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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XXV

Paris, 6. November 1840


Über die Juliusrevolution und den Anteil, den Ludwig Philipp daran genommen, ist jetzt ein Buch erschienen, welches die allgemeine Aufmerksamkeit erregt und überall besprochen wird. Es ist dies der erste Teil von Louis Blancs »Histoire de dix ans«. Ich habe das Werk noch nicht zu Gesicht bekommen; sobald ich es gelesen, will ich versuchen, ein selbständiges Urteil darüber zu fällen. Heute berichte ich Ihnen bloß, was ich von vornherein über den Verfasser und seine Stellung sagen kann, damit Sie den rechten Standpunkt gewinnen, von wo aus Sie genau ermessen mögen, wieviel Anteil der Parteigeist an dem Buche hat und wieviel Glauben Sie seinem Inhalt schenken oder verweigern können.

Der Verfasser, Herr Louis Blanc, ist noch ein junger Mann, höchstens einige dreißig Jahre alt, obgleich er seinem Äußern nach wie ein kleiner Junge von dreizehn Jahren aussieht. In der Tat, seine überaus winzige Gestalt, sein rotbäckiges, bartloses Gesichtchen und auch seine weichlich zarte, noch nicht zum Durchbruch gekommene Stimme geben ihm das Ansehen eines allerliebsten Bübchens, das eben der dritten Schulklasse entsprungen und seinen ersten schwarzen Frack trägt, und doch ist er eine Notabilität der republikanischen Partei, und in seinem Räsonnement herrscht eine Mäßigung, wie man sie nur bei Greisen findet. – Seine Physiognomie, namentlich die muntern Äuglein, deuten auf südfranzösischen Ursprung. Louis Blanc ist geboren zu Madrid, von französischen Eltern. Seine Mutter ist Korsikanerin, und zwar eine Pozzo di Borgo. Er ward erzogen in Rodez. Ich weiß nicht, wie lange er schon in Paris verweilt, aber bereits vor sechs Jahren traf ich ihn hier als Redakteur eines republikanischen Journals, »Le Monde« geheißen, und seitdem stiftete er auch die »Revue du progrès«, das bedeutendste Organ des Republikanismus. Sein Vetter Pozzo di Borgo, der ehemalige russische Gesandte, soll mit der Richtung des jungen Mannes nicht sehr zufrieden gewesen sein und darüber nicht selten Klage geführt haben. (Von jenem berühmten Diplomaten sind, nebenbei gesagt, sehr betrübende Nachrichten hier angelangt, und seine Geisteskrankheit scheint unheilbar zu sein; er verfällt manchmal in Raserei und glaubt alsdann, der Kaiser Napoleon wolle ihn erschießen lassen.) Louis Blancs Mutter und seine ganze mütterliche Familie lebt noch in Korsika. Doch das ist die leibliche Sippschaft, die des Blutes. Dem Geiste nach ist Louis Blanc zunächst verwandt mit Jean-Jacques Rousseau, dessen Schriften der Ausgangspunkt seiner ganzen Denk- und Schreibweise. Seine warme, nette, wahrheitliche Prosa erinnert an jenen ersten Kirchenvater der Revolution. »L'organisation du travail« ist eine Schrift von Louis Blanc, die bereits vor einiger Zeit die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Wenn auch nicht gründliches Wissen, doch eine glühende Sympathie für die Leiden des Volks zeigt sich in jeder Zeile dieses kleinen Opus, und es bekundet sich darin zu gleicher Zeit jene Vorliebe für unbeschränkte Herrscherei, jene gründliche Abneigung gegen genialen Personalismus, wodurch sich Louis Blanc von einigen seiner republikanischen Genossen, z.B. von dem geistreichen Pyat, auffallend unterscheidet. Diese Abweichung hat vor einiger Zeit fast ein Zerwürfnis hervorgebracht, als Louis Blanc nicht die absolute Preßfreiheit anerkennen wollte, die von jenen Republikanern in Anspruch genommen wird. Hier zeigte es sich ganz klar, daß diese letztern die Freiheit nur der Freiheit wegen lieben, Louis Blanc aber dieselbe vielmehr als ein Mittel zur Beförderung philanthropischer Zwecke betrachtet, so daß ihm auf diesem Standpunkte die gouvernementale Autorität, ohne welche keine Regierung das Heil des Volks fördern könne, weit mehr gilt als alle Befugnisse und Berechtigungen der individuellen Kraft und Größe. Ja, vielleicht schon wegen seiner Taille ist ihm jede große Persönlichkeit zuwider, und er schielt an sie hinauf mit jenem Mißtrauen, das er mit einem andern Schüler Rousseaus, dem seligen Maximilian Robespierre, gemein hat. Ich glaube, der Knirps möchte jeden Kopf abschlagen lassen, der das vorgeschriebene Rekrutenmaß überragt, versteht sich, im Interesse des öffentlichen Heils, der allgemeinen Gleichheit, des sozialen Volksglücks. Er selbst ist mäßig, scheint dem eignen kleinen Körper keine Genüsse zu gönnen, und er will daher im Staate allgemeine Küchengleichheit einführen, wo für uns alle dieselbe spartanische schwarze Suppe gekocht werden soll und, was noch schrecklicher, wo der Riese auch dieselbe Portion bekäme, deren sich Bruder Zwerg zu erfreuen hätte. Nein, dafür dank ich, neuer Lykurg! Es ist wahr, wir sind alle Brüder, aber ich bin der große Bruder, und ihr seid die kleinen Brüder, und mir gebührt eine bedeutendere Portion. Louis Blanc ist ein spaßhaftes Kompositum von Liliputaner und Spartaner. Jedenfalls traue ich ihm eine große Zukunft zu, und er wird eine Rolle spielen, wenn auch eine kurze. Er ist ganz dazu gemacht, der große Mann der Kleinen zu sein, die einen solchen mit Leichtigkeit auf ihren Schultern zu tragen vermögen, während Menschen von kolossalem Zuschnitt, ich möchte fast sagen, Geister von starker Korpulenz, ihnen eine zu schwere Last sein möchten.

Das neue Buch von Louis Blanc soll vortrefflich geschrieben sein, und da es eine Menge unbekannter und boshafter Anekdoten enthält, hat es schon ein stoffartiges Interesse für die schadenfrohe große Menge. Die Republikaner schwelgen darin mit Wonne; die misère, die Kleinheit jener regierenden Bourgeoisie, die sie stürzen wollen, ist hier sehr ergötzlich aufgedeckt. Für die Legitimisten aber ist das Buch wahrer Kaviar, denn der Verfasser, der sie selbst verschont, verhöhnt ihre bürgerlichen Besieger und wirft vergifteten Kot auf den Königsmantel von Ludwig Philipp. Sind die Geschichten, die Louis Blanc von ihm erzählt, falsch oder wahr? Ist letzteres der Fall, so hätte die große Nation der Franzosen, die soviel von ihrem Point d'honneur spricht, sich seit zehn Jahren von einem gewöhnlichen Gaukler, von einem gekrönten Bosco regieren und repräsentieren lassen. Es wird nämlich in jenem Buche folgendes erzählt: Den 1. August, als Karl X. den Herzog von Orleans zum Lieutenant-General ernannt, habe sich Dupin zu letzterm nach Neuilly begeben und ihm vorgestellt, daß er, um dem gefährlichen Verdacht der Zweideutigkeit zu entgehen, auf eine entschiedene Weise mit Karl X. brechen und ihm einen bestimmten Absagebrief schreiben müsse. Ludwig Philipp habe dem Rate Dupins seinen ganzen Beifall geschenkt und ihn selbst gebeten, einen solchen Brief für ihn zu redigieren; dieses sei geschehen, und zwar in den derbsten Ausdrücken, und Ludwig Philipp, im Begriff, den schon mit einem Adreßkuverte versehenen Brief zu versiegeln und das Siegellack bereits an die Wachskerze haltend, habe sich plötzlich zu Dupin gewandt mit den Worten: »In wichtigen Fällen konsultiere ich immer meine Frau, ich will ihr erst den Brief vorlesen, und findet er Beifall, so schicken wir ihn gleich ab.« Hierauf habe er das Zimmer verlassen, und nach einer Weile mit dem Briefe zurückkehrend, habe er denselben schnell versiegelt und unverzüglich an Karl X. abgeschickt. Aber nur das Adreßkuvert sei dasselbe gewesen, dem plump Dupinschen Briefe jedoch habe der fingerfertige Künstler ein ganz demütiges Schreiben substituiert, worin er, seine Untertanentreue beteuernd, die Ernennung als Lieutenant-General annahm und den König beschwor, zugunsten seines Enkels zu abdizieren. Die nächste Frage ist nun: Wie ward dieser Betrug entdeckt? Hierauf hat Herr Louis Blanc einem Bekannten von mir mündlich die Antwort erteilt: Herr Berryer, als er nach Prag zu Karl X. reiste, habe demselben ehrfurchtsvoll vorgestellt, daß Seine Majestät sich einst mit der Abdikation etwas zu sehr übereilt, worauf ihm Se. Majestät, um sich zu justifizieren, den Brief zeigte, den ihm zu jener Zeit der Herzog von Orleans geschrieben; den Rat desselben habe er um so eifriger befolgt, da er in ihm den Lieutenant-General des Königreichs anerkannt hatte. Es ist also Herr Berryer, welcher jenen Brief gesehen hat und auf dessen Autorität die ganze Anekdote beruht. Für die Legitimisten ist diese Autorität gewiß hinreichend, und sie ist es auch für die Republikaner, die alles glauben, was der legitime Haß gegen Ludwig Philipp erfindet. Wir sahen dieses noch jüngst, als eine verrufene Vettel die bekannten falschen Briefe schmiedete, bei welcher Gelegenheit Herr Berryer sich bereits als Advokat der Fälschung in vollem Glanze zeigte. Wir, die wir weder Legitimist noch Republikaner sind, wir glauben nur an das Talent des Herrn Berryer, an sein wohltönendes Organ, an seinen Sinn für Spiel und Musik, und ganz besonders glauben wir an die ungeheuren Summen, womit die legitimistische Partei ihren großen Sachwalter honoriert.

Was Ludwig Philipp betrifft, so haben wir in diesen Blättern oft genug unsre Meinung über ihn ausgesprochen. Er ist ein großer König, obgleich ähnlicher dem Odysseus als dem Ajax, dem wütenden Autokraten, der im Zwist mit dem erfindungsreichen Dulder gar kläglich unterliegen mußte. Er hat aber die Krone Frankreichs nicht wie ein Schelm eskamotiert, sondern die bitterste Notwendigkeit, ich möchte sagen, die Ungnade Gottes drückte ihm die Krone aufs Haupt, in einer verhängnisvollen Schreckensstunde. Freilich, er hat bei dieser Gelegenheit ein bißchen Komödie gespielt, er meinte es nicht ganz ehrlich mit seinen Kommittenten, mit den Juliushelden, die ihn aufs Schild erhoben – aber meinten es diese so ganz ehrlich mit ihm, dem Orleans? Sie hielten ihn für einen bloßen Hampelmann, sie setzten ihn lustig auf den roten Sessel, im festen Glauben, ihn mit leichter Mühe wieder herabwerfen zu können, wenn er sich nicht gelenkig genug an den Drähten regieren ließe oder wenn es ihnen gar einfiele, die Republik, das alte Stück, wieder aufzuführen. Aber diesmal, wie ich bereits mal gesagt habe, war es das Königtum selbst, welches die Rolle des Junius Brutus spielte, um die Republikaner zu täuschen, und Ludwig Philipp war klug genug, die Maske der schafmütigsten Einfalt vorzunehmen, mit dem großen sentimentalen Parapluie unterm Arm wie Staberle durch die Gassen von Paris zu schlendern, Bürger Krethi und Bürger Plethi die ungewaschenen Hände zu schütteln und zu lächeln und sehr gerührt zu sein. Er spielte wirklich damals eine kuriose Rolle, und als ich kurz nach der Juliusrevolution hierherkam, hatte ich noch oft Gelegenheit, darüber zu lachen. Ich erinnere mich noch sehr gut, daß ich bei meiner Ankunft gleich nach dem Palais Royal eilte, um Ludwig Philipp zu sehen. Der Freund, der mich führte, erzählte mir, daß der König jetzt nur zu bestimmten Stunden auf der Terrasse erscheine; früher aber, noch vor wenigen Wochen, habe man ihn zu jeder Zeit sehen können, und zwar für fünf Francs. »Für fünf Francs!« – rief ich mit Verwunderung – »zeigt er sich denn für Geld?« – »Nein, aber er wird für Geld gezeigt, und es hat damit folgende Bewandtnis: Es gibt eine Sozietät von Claqueurs, marchands de contremarques und sonstigem Lumpengesindel, die jedem Fremden anbieten, ihm für fünf Francs den König zu zeigen; gäbe man ihnen zehn Francs, so werde man ihn sehen, wie er die Augen gen Himmel richtet und die Hand beteuernd aufs Herz legt; gäbe man aber zwanzig Francs, so solle er auch die Marseillaise singen.« Gab man nun jenen Kerls ein Fünffrankenstück, so erhoben sie ein jubelndes Vivatrufen unter den Fenstern des Königs, und Höchstderselbe erschien auf der Terrasse, verbeugte sich und trat wieder ab. Hatte man jenen Kerls zehn Francs gegeben, so schrien sie noch viel lauter und gebärdeten sich wie besessen, während der König erschien, welcher alsdann zum Zeichen seiner stummen Rührung die Augen gen Himmel richtete und die Hand beteuernd aufs Herz legte. Die Engländer aber ließen es sich manchmal zwanzig Francs kosten, und dann ward der Enthusiasmus aufs höchste gesteigert, und sobald der König auf der Terrasse erschien, ward die Marseillaise angestimmt und so fürchterlich gegrölt, bis Ludwig Philipp, vielleicht nur, um dem Gesang ein Ende zu machen, sich verbeugte, die Augen gen Himmel richtete, die Hand aufs Herz legte und die Marseillaise mitsang. Ob er auch mit dem Fuße den Takt schlug, wie behauptet wird, weiß ich nicht. Ich kann überhaupt die Wahrheit dieser Anekdote nicht verbürgen. Der Freund, der sie mir erzählte, ist seit sieben Jahren tot; seit sieben Jahren hat er nicht gelogen. Es ist also nicht Herr Berryer, auf dessen Autorität ich mich berufe.






© Wolfgang Fricke