzt haben, daß ich z.B. von den Staatsintrigen der Kaiserin-Mutter gar nichts zu berichten wisse, daß ich nicht einmal von den glänzenden Diners rede, womit der judäische König Agrippa das diplomatische Korps zu Rom jeden Samstag regaliere, und daß ich hingegen beständig von jenen Galiläern spräche, von jenem obskuren Häuflein, das, meistens aus Sklaven und alten Weibern bestehend, in Kämpfen und Visionen sein blödsinniges Leben verträume und sogar von den Juden desavouiert werde. Meine wohlunterrichteten Kollegen hätten gewiß ganz besonders ironisch über mich gelächelt, wenn ich vielleicht von dem Hoffeste des Cäsars, wobei Se. Majestät höchstselbst die Gitarre spielte, nichts Wichtigeres zu berichten wußte, als daß einige jener Galiläer mit Pech bestrichen und angezündet wurden und solchergestalt die Gärten des goldenen Palastes erleuchteten. Es war in der Tat eine sehr bedeutsame Illumination, und es war ein grausamer, echt römischer Witz, daß die sogenannten Obskuranten als Lichter dienen mußten bei der Feier der antiken Lebenslust. Aber dieser Witz ist zuschanden geworden, jene Menschenfackeln streuten Funken umher, wodurch die alte Römerwelt mit all ihrer morschen Herrlichkeit in Flammen aufging: die Zahl jenes obskuren Häufleins ward Legion, im Kampfe mit ihr mußten die Legionen Cäsars die Waffen strecken, und das ganze Reich, die Herrschaft zu Wasser und zu Lande, gehört jetzt den Galiläern.

Es ist durchaus nicht meine Absicht, hier in homiletische Betrachtungen überzugehen, ich habe nur durch ein Beispiel zeigen wollen, in welcher siegreichen Weise eine spätere Zukunft jene Vorneigung rechtfertigen dürfte, womit ich in meinen Berichten sehr oft von einer kleinen Gemeinde gesprochen, die, der Ecclesia pressa des ersten Jahrhunderts sehr ähnlich, in der Gegenwart verachtet und verfolgt wird und doch eine Propaganda auf den Beinen hat, deren Glaubenseifer und düsterer Zerstörungswille ebenfalls an galiläische Anfänge erinnert. Ich spreche wieder von den Kommunisten, der einzigen Partei in Frankreich, die eine entschlossene Beachtung verdient. Ich würde für die Trümmer des Saint-Simonismus, dessen Bekenner, unter seltsamen Aushängeschildern, noch immer am Leben sind, sowie auch für die Fourieristen, die noch frisch und rührig wirken, dieselbe Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen; aber diese ehrenwerten Männer bewegt doch nur das Wort, die soziale Frage als Frage, der überlieferte Begriff, und sie werden nicht getrieben von dämonischer Notwendigkeit, sie sind nicht die prädestinierten Knechte, womit der höchste Weltwille seine ungeheuren Beschlüsse durchsetzt. Früh oder spät wird die zerstreute Familie Saint-Simons und der ganze Generalstab der Fourieristen zu dem wachsenden Heere des Kommunismus übergehen und, dem rohen Bedürfnisse das gestaltende Wort leihend, gleichsam die Rolle der Kirchenväter übernehmen.

Eine solche Rolle spielt bereits Pierre Leroux, den wir vor elf Jahren in der Salle Taitbout als einen der Bischöfe des Saint-Simonismus kennenlernten. Ein vortrefflicher Mann, der nur den Fehler hatte, für seinen damaligen Stand viel zu trübsinnig zu sein. Auch hat ihm Enfantin das sarkastische Lob erteilt: »Das ist der tugendhafteste Mensch nach den Begriffen der Vergangenheit.« Seine Tugend hat allerdings etwas vom alten Sauerteig der Entsagungsperiode, etwas verschollen Stoisches, das in unsrer Zeit ein fast befremdlicher Anachronismus ist und gar, den heitern Richtungen einer pantheistischen Genußreligion gegenüber, als eine honorable Lächerlichkeit erscheinen mußte. Auch ward es diesem traurigen Vogel am Ende sehr unbehaglich in dem glänzenden Gitterkorb, worin so viele Goldfasanen und Adler, aber noch mehr Sperlinge flatterten, und Pierre Leroux war der erste, der gegen die Doktrin von der neuen Sittlichkeit protestierte und sich mit einem fanatischen Anathema von der fröhlich bunten Genossenschaft zurückzog. Hierauf unternahm er, in Gemeinschaft mit Hippolyte Carnot, die neuere »Revue encyclopédique«, und die Artikel, die er darin schrieb, sowie auch sein Buch »De l'humanité« bilden den Übergang zu den Doktrinen, die er jetzt, seit einem Jahre, in der »Revue indépendante« niederlegte. Wie es jetzt mit der großen »Enzyklopädie« aussieht, woran Leroux und der vortreffliche Reynaud am tätigsten wirken, darüber kann ich nichts Bestimmtes sagen. Soviel darf ich behaupten, daß dieses Werk eine würdige Fortsetzung seines Vorgängers ist, jenes kolossalen Pamphlets in dreißig Quartbänden, worin Diderot das Wissen seines Jahrhunderts resümierte. In einem besondern Abdruck erschienen die Artikel, welche Leroux in seiner »Enzyklopädie« gegen den Cousinschen Eklektizismus oder Eklektismus, wie die Franzosen das Unding nennen, geschrieben hat. Cousin ist überhaupt das schwarze Tier, der Sündenbock, gegen welchen Pierre Leroux seit undenklicher Zeit polemisiert, und diese Polemik ist bei ihm zur Monomanie geworden. In den Dezemberheften der »Revue indépendante« erreicht sie ihren rasend gefährlichsten und skandalosesten Gipfel. Cousin wird hier nicht bloß wegen seiner eigenen Denkweise angegriffen, sondern auch bösartiger Handlungen beschuldigt. Diesmal läßt sich die Tugend vom Winde der Leidenschaft am weitesten fortreißen und gerät aufs hohe Meer der Verleumdung. Nein, wir wissen es aus guter Quelle, daß Cousin zufälligerweise ganz unschuldig ist an den unverzeihlichen Modifizierungen, welche die postume Schrift seines Schülers Jouffroy erlitten; wir wissen es nämlich nicht aus dem Munde seiner Anhänger, sondern seiner Gegner, die sich darüber beklagen, daß Cousin aus ängstlicher Schonung der Universitätsinteressen die Publikation der Jouffroyschen Schrift widerraten und verdrießlich seine Beihülfe verweigert habe. Sonderbare Wiedergeburt derselben Erscheinungen, wie wir sie bereits vor zwanzig Jahren in Berlin erlebt! Diesmal begreifen wir sie besser, und wenn auch unsre persönlichen Sympathien nicht für Cousin sind, so wollen wir doch unparteiisch gestehen, daß ihn die radikale Partei mit demselben Unrecht und mit derselben Beschränktheit verlästerte, die wir uns selbst einst in bezug auf den großen Hegel zuschulden kommen ließen. Auch dieser wollte gern, daß seine Philosophie im schützenden Schatten der Staatsgewalt ruhig gedeihe und mit dem Glauben der Kirche in keinen Kampf geriete, ehe sie hinlänglich ausgewachsen und stark – und der Mann, dessen Geist am klarsten und dessen Doktrin am liberalsten war, sprach sie dennoch in so trüb scholastischer, verklausulierter Form aus, daß nicht bloß die religiöse, sondern auch die politische Partei der Vergangenheit in ihm einen Verbündeten zu besitzen glaubte. Nur die Eingeweihten lächelten ob solchem Irrtum, und erst heute verstehen wir dieses Lächeln; damals waren wir jung und töricht und ungeduldig, und wir eiferten gegen Hegel, wie jüngst die äußerste Linke in Frankreich gegen Cousin eiferte. Nur daß bei diesem die äußerste Rechte sich nicht täuschen läßt durch die Vorsichtsmaßregeln des Ausdrucks; die römisch-katholisch-apostolische Klerisei zeigt sich hier weit scharfsichtiger als die königlich-preußisch-protestantische; sie weiß ganz bestimmt, daß die Philosophie ihr schlimmster Feind ist, sie weiß, daß dieser Feind sie aus der Sorbonne verdrängt hat, und um diese Festung wiederzuerobern, unternahm sie gegen Cousin einen Vertilgungskrieg, und sie führt ihn mit jener geweihten Taktik, wo der Zweck die Mittel heiligt. So wird Cousin von zwei entgegengesetzten Seiten angegriffen, und während die ganze Glaubensarmee mit fliegenden Kreuzfahnen, unter Anführung des Erzbischofs von Chartres, gegen ihn vorrückt, stürmen auf ihn los auch die Sansculotten des Gedanken, brave Herzen, schwache Köpfe, mit Pierre Leroux an ihrer Spitze. In diesem Kampfe sind alle unsre Siegeswünsche für Cousin; denn wenn auch die Bevorrechtung der Universität ihre Übelstände hat, so verhindert sie doch, daß der ganze Unterricht in die Hände jener Leute fällt, die immer mit unerbittlicher Grausamkeit die Männer der Wissenschaft und des Fortschrittes verfolgten, und solange Cousin in der Sorbonne wohnt, wird wenigstens dort nicht wie ehemals der Scheiterhaufen als letztes Argument, als ultima ratio, in der Tagespolemik angewendet werden. Ja, er wohnt dort als Gonfaloniere der Gedankenfreiheit, und das Banner derselben weht über dem sonst so verrufenen Obskurantenneste der Sorbonne. Was uns für Cousin noch besonders stimmt, ist die liebreiche Perfidie, womit man die Beschuldigungen des Pierre Leroux auszubeuten wußte. Die Arglist hatte sich diesmal hinter die Tugend versteckt, und Cousin wird wegen einer Handlung angeklagt, für die, hätte er sie wirklich begangen, ihm nur Lob, volles orthodoxes Lob von der klerikalen Partei gespendet werden müßte: Jansenisten ebensowohl wie Jesuiten predigten ja immer den Grundsatz, daß man um jeden Preis das öffentliche Ärgernis zu verhindern suche. Nur das öffentliche Ärgernis sei die Sünde, und nur diese solle man vermeiden, sagte gar salbungsvoll der fromme Mann, den Molière kanonisiert hat. Aber nein, Cousin darf sich keiner so erbaulichen Tat rühmen, wie man sie ihm zuschreibt; dergleichen liegt vielmehr im Charakter seiner Gegner, die von jeher, um den Skandal zu hintertreiben oder schwache Seelen vor Zweifel zu bewahren, es nicht verschmähten, Bücher zu verstümmeln oder ganz umzuändern oder zu vernichten oder ganz neue Schriften unter erborgten Namen zu schmieden, so daß die kostbarsten Denkmale und Urkunden der Vorzeit teils gänzlich untergegangen, teils verfälscht sind. Nein, der heilige Eifer des Bücherkastrierens und gar der fromme Betrug der Interpolationen gehört nicht zu den Gewohnheiten der Philosophen.

Und Victor Cousin ist ein Philosoph, in der ganzen deutschen Bedeutung des Wortes. Pierre Leroux ist es nur im Sinne der Franzosen, die unter Philosophie vielmehr allgemeine Untersuchungen über gesellschaftliche Fragen verstehen. In der Tat, Victor Cousin ist ein deutscher Philosoph, der sich mehr mit dem menschlichen Geiste als mit den Bedürfnissen der Menschheit beschäftigt und durch das Nachdenken über das große Ego in einen gewissen Egoismus geraten. Die Liebhaberei für den Gedanken an und für sich absorbierte bei ihm alle Seelenkräfte, aber der Gedanke selbst interessierte ihn zunächst wegen der schönen Form, und in der Metaphysik ergötzte ihn am Ende nur die Dialektik: von dem Übersetzer des Plato könnte man, das banale Wort umkehrend, gewissermaßen behaupten, er liebe den Plato mehr als die Wahrheit. Hier unterscheidet sich Cousin von den deutschen Philosophen: wie den letzteren ist auch ihm das Denken letzter Zweck des Denkens, aber zu solcher philosophischer Absichtslosigkeit gesellt sich bei ihm auch ein gewisser artistischer Indifferentismus. Wie sehr muß nun dieser Mann einem Pierre Leroux verhaßt sein, der weit mehr ein Freund der Menschen als der Gedanken ist, dessen Gedanken alle einen Hintergedanken haben, nämlich das Interesse der Menschheit, und der als geborener Ikonoklast keinen Sinn hat für künstlerische Freude an der Form! In solcher geistigen Verschiedenheit liegen genug Gründe des Grolls, und man hätte nicht nötig gehabt, die Feindschaft des Leroux gegen Cousin aus persönlichen Motiven, aus geringfügigen Vorfallenheiten des Tageslebens zu erklären. Ein bißchen unschuldige Privatmalice mag mit unterlaufen; denn die Tugend, wie erhaben sie auch das Haupt in den Wolken trägt und nur in Himmelsbetrachtungen verloren scheint, so bewahrt sie doch im getreusamsten Gedächtnisse jeden kleinen Nadelstich, den man ihr jemals versetzt hat.

Nein, der leidenschaftliche Grimm, die Berserkerwut des Pierre Leroux gegen Victor Cousin ist ein Ergebnis der Geistesdifferenz dieser beiden Männer. Es sind Naturen, die sich notwendigerweise abstoßen. Nur in der Ohnmacht kommen sie einander wieder nahe, und die gleiche Schwäche der Fundamente verleiht den entgegengesetzten Doktrinen eine gewisse Ähnlichkeit. Der Eklektizismus von Cousin ist eine feindrähtige Hängebrücke zwischen dem schottisch plumpen Empirismus und der deutsch abstrakten Idealität, eine Brücke, die höchstens dem leichtfüßigen Bedürfnisse einiger Spaziergänger genügen mag, aber kläglich einbrechen würde, wollte die Menschheit mit ihrem schweren Herzensgepäcke und ihren trampelnden Schlachtrossen darüber hinmarschieren. Leroux ist ein Pontifex maximus in einem höhern, aber noch weit unpraktischern Stile, er will eine kolossale Brücke bauen, die, aus einem einzigen Bogen bestehend, auf zwei Pfeilern ruhen soll, wovon der eine aus dem materialistischen Granit des vorigen Jahrhunderts, der andere aus dem geträumten Mondschein der Zukunft verfertigt worden, und diesem zweiten Pfeiler gibt er zur Basis irgendeinen noch unentdeckten Stern in der Milchstraße. Sobald dieses Riesenwerk fertig sein wird, wollen wir darüber referieren. Bis jetzt läßt sich von dem eigentlichen System des Leroux nichts Bestimmtes sagen, er gibt bis jetzt nur Materialien, zerstreute Bausteine. Auch fehlt es ihm durchaus an Methode, ein Mangel, der den Franzosen eigentümlich ist, mit wenigen Ausnahmen, worunter besonders Charles de Rémusat genannt werden muß, der in seinen »Essais de philosophie« (ein kostbares Meisterbuch!) die Bedeutung der Methode begriffen und für ihre Anwendung ein großes Talent offenbart hat. Leroux ist gewiß ein größerer Produzent im Denken, aber es fehlt ihm hier, wie gesagt, die Methode. Er hat bloß die Ideen, und in dieser Hinsicht ist ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit Joseph Schelling nicht abzusprechen, nur daß alle seine Ideen das befreiende Heil der Menschheit betreffen und er, weit entfernt, die alte Religion mit der Philosophie zu flicken, vielmehr die Philosophie mit dem Gewande einer neuen Religion beschenkt. Unter den deutschen Philosophen ist es Krause, mit dem Leroux die meiste Verwandtschaft hat. Sein Gott ist ebenfalls nicht außerweltlich, sondern er ist ein Insasse dieser Welt, behält aber dennoch eine gewisse Persönlichkeit, die ihn sehr gut kleidet. An der immortalité de l'âme kaut Leroux beständig, ohne davon satt zu werden; es ist dies nichts als ein perfektioniertes Wiederkäuen der ältern Perfektibilitätslehre. Weil er sich gut aufgeführt in diesem Leben, hofft Leroux, daß er in einer spätern Existenz zu noch größerer Vollkommenheit gedeihen werde; Gott stehe alsdann dem Cousin bei, wenn derselbe nicht unterdessen ebenfalls Fortschritte gemacht hat!

Pierre Leroux mag wohl jetzt funfzig Jahr alt sein, wenigstens sieht er darnach aus; vielleicht ist er jünger. Körperlich ist er nicht von der Natur allzu verschwenderisch begünstigt worden. Eine untersetzte, stämmige, vierschrötige Gestalt, die keineswegs durch die Traditionen der vornehmen Welt einige Grazie gewonnen. Leroux ist ein Kind des Volks, war in seiner Jugend Buchdrucker, und er trägt noch heute in seiner äußern Erscheinung die Spuren des Proletariats. Wahrscheinlich mit Absicht hat er den gewöhnlichen Firnis verschmäht, und wenn er irgendeiner Koketterie fähig ist, so besteht diese vielleicht in dem hartnäckigen Beharren bei der rohen Ursprünglichkeit. Es gibt Menschen, welche nie Handschuhe tragen, weil sie kleine, weiße Hände haben, woran man die höhere Rasse erkennt; Pierre Leroux trägt ebenfalls keine Handschuhe, aber sicherlich aus ganz andern Gründen. Er ist ein asketischer Entsagungsmensch, dem Luxus und jedem Sinnenreiz abhold, und die Natur hat ihm die Tugend erleichtert. Wir wollen aber den Adel seiner Gesinnung, den Eifer, womit er dem Gedanken alle niederen Interessen opferte, überhaupt seine hohe Uneigennützigkeit als nicht minder verdienstlich anerkennen! und noch weniger wollen wir den rohen Diamanten deswegen herabsetzen, weil er keine glänzende Geschliffenheit besitzt und sogar in trübes Blei gefaßt ist. – Pierre Leroux ist ein Mann, und mit der Männlichkeit des Charakters verbindet er, was selten ist, einen Geist, der sich zu den höchsten Spekulationen emporschwingt, und ein Herz, welches sich versenken kann in die Abgründe des Volksschmerzes. Er ist nicht bloß ein denkender, sondern auch ein fühlender Philosoph, und sein ganzes Leben und Streben ist der Verbesserung des moralischen und materiellen Zustandes der untern Klassen gewidmet. Er, der gestählte Ringer, der die härtesten Schläge des Schicksals ertrüge, ohne zu zwinkern, und der wie Saint-Simon und Fourier zuweilen in der bittersten Not und Entbehrung darbte, ohne sich sonderlich zu beklagen: er ist nicht imstande, die Kümmernisse seiner Mitmenschen ruhig zu ertragen, seine harte Augenwimper feuchtet sich beim Anblick fremden Elends, und die Ausbrüche seines Mitleids sind alsdann stürmisch, rasend, nicht selten ungerecht.

Ich habe mich eben einer indiskreten Hinweisung auf Armut schuldig gemacht. Aber ich konnte doch nicht umhin, dergleichen zu erwähnen; diese Armut ist charakteristisch und zeigt uns, wie der vortreffliche Mann die Leiden des Volks nicht bloß mit dem Verstande erfaßt, sondern auch leiblich mitgelitten hat und wie seine Gedanken in der schrecklichsten Realität wurzeln. Das gibt seinen Worten ein pulsierendes Lebensblut und einen Zauber, der stärker als die Macht des Talentes. – Ja, Pierre Leroux ist arm, wie Saint-Simon und Fourier es waren, und die providentielle Armut dieser großen Sozialisten war es, wodurch die Welt bereichert wurde, bereichert mit einem Schatze von Gedanken, die uns neue Welten des Genusses und des Glückes eröffnen. In welcher gräßlichen Armut Saint-Simon seine letzten Jahre verbrachte, ist allgemein bekannt; während er sich mit der leidenden Menschheit, dem großen Patienten, beschäftigte und Heilmittel ersann für dessen achtzehnhundertjähriges Gebreste, erkrankte er selbst zuweilen vor misère, und er fristete sein Dasein nur durch Betteln. Auch Fourier mußte zu den Almosen der Freunde seine Zuflucht nehmen, und wie oft sah ich ihn, in seinem grauen, abgeschabten Rocke, längs den Pfeilern des Palais Royal hastig dahinschreiten, die beiden Rocktaschen schwer belastet, so daß aus der einen der Hals einer Flasche und aus der andern ein langes Brot hervorguckten. Einer meiner Freunde, der ihn mir zuerst zeigte, machte mich aufmerksam auf die Dürftigkeit des Mannes, der seine Getränke beim Weinschank und sein Brot beim Bäcker selber holen mußte. »Wie kommt es«, frug ich, »daß solche Männer, solche Wohltäter des Menschengeschlechts, in Frankreich darben müssen?« – »Freilich«, erwiderte mein Freund, sarkastisch lächelnd, »das macht dem gepriesenen Lande der Intelligenz keine sonderliche Ehre, und das würde gewiß nicht bei uns in Deutschland passieren: die Regierung würde bei uns die Leute von solchen Grundsätzen gleich unter ihre besondere Obhut nehmen und ihnen lebenslänglich freie Kost und Wohnung geben.«

Ja, Armut ist das Los der großen Menschheitshelfer, der heilenden Denker in Frankreich, aber diese Armut ist bei ihnen nicht bloß ein Antrieb zu tieferer Forschung und ein stärkendes Stahlbad der Geisteskräfte, sondern sie ist auch eine empfehlende Annonce für ihre Lehre und in dieser Beziehung gleichfalls von providentieller Bedeutsamkeit. In Deutschland wird der Mangel an irdischen Gütern sehr gemütlich entschuldigt, und besonders das Genie darf bei uns darben und verhungern, ohne eben verachtet zu werden. In England ist man schon minder tolerant, das Verdienst eines Mannes wird dort nur nach seinem Einkommen abgeschätzt, und »How much is he worth?« heißt buchstäblich: »Wieviel Geld besitzt er, wieviel verdient er?« Ich habe mit eigenen Ohren angehört, wie in Florenz ein dicker Engländer ganz ernsthaft einen Franziskanermönch fragte, wieviel es ihm jährlich einbringe, daß er so barfüßig und mit einem dicken Strick um den Leib herumgehe. In Frankreich ist es anders, und wie gewaltig auch die Gewinnsucht des Industrialismus um sich greift, so ist doch die Armut bei ausgezeichneten Personen ein wahrer Ehrentitel, und ich möchte schier behaupten daß der Reichtum, einen unehrlichen Verdacht begründend, gewissermaßen mit einem geheimen Makel, mit einer levis nota, die sonst vortrefflichsten Leute behafte. Das mag wohl daher entstehen, weil man bei so vielen die unsaubern Quellen kennt, woraus die großen Reichtümer geflossen. Ein Dichter sagte, daß der erste König ein glücklicher Soldat war! – in betreff der Stifter unsrer heutigen Finanzdynastien dürfen wir vielleicht das prosaische Wort aussprechen, daß der erste Bankier ein glücklicher Spitzbube gewesen. Der Kultus des Reichtums ist zwar in Frankreich so allgemein wie in andern Ländern, aber es ist ein Kultus ohne heiligen Respekt: die Franzosen tanzen ebenfalls um das Goldene Kalb, aber ihr Tanzen ist zugleich Spott, Persiflage, Selbstverhöhnung, eine Art Cancan. Es ist dieses eine merkwürdige Erscheinung, erklärbar teils aus der generösen Natur der Franzosen, teils auch aus ihrer Geschichte. Unter dem alten Regime galt nur die Geburt, nur die Ahnenzahl gab Ansehen, und die Ehre war eine Frucht des Stammbaums. Unter der Republik gelangte die Tugend zur Herrschaft, die Armut ward eine Würde, und wie vor Angst, so auch vor Scham, verkroch sich das Geld. Aus jener Periode stammen die vielen dicken Soustücke, die ernsthaften Kupfermünzen mit den Symbolen der Freiheit, sowie auch die Traditionen von pekuniärer Uneigennützigkeit, die wir noch heutigentages bei den höchsten Staatsverwaltern Frankreichs antreffen. Zur Zeit des Kaisertums florierte nur der militärische Ruhm, eine neue Ehre ward gestiftet, die der Ehrenlegion, deren Großmeister, der siegreiche Imperator, mit Verachtung herabschaute auf die rechnende Krämergilde, auf die Lieferanten, die Schmuggler, die Stockjobbers, die glücklichen Spitzbuben. Während der Restauration intrigierte der Reichtum gegen die Gespenster des alten Regimes, die wieder ans Ruder gekommen und deren Insolenz täglich wuchs: das beleidigte, ehrgeizige Geld wurde Demagoge, liebäugelte herablassend mit den Kurzjacken, und als die Juliussonne die Gemüter erhitzte, ward der Adelkönig Karl X. vom Throne herabgeschmissen. Der Bürgerkönig Ludwig Philipp stieg hinauf, er, der Repräsentant des Geldes, das jetzt herrscht, aber in der öffentlichen Meinung zu gleicher Zeit von der besiegten Partei der Vergangenheit und der getäuschten Partei der Zukunft frondiert wird. Ja, das adeltümliche Faubourg Saint-Germain und die proletarischen Faubourgs Saint-Antoine und Saint-Marceau überbieten sich in der Verhöhnung der geldstolzen Emporkömmlinge, und, wie sich von selbst versteht, die alten Republikaner mit ihrem Tugendpathos und die Bonapartisten mit pathetischen Heldentiraden stimmen ein in diesen herabwürdigenden Ton. Erwägt man diese zusammenwirkenden Grölle, so wird es begreiflich, warum dem Reichen jetzt in der öffentlichen Meinung eine fast übertriebene Geringschätzung zuteil wird, während jeder nach Reichtum lechzt.

Ich möchte, auf das Thema zurückkommend, womit ich diesen Artikel begonnen, hier ganz besonders andeuten, wie es für den Kommunismus ein unberechenbar günstiger Umstand ist, daß der Feind, den er bekämpft, bei all seiner Macht dennoch in sich selber keinen moralischen Halt besitzt. Die heutige Gesellschaft verteidigt sich nur aus platter Notwendigkeit, ohne Glauben an ihr Recht, ja ohne Selbstachtung, ganz wie jene ältere Gesellschaft, deren morsches Gebälke zusammenstürzte, als der Sohn des Zimmermanns kam.



II

Paris, 8. Juli 1843


In China sind sogar die Kutscher höflich. Wenn sie in einer engen Straße mit ihren Fuhrwerken etwas hart aneinanderstoßen und Deichseln und Räder sich verwickeln, erheben sie keineswegs ein Schimpfen und Fluchen wie die Kutscher bei uns zulande, sondern sie steigen ruhig von ihrem Sitz herunter, machen eine Anzahl Knickse und Bücklinge, sagen sich diverse Schmeicheleien, bemühen sich hernach, gemeinschaftlich ihre Wagen in das gehörige Geleise zu bringen, und wenn alles wieder in Ordnung ist, machen sie nochmals verschiedene Bücklinge und Knickse, sagen sich ein respektives Lebewohl und fahren von dannen. Aber nicht bloß unsre Kutscher, sondern auch unsre Gelehrten sollten sich hieran ein Beispiel nehmen. Wenn diese Herren miteinander in Kollision geraten, machen sie sehr wenig Komplimente und suchen sich keineswegs hülfreich zu verständigen, sondern sie fluchen und schimpfen alsdann wie die Kutscher des Okzidents. Und dieses klägliche Schauspiel gewähren uns zumeist Theologen und Philosophen, obgleich erstere auf das Dogma der Demut und Barmherzigkeit besonders angewiesen sind und letztere in der Schule der Vernunft zunächst Geduld und Gelassenheit erlernt haben sollten. Die Fehde zwischen der Universität und den Ultramontanen hat diesen Frühling bereits mit einer Flora von Grobheiten und Schmähreden bereichert, die selbst auf unsern deutschen Mistbeeten nicht kostbarer gedeihen könnte. Das wuchert, das sproßt, das blüht in unerhörter Pracht. Wir haben weder Lust noch Beruf, hier zu botanisieren. Der Duft mancher Giftblumen könnte uns betäubend zu Kopf steigen und uns verhindern, mit kühler Unparteilichkeit den Wert beider Parteien und die politische Bedeutung und Bedeutsamkeit des Kampfes zu würdigen. Sobald die Leidenschaften ein bißchen verduftet sind, wollen wir solche Würdigung versuchen. Soviel können wir schon heute sagen: das Recht ist auf beiden Seiten, und die Personen werden getrieben von der fatalsten Notwendigkeit. Der größte Teil der Katholischen, weise und gemäßigt, verdammt zwar das unzeitige Schilderheben ihrer Parteigenossen, aber diese gehorchen dem Befehl ihres Gewissens, ihrem höchsten Glaubensgesetz, dem compelle intrare, sie tun ihre Schuldigkeit, und sie verdienen aus diesem Grunde unsre Achtung. Wir kennen sie nicht, wir haben kein Urteil über ihre Person, und wir sind nicht berechtigt, an ihrer Ehrlichkeit zu zweifeln...

Diese Leute sind nicht eben meine Lieblinge, aber, aufrichtig gestanden, trotz ihrem düstern, blutrünstigen Zelotismus sind sie mir lieber als die toleranten Amphibien des Glaubens und des Wissens, als jene Kunstgläubigen, die ihre erschlafften Seelen durch fromme Musik und Heiligenbilder kitzeln lassen, und gar als jene Religionsdilettanten, die für die Kirche schwärmen, ohne ihren Dogmen einen strengen Gehorsam zu widmen, die mit den heiligen Symbolen nur liebäugeln, aber keine ernsthafte Ehe eingehen wollen und die man hier catholiques marrons nennt. Letztere füllen jetzt unsre fashionablen Kirchen, z.B. Sainte-Madeleine oder Notre-Dame de Lorette, jene heiligen Boudoirs, wo der süßlichste Rokokogeschmack herrscht, ein Weihkessel, der nach Lavendel düftet, reichgepolsterte Betstühle, rosige Beleuchtung und schmachtende Gesänge, überall Blumen und tändelnde Engel, kokette Andacht, die sich fächert mit éventails von Boncher und Watteau – Pompadourchristentum.

Ebenso unrecht wie unrichtig ist die Benennung Jesuiten, womit man hier die Gegner der Universität zu bezeichnen pflegt. Erstens gibt es gar keine Jesuiten mehr in dem Sinne, den man mit jenem Namen verknüpft. Aber wie es oben in der Diplomatie Leute gibt, die jedesmal, wenn die Flutzeit der Revolution eintritt, das gleichzeitige Heranbranden so vieler brausenden Wellen für das Werk eines Comité directeur in Paris erklären, so gibt es Tribunen hier unten, die, wenn die Ebbe beginnt, wenn die revolutionären Springfluten sich wieder verlaufen, diese Erscheinung den Intrigen der Jesuiten zuschreiben und sich ernsthaft einbilden, es residiere ein Jesuitengeneral in Rom, welcher durch seine vermummten Schergen die Reaktion der ganzen Welt leite. Nein, es existiert kein solcher Jesuitengeneral in Rom, wie auch in Paris kein Comité directeur existiert; das sind Märchen für große Kinder, hohle Schreckpopanze, moderner Aberglaube. Oder ist es eine bloße Kriegslist, daß man die Gegner der Universität für Jesuiten erklärt? Es gibt in der Tat hierzulande keinen Namen, der weniger populär wäre. Man hat im vorigen Jahrhundert gegen diesen Orden so gründlich polemisiert, daß noch eine geraume Zeit vergehen dürfte, ehe man ein mildes, unparteiisches Urteil über ihn fällen wird. Es will mich bedünken, als habe man die Jesuiten nicht selten ein bißchen jesuitisch behandelt und als seien die Verleumdungen, die sie sich zuschulden kommen ließen, ihnen manchmal mit zu großen Zinsen zurückgezahlt worden. Man könnte auf die Väter der Gesellschaft Jesu das Wort anwenden, welches Napoleon über Robespierre aussprach: sie sind hingerichtet worden, nicht gerichtet. Aber der Tag wird kommen, wo man auch ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen und ihre Verdienste anerkennen wird. Schon jetzt müssen wir eingestehen, daß sie durch ihre Missionsanstalten die Gesittung der Welt, die Zivilisation unberechenbar gefördert, daß sie ein heilsames Gegengift gewesen gegen die lebenverpestenden Miasmen von Port- Royal, daß sogar ihre vielgescholtene Akkommodationslehre noch das einzige Mittel war, wodurch die Kirche über die moderne, freiheitslustige und genußsüchtige Menschheit ihre Oberherrschaft bewahren konnte. »Mangez un boeuf et soyez chrétien«, sagten die Jesuiten zu dem Beichtkinde, dem in der Karwoche nach einem Stückchen Rindfleisch gelüstete; aber ihre Nachgiebigkeit lag nur in der Not des Momentes, und sie hätten später, sobald ihre Macht befestigt, die fleischfressenden Völker wieder zu den magersten Fastenspeisen zurückgelenkt. Laxe Doktrinen für die empörte Gegenwart, eiserne Ketten für die unterjochte Zukunft. Sie waren so klug!

Aber alle Klugheit hilft nichts gegen den Tod. Sie liegen längst im Grabe. Es gibt freilich Leute in schwarzen Mänteln und mit ungeheuern, dreieckig aufgekrempten Filzhüten, aber das sind keine echten Jesuiten. Wie manchmal ein zahmes Schaf sich in ein Wolfsfell des Radikalismus vermummt, aus Eitelkeit oder Eigennutz oder Schabernack, so steckt im Fuchspelz des Jesuitismus manchmal nur ein beschränktes Grauchen. – Ja, sie sind tot. Die Väter der Gesellschaft Jesu haben in den Sakristeien nur ihre Garderobe zurückgelassen, nicht ihren Geist. Dieser spukt an andern Orten, und manche Champions der Universität, die ihn so eifrig exorzieren, sind vielleicht davon besessen, ohne es zu merken. Ich sage dieses nicht in bezug auf die Herren Michelet und Quinet, die ehrlichsten und wahrhaftigsten Seelen, sondern ich habe hier im Auge zunächst den wohlbestallten Minister des öffentlichen Unterrichts, den Rektor der Universität, den Herrn Villemain. Seiner Magnifizenz zweideutiges Treiben berührt mich immer widerwärtig. Ich kann leider nur dem Esprit und dem Stile dieses Mannes meine Achtung zollen. Nebenbei gesagt, wir sehen hier, daß der berühmte Ausspruch von Buffon: »Le style, c'est l'homme«, grundfalsch ist. Der Stil des Herrn Villemain ist schön, edel, wohlgewachsen und reinlich. – Auch Victor Cousin kann ich nicht ganz verschonen mit dem Vorwurf des Jesuitismus. Der Himmel weiß, daß ich geneigt bin, Herrn Cousins Vorzügen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, daß ich den Glanz seines Geistes gern anerkenne; aber die Worte, womit er jüngst in der Akademie die Übersetzung Spinozas ankündigte, zeugen weder von Mut noch von Wahrheitsliebe. Cousin hat gewiß die Interessen der Philosophie unendlich gefördert, indem er den Spinoza dem denkenden Frankreich zugänglich machte, aber er hätte zugleich ehrlich gestehen sollen, daß er dadurch der Kirche keinen großen Dienst geleistet. Im Gegenteil sagte er, der Spinoza sei von einem seiner Schüler, einem Zögling der École normale, übersetzt worden, um ihn mit einer Widerlegung zu begleiten, und während die Priesterpartei die Universität so heftig angreife, sei es doch eben diese arme, unschuldige, verketzerte Universität, welche den Spinoza widerlege, den gefährlichen Spinoza, jenen Erbfeind des Glaubens, der mit einer Feder aus den schwarzen Flügeln Satans seine deiziden Bücher geschrieben! »Wen betrügt man hier?« ruft Figaro. Es war in der Académie des sciences morales et politiques, wo Cousin in solcher Weise die französische Übersetzung des Spinoza ankündigte; sie ist außerordentlich gelungen, während die gerühmte Widerlegung so schwach und dürftig ist, daß sie in Deutschland für ein Werk der Ironie gelten würde.



III

Paris, 20. Juli 1843


Jedes Volk hat seinen Nationalfehler, und wir Deutschen haben den unsrigen, nämlich jene berühmte Langsamkeit, wir wissen es sehr gut, wir haben Blei in den Stiefeln, sogar in den Pantoffeln. Aber was nützt den Franzosen alle Geschwindigkeit, all ihr flinkes, anstelliges Wesen, wenn sie ebenso schnell vergessen, was sie getan? Sie haben kein Gedächtnis, und das ist ihr größtes Unglück. Die Frucht jeder Tat und jeder Untat geht hier verloren durch Vergeßlichkeit. Jeden Tag müssen sie den Kreislauf ihrer Geschichte wieder durchlaufen, ihr Leben wieder von vorne anfangen, ihre Kämpfe aufs neue durchkämpfen, und morgen hat der Sieger vergessen, daß er gesiegt hatte, und der Überwundene hat ebenso leichtsinnig seine Niederlage und ihre heilsamen Lehren vergessen. Wer hat im Julius 1830 die große Schlacht gewonnen? Wer hat sie verloren? Wenigstens in dem großen Hospital, wo, um mich eines Ausdrucks von Mignet zu bedienen, jede gestürzte Macht ihre Blessierten untergebracht hat, hätte man sich dessen erinnern sollen! Diese einzige Bemerkung erlauben wir uns in Beziehung auf die Debatten, die in der Pairskammer über den Sekundärunterricht stattgefunden und wo die klerikale Partei nur scheinbar unterlag. In der Tat triumphierte sie, und es war schon ein hinlänglicher Triumph, daß sie als organisierte Partei ans Tageslicht trat. Wir sind weit entfernt, dieses kühne Auftreten zu tadeln, und es mißfällt uns weit weniger als jene schlottrige Halbheit, welche die Gegner sich zuschulden kommen ließen. Wie kläglich zeigte sich hier Herr Villemain, der kleine Rhetor, der windige Bel-Esprit, dieser abgestandene Voltairianer, der sich ein bißchen an den Kirchenvätern gerieben, um einen gewissen ernsthaften Anstrich zu gewinnen, und der von einer Unwissenheit beseelt war, die ans Erhabene grenzte! Es ist mir unbegreiflich, daß ihm Herr Guizot nicht auf der Stelle den Laufpaß gegeben, denn diesem großen Gelehrten mußte jene schülerhafte Verlegenheit, jener Mangel an den dürftigsten Vorkenntnissen, jene wissenschaftliche Nullität noch weit empfindlicher mißfallen als irgendein politischer Fehler! Um die Schwäche und Inhaltlosigkeit seines Kollegen einigermaßen zu decken, mußte Guizot mehrmals das Wort ergreifen; aber alles, was er sagte, war matt, farblos und unerquicklich. Er würde gewiß bessere Dinge vorgebracht haben, wenn er nicht Minister der auswärtigen Angelegenheiten, sondern Minister des Unterrichts gewesen wäre und für die besondern Interessen dieses Departements eine Lanze gebrochen hätte. Ja, er würde sich für die Gegenpartei noch weit gefährlicher erwiesen haben, wenn er ganz ohne weltliche Macht, nur mit seiner geistlichen Macht bewaffnet, wenn er als bloßer Professor für die Befugnisse der Philosophie in die Schranken getreten wäre! In einer solchen günstigern Lage war Victor Cousin, und ihm gebührt vorzugsweise die Ehre des Tages. Cousin ist nicht, wie jüngst ziemlich griesgrämig behauptet worden, ein philosophischer Dilettant, sondern er ist vielmehr ein großer Philosoph, er ist hier Haussohn der Philosophie, und als diese angegriffen wurde von ihren unversöhnlichsten Feinden, mußte unser Victor Cousin seine oratio pro domo halten. Und er sprach gut, ja vortrefflich, mit Überzeugung. Es ist für uns immer ein kostbares Schauspiel, wenn die friedliebendsten Männer, die durchaus von keiner Streitlust beseelt sind, durch die innern Bedingungen ihrer Existenz, durch die Macht der Ereignisse, durch ihre Geschichte, ihre Stellung, ihre Natur, kurz, durch eine unabweisliche Fatalität, gezwungen werden, zu kämpfen. Ein solcher Kämpfer, ein solcher Gladiator der Notwendigkeit war Cousin, als ein unphilosophischer Minister des Unterrichts die Interessen der Philosophie nicht zu verteidigen vermochte. Keiner wußte besser als Victor Cousin, daß es sich hier um keine neue Sache handelte, daß sein Wort wenig beitragen würde zur Schlichtung des alten Streits und daß da kein definitiver Sieg zu erwarten sei. Ein solches Bewußtsein übt immer einen dämpfenden Einfluß, und alles Brillantfeuer des Geistes konnte auch hier die innere Trauer über die Fruchtlosigkeit aller Anstrengungen keineswegs verbergen. Selbst bei den Gegnern haben Cousins Reden einen ehrenden Eindruck hervorgebracht, und die Feindschaft, die sie ihm widmen, ist ebenfalls eine Anerkennung. Den Villemain verachten sie, den Cousin aber fürchten sie. Sie fürchten ihn nicht wegen seiner Gesinnung, nicht wegen seines Charakters, nicht wegen seiner individuellen Vorzüge oder Fehler, sondern sie fürchten in ihm die deutsche Philosophie. Du lieber Himmel! man erzeigt hier unserer deutschen Philosophie und unserm Cousin allzu große Ehre. Obgleich letzterer ein geborner Dialektiker ist, obgleich er zugleich für Form die größte Begabnis besitzt, obgleich er bei seiner philosophischen Spezialität auch noch von großem Kunstsinn unterstützt wird, so ist er doch noch sehr weit davon entfernt, die deutsche Philosophie so gründlich tief in ihrem Wesen zu erfassen, daß er ihre Systeme in einer klaren, allgemein verständlichen Sprache formulieren könnte, wie es nötig wäre für Franzosen, die nicht wie wir die Geduld besitzen, ein abstraktes Idiom zu studieren. Was sich aber nicht in gutem Französisch sagen läßt, ist nicht gefährlich für Frankreich. Die Sektion der sciences morales et politiques der französischen Akademie hat bekanntlich eine Darstellung der deutschen Philosophie seit Kant zu einer Preisfrage gewählt, und Cousin, der hier als Hauptdirigent zu betrachten ist, suchte vielleicht fremde Kräfte, wo seine eignen nicht ausreichten. Aber auch andere haben die Aufgabe nicht gelöst, und in der jüngsten feierlichen Sitzung der Akademie ward uns angekündigt, daß auch dies Jahr keine Preisschrift über die deutsche Philosophie gekrönt werden könne.






© Wolfgang Fricke