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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XVII

Paris, 30. Juli 1840


Es gab gestern keine Börse, ebensowenig wie vorgestern, und die Kurse hatten Muße, sich von der großen Gemütsbewegung etwas zu erholen. Paris, wie Sparta, hat seinen Tempel der Furcht, und das ist die Börse, in deren Hallen man immer um so ängstlicher zittert, je stürmischer der Mut ist der draußen tobt.

Ich habe mich gestern sehr bitter über die Engländer ausgesprochen. Bei näherer Erkundigung erscheint ihre Schuld nicht so groß, wie ich anfangs glaubte. Wenigstens das englische Volk desavouiert seinen Mandatarius. Ein dicker Brite, der alle Jahr am 29. Julius hieherkommt, um seinen Töchtern das Feuerwerk auf dem Pont de la Concorde zu zeigen, versichert mir, es herrsche in England der größte Unwillen gegen den Coxcomb Palmerston, der voraussehen konnte, daß die Konvention wegen Ägypten die Franzosen aufs äußerste beleidigen müsse. Es sei in der Tat, gestehen die Engländer, eine Beleidigung von seiten Englands, aber es sei keine Verräterei: denn Frankreich habe seit langer Zeit darum gewußt, daß man Mehemed Ali aus Syrien mit Gewalt verjagen wolle, das französische Ministerium sei hiermit ganz einverstanden gewesen; es habe selber in betreff jener Provinz eine sehr zweideutige Rolle gespielt; die geheimen Lenker der syrischen Revolte seien Franzosen, deren katholischer Fanatismus nicht in Downing Street, sondern auf dem Boulevard des Capucines allerlei aufmunternde Sympathien finde; bereits in der Geschichte von den gefolterten Juden zu Damaskus habe sich das französische Ministerium zugunsten der katholischen Partei sehr kompromittiert; schon bei dieser Gelegenheit habe Lord Palmerston seine Mißachtung des französischen Premierministers hinlänglich beurkundet, indem er den Behauptungen desselben öffentlich widersprach usw. – Wie dem auch sei, Lord Palmerston hätte voraussehen können, daß die Konvention nicht ausführbar ist und daß also die Franzosen unnützerweise in Harnisch gesetzt würden, was immerhin seine gefährlichen Folgen haben kann. Je länger wir darüber nachdenken, desto mehr wundern wir uns über das ganze Ereignis. Es gibt hier Motive, die uns bis jetzt noch verborgen sind, vielleicht sehr feine, staatskluge Motive – vielleicht auch sehr einfältige.

Ich habe oben der Geschichte von Damaskus erwähnt. Diese findet hier noch immer viel Besprechung, namentlich bildet sie einen stehenden Artikel im »Univers«, dem Organ der ultramontanen Priesterpartei. Eine geraume Zeit hindurch hat dieses Journal alle Tage einen Brief aus dem Orient mitgeteilt. Da nur alle acht Tage das Dampfboot aus der Levante anlangt, so sind wir hier um so mehr an ein Wunder zu glauben geneigt, als wir ohnehin durch die Damaszener Vorgänge in die Mirakelzeit des Mittelalters zurückversetzt sind. Ist es doch schon ein Wunder, daß die aus der Luft gegriffenen Nachrichten des »Univers« in Frankreich einigen Anklang finden! Ja, es ist nicht zu leugnen, ein großer Teil der Franzosen ist nicht abgeneigt, dem blutigen Unglimpf Glauben zu schenken, und die obskursten Erfindungen der Pfaffenlist stoßen hier auf sehr lauen Widerspruch. Verwundert fragen wir uns: Ist das Frankreich, die Heimat der Aufklärung, das Land, wo Voltaire gelacht und Rousseau geweint hat? Sind das die Franzosen, die einst der Göttin der Vernunft in Notre-Dame huldigten, allen Priestertrug abgeschworen und sich als die Nationalfeinde des Fanatismus in der ganzen Welt proklamierten? Wir wollen ihnen nicht unrecht tun: eben weil ein blinder Zorn gegen allen Aberglauben sie noch beseelt, eben weil sie, alte Kinder des achtzehnten Jahrhunderts, allen Religionen die infamsten Untaten zutrauen, hielten sie auch die Bekenner des Judentums fähig, dergleichen begangen zu haben, und ihre leichtsinnigen Ansichten über die Damaszener Vorgänge sind nicht aus Fanatismus gegen die Juden, sondern aus Haß gegen den Fanatismus selbst hervorgegangen. – Daß über jene Vorgänge keine so bornierten Meinungen in Deutschland aufkommen konnten, zeugt nur von unsrer größeren Gelahrtheit; geschichtliche Kenntnisse sind so sehr im deutschen Volke verbreitet, daß selbst der grimmigste Groll nicht mehr zu den alten Blutmärchen greifen darf.

Wie sonderbar die Leichtgläubigkeit bei dem gemeinen Volk in Frankreich mit der größten Skepsis verbunden ist, bemerkte ich vor einigen Abenden auf der Place de la Bourse, wo ein Kerl mit einem großen Fernrohr sich postiert hatte und für zwei Sous den Mond zeigte. Er erzählte dabei den umstehenden Gaffern, wie groß dieser Mond sei, so viele tausend Quadratmeilen, wie es Berge darauf gebe und Flüsse, wie er so viele tausend Meilen von der Erde entfernt sei und dergleichen merkwürdige Dinge mehr, die einen alten Portier, der mit seiner Gattin vorbeiging, unwiderstehlich anreizten, zwei Sous auszugeben, um den Mond zu betrachten. Seine teure Ehehälfte jedoch widersetzte sich mit rationalistischem Eifer und riet ihm, seine zwei Sous lieber für Tabak auszugeben: das sei alles Aberglaube, was man von dem Mond erzähle, von seinen Bergen und Flüssen und seiner unmenschlichen Größe, das habe man erfunden, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu locken.






© Wolfgang Fricke