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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XXIV

Paris, 4. November 1840


Marschall Soult, der Mann des Schwertes, sorgt für die innere Ruhe Frankreichs, und dieses ist seine ausschließliche Aufgabe. Für die äußere Ruhe bürgt unterdessen Ludwig Philipp, der König der Klugheit, der mit geduldigen Händen, nicht mit dem Schwerte, die Wirrnisse der Diplomatie, den gordischen Knäuel, zu lösen sucht. Wird's ihm gelingen? Wir wünschen es, und zwar im Interesse der Fürsten wie der Völker Europas. Letztere können durch einen Krieg nur Tod und Elend gewinnen. Erstere, die Fürsten, würden, selbst im günstigsten Falle, durch einen Sieg über Frankreich die Gefahren verwirklichen, die vielleicht jetzt nur in der Imagination einiger Staatsleute als besorgliche Gedanken existieren. Die große Umwälzung, welche seit funfzig Jahren in Frankreich stattfand, ist, wo nicht beendigt, doch gewiß gehemmt, wenn nicht von außen das entsetzliche Rad wieder in Bewegung gesetzt wird. Durch die Bedrohnisse eines Krieges mit der neuen Koalition wird nicht bloß der Thron des Königs, sondern auch die Herrschaft jener Bourgeoisie gefährdet, die Ludwig Philipp rechtsmäßig, jedenfalls tatsächlich, repräsentiert. Die Bourgeoisie, nicht das Volk, hat die Revolution von 1789 begonnen und 1830 vollendet, sie ist es, welche jetzt regiert, obgleich viele ihrer Mandatarien von vornehmem Geblüte sind, und sie ist es, welche das andringende Volk, das nicht bloß Gleichheit der Gesetze, sondern auch Gleichheit der Genüsse verlangt, bis jetzt im Zaum hielt. Die Bourgeoisie, welche ihr mühsames Werk, die neue Staatsbegründung, gegen den Andrang des Volkes, das eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft begehrt, zu verteidigen hat, ist gewiß zu schwach, wenn auch das Ausland sie mit vierfach stärkeren Kräften anfiele, und noch ehe es zur Invasion käme, würde die Bourgeoisie abdanken, die unteren Klassen würden wieder an ihre Stelle treten, wie in den schrecklichen neunziger Jahren, aber besser organisiert, mit klarerem Bewußtsein, mit neuen Doktrinen, mit neuen Göttern, mit neuen Erd- und Himmelskräften; statt mit einer politischen müßte das Ausland mit einer sozialen Revolution in den Kampf treten. Die Klugheit dürfte daher den alliierten Mächten raten, das jetzige Regiment in Frankreich zu unterstützen, damit nicht weit gefährlichere und kontagiösere Elemente entzügelt werden und sich geltend machen. Die Gottheit selbst gibt ja ihren Stellvertretern ein so belehrendes Beispiel: der jüngste Mordversuch zeigt, wie die Vorsehung dem Haupte Ludwig Philipps einen ganz besondern Schutz angedeihen läßt... sie schützt den großen Spritzenmeister, der die Flamme dämpft und einen allgemeinen Weltbrand verhütet.

Ich zweifle nicht, daß es dem Marschall Soult gelingen wird, die innere Ruhe zu sichern. Durch seine Kriegsrüstungen hat ihm Thiers genug Soldaten hinterlassen, die freilich ob der veränderten Bestimmung sehr mißmutig sind. Wird er auf letztere zählen können, wenn das Volk mit bewaffnetem Ungestüm den Krieg begehrt? Werden die Soldaten dem Kriegsgelüste des eigenen Herzens widerstehen können und sich lieber mit ihren Brüdern als mit den Fremden schlagen? Werden sie den Vorwurf der Feigheit ruhig anhören können? Werden sie nicht ganz den Kopf verlieren, wenn plötzlich der tote Feldherr von St. Helena anlangt? Ich wollte, der Mann läge schon ruhig unter der Kuppel des Invalidendoms und wir hätten die Leichenfeier glücklich überstanden! –

Das Verhältnis Guizots zu den beiden obengenannten Trägern des Staates werde ich späterhin besprechen. Auch läßt sich noch nicht bestimmen, inwieweit er beide durch die Ägide seines Wortes zu schirmen denkt. Sein Rednertalent dürfte in einigen Wochen stark genug in Anspruch genommen werden, und wenn die Kammer, wie es heißt, über den casus belli ein Prinzip aufstellen wird, kann der gelehrte Mann seine Kenntnisse aufs glänzendste entwickeln. Die Kammer wird nämlich die Erklärung der koalisierten Mächte, daß sie bei der Pazifikation des Orients keine Territorialvergrößerungen und sonstige Privatvorteile beabsichtigen, in besondere Erwägung ziehen und jeden faktischen Widerspruch mit jener Erklärung als einen casus belli feststellen. Über die Rolle, die Thiers bei dieser Gelegenheit spielen wird, und ob er dem alten Nebenbuhler Guizot wieder mit all seiner Sprachgewalt entgegenzutreten gedenkt, kann ich Ihnen ebenfalls erst später berichten.

Guizot hat einen schweren Stand, und ich habe Ihnen schon oft gesagt, daß ich großes Mitleid für ihn empfinde. Er ist ein wackerer, festgesinnter Mann, und Calamatta hat in einem vortrefflichen Porträt sein edles Äußere sehr getreu abkonterfeit. Ein starrer, puritanischer Kopf, angelehnt an eine steinerne Wand – bei einer hastigen Bewegung des Kopfes nach hinten könnte er sich sehr beschädigen. Das Porträt ist an den Fenstern von Goupil und Rittner ausgestellt. Es wird viel betrachtet, und Guizot muß schon in effigie viel ausstehen von den maliziösen Zungen.






© Wolfgang Fricke