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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






VI

Paris, 7. Mai 1840


Die heutigen Pariser Blätter bringen einen Bericht des k. k. österreichischen Konsuls zu Damaskus an den k. k. österreichischen Generalkonsul in Alexandria, in bezug der Damaszener Juden, deren Martyrtum an die dunkelsten Zeiten des Mittelalters erinnert. Während wir in Europa die Märchen desselben als poetischen Stoff bearbeiten und uns an jenen schauerlich naiven Sagen ergötzen, womit unsere Vorfahren sich nicht wenig ängstigten; während bei uns nur noch in Gedichten und Romanen von jenen Hexen, Werwölfen und Juden die Rede ist, die zu ihrem Satansdienst das Blut frommer Christenkinder nötig haben; während wir lachen und vergessen, fängt man an, im Morgenlande sich sehr betrübsam des alten Aberglaubens zu erinnern und gar ernsthafte Gesichter zu schneiden, Gesichter des düstersten Grimms und der verzweifelnden Todesqual! Unterdessen foltert der Henker, und auf der Marterbank gesteht der Jude, daß er bei dem herannahenden Paschafeste etwas Christenblut brauchte zum Eintunken für seine trockenen Osterbröte und daß er zu diesem Behufe einen alten Kapuziner abgeschlachtet habe! Der Türke ist dumm und schnöde und stellt gern seine Bastonaden- und Torturapparate zur Verfügung der Christen gegen die angeklagten Juden; denn beide Sekten sind ihm verhaßt, er betrachtet sie beide wie Hunde, er nennt sie auch mit diesem Ehrennamen, und er freut sich gewiß, wenn der christliche Giaur ihm Gelegenheit gibt, mit einigem Anschein von Recht den jüdischen Giaur zu mißhandeln. Wartet nur, wenn es mal des Paschas Vorteil sein wird und er nicht mehr den bewaffneten Einfluß der Europäer zu fürchten braucht, wird er auch dem beschnittenen Hunde Gehör schenken, und dieser wird unsere christlichen Brüder anklagen, Gott weiß wessen! Heute Amboß, morgen Hammer! –

Aber für den Freund der Menschheit wird dergleichen immer ein Herzeleid sein. Erscheinungen dieser Art sind ein Unglück, dessen Folgen unberechenbar. Der Fanatismus ist ein ansteckendes Übel, das sich unter den verschiedensten Formen verbreitet und am Ende gegen uns alle wütet. Der französische Konsul in Damaskus, der Graf Ratti-Menton, hat sich Dinge zuschulden kommen lassen, die hier einen allgemeinen Schrei des Entsetzens erregten. Er ist es, welcher den okzidentalischen Aberglauben dem Orient einimpfte und unter dem Pöbel von Damaskus eine Schrift austeilte, worin die Juden des Christenmords bezüchtigt werden. Diese haßschnaufende Schrift, die der Graf Menton von seinen geistlichen Freunden zum Behufe der Verbreitung empfangen hatte, ist ursprünglich der »Bibliotheca prompta a Lucio Ferrario« entlehnt, und es wird darin ganz bestimmt behauptet, daß die Juden zur Feier ihres Paschafestes des Blutes der Christen bedürften. Der edle Graf hütete sich, die damit verbundene Sage des Mittelalters zu wiederholen, daß nämlich die Juden zu demselben Zwecke auch konsekrierte Hostien stehlen und mit Nadeln so lange stechen, bis das Blut herausfließe – eine Untat, die im Mittelalter nicht bloß durch beeidigte Zeugenaussagen, sondern auch dadurch ans Tageslicht gekommen, daß über dem Judenhause, worin eine jener gestohlenen Hostien gekreuzigt worden, sich ein lichter Schein verbreitete. Nein, die Ungläubigen, die Muhamedaner, hätten dergleichen nimmermehr geglaubt, und der Graf Menton mußte, im Interesse seiner Sendung, zu weniger mirakulösen Historien seine Zuflucht nehmen. Ich sage, im Interesse seiner Sendung, und überlasse diese Worte dem weitesten Nachdenken. Der Herr Graf ist erst seit kurzer Zeit in Damaskus; vor sechs Monaten sah man ihn hier in Paris, der Werkstätte aller progressiven, aber auch aller retrograden Verbrüderungen. – Der hiesige Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Herr Thiers, der sich jüngst nicht bloß als Mann der Humanität, sondern sogar als Sohn der Revolution geltend zu machen suchte, offenbart bei Gelegenheit der Damaszener Vorgänge eine befremdliche Lauheit. Nach dem heutigen »Moniteur« soll bereits ein  Vizekonsul nach Damaskus abgegangen sein, um das Betragen des dortigen französischen  Konsuls zu untersuchen. Ein Vizekonsul! Gewiß eine untergeordnete Person aus einer nachbarlichen Landschaft, ohne Namen und ohne Bürgschaft parteiloser Unabhängigkeit!






© Wolfgang Fricke