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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XXIII

Paris, 29. Oktober 1840


Thiers geht ab, und Guizot tritt wieder auf. Es ist aber dasselbe Stück, und nur die Akteure wechseln. Dieser Rollenwechsel geschah auf Verlangen sehr vieler hohen und allerhöchsten Personen, nicht des gewöhnlichen Publikums, das mit dem Spiel seines ersten Helden sehr zufrieden war. Dieser buhlte vielleicht etwas zu sehr um den Beifall des Parterres; sein Nachfolger hat mehr die höhern Regionen im Auge, die Gesandtenlogen.

In diesem Augenblick versagen wir nicht unser Mitleid dem Manne, der unter den jetzigen Umständen in das Hôtel des Capucines seinen Einzug hält; er ist viel mehr zu bedauern als derjenige, der dieses Marterhaus oder Drillbaus verläßt. Er ist fast ebenso zu bedauern wie der König selber; auf diesen schießt man, den Minister verleumdet man. Mit wieviel Kot bewarf man Thiers während seines Ministeriums! Heute bezieht er wieder sein kleines Haus auf der Place Saint-George, und ich rate ihm, gleich ein Bad zu nehmen. Hier wird er sich wieder seinen Freunden in fleckenloser Größe zeigen, und wie vor vier Jahren, als er in derselben plötzlichen Weise das Ministerium verließ, wird jeder einsehen, daß seine Hände rein geblieben sind und sein Herz nicht eingeschrumpft. Er ist nur etwas ernsthafter geworden, obgleich der wahre Ernst ihm nie fehlte und sich, wie bei Cäsar, unter leichten Lebensformen verbarg. Die Beschuldigung der Forfanterie, die man in der letzten Zeit am öftesten gegen ihn vorbrachte, widerlegt er eben durch seinen Abgang vom Ministerium: eben weil er kein bloßer Maulheld war, weil er wirklich die größten Kriegsrüstungen vornahm, eben deshalb mußte er zurücktreten. Jetzt sieht jeder ein, daß der Aufruf zu den Waffen keine prahlerische Spiegelfechterei war. Über vierhundert Millionen beläuft sich schon die Summe, welche für die Armee, die Marine und die Befestigungswerke verwendet worden, und in einigen Monaten stehen sechs mal hunderttausend Soldaten auf den Beinen. Noch stärkere Vorbereitungen zum Kriege standen in Vorschlag, und das ist der Grund, weshalb der König, noch vor dem Beginn der Kammersitzungen, sich um jeden Preis des großen Rüstmeisters entledigen mußte. Einige beschränkte Deputiertenköpfe werden jetzt freilich über nutzlose Ausgaben schreien und nicht bedenken, daß es eben jene Kriegsrüstungen sind, die uns vielleicht den Frieden erhielten. Ein Schwert hält das andere in der Scheide. Die große Frage, ob Frankreich durch die Londoner Traktatsvorgänge beleidigt war oder nicht, wird jetzt in der Kammer debattiert werden. Es ist eine verwickelte Frage, bei deren Beantwortung man auf die Verschiedenheit der Nationalität Rücksicht nehmen muß. Vorderhand aber haben wir Frieden, und dem König Ludwig Philipp gebührt das Lob, daß er zur Erhaltung des Friedens ebensoviel Mut aufgewendet, als Napoleon dessen im Kriege bekundete. Ja, lacht nicht, er ist der Napoleon des Friedens!






© Wolfgang Fricke