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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XXXI

Paris, 13. Februar 1841


Sie gehen jeder Frage direkt auf den Leib und zerren daran so lange herum, bis sie entweder gelöst oder als unauflösbar beseitigt wird. Das ist der Charakter der Franzosen, und ihre Geschichte entwickelt sich daher wie ein gerichtlicher Prozeß. Welche logische, systematische Aufeinanderfolge bieten alle Vorgänge der französischen Revolution! In diesem Wahnsinn war wirklich Methode, und die Historiographen, die, nach dem Vorbild von Mignet, dem Zufall und den menschlichen Leidenschaften wenig Spielraum gestattend, die tollsten Erscheinungen seit 1789 als ein Resultat der strengsten Notwendigkeit darstellen – diese sogenannte fatalistische Schule ist in Frankreich ganz an ihrem Platz, und ihre Bücher sind ebenso wahrhaft wie leichtfaßlich. Die Anschauungs- und Darstellungsweise dieser Schriftsteller, angewendet auf Deutschland, würde jedoch sehr irrtumreiche und unbrauchbare Geschichtswerke hervorbringen. Denn der Deutsche, aus Scheu vor aller Neuerung, deren Folgen nicht klar zu ermitteln sind, geht jeder bedeutenden politischen Frage so lange wie möglich aus dem Wege oder sucht ihr durch Umwege eine notdürftige Vermittlung abzugewinnen, und die Fragen häufen und verwickeln sich unterdessen bis zu jenem Knäuel, welcher am Ende vielleicht, wie jener gordische, nur durch das Schwert gelöst werden kann. Der Himmel behüte mich, dem großen Volk der Deutschen hiermit einen Vorwurf machen zu wollen! Weiß ich doch, daß jener Mißstand aus einer Tugend hervorgeht, die den Franzosen fehlt. Je unwissender ein Volk, desto leichter stürzt es sich in die Strömung der Tat; je wissenschaftsreicher und nachdenklicher ein Volk, desto länger sondiert es die Flut, die es mit klugen Schritten durchwatet, wenn es nicht gar zögernd davor stehenbleibt, aus Furcht vor verborgenen Untiefen oder vor der erkältenden Nässe, die einen gefährlichen Nationalschnupfen verursachen könnte. Am Ende ist auch wenig daran gelegen, daß wir solchermaßen nur langsam fortschreiten oder durch Stillstand einige hundert Jährchen verlieren, denn dem deutschen Volk gehört die Zukunft, und zwar eine sehr lange, bedeutende Zukunft. Die Franzosen handeln so schnell und handhaben die Gegenwart mit solcher Eile, weil sie vielleicht ahnen, daß für sie die Dämmerung heranbricht: hastig verrichten sie ihr Tagwerk. Aber ihre Rolle ist noch immer ziemlich schön, und die übrigen Völker sind doch nur das verehrungswürdige Publikum, das der französischen Staats- und Volkskomödie zuschaut. Dieses Publikum freilich wandelt zuweilen das Gelüste an, ein bißchen laut seinen Beifall oder Tadel auszusprechen, wo nicht gar auf die Szene zu steigen und mitzuspielen; aber die Franzosen bleiben doch immer die Hauptakteurs im großen Weltdrama, man mag ihnen Lorbeerkränze oder faule Äpfel an den Kopf werfen. »Mit Frankreich ist es aus« – mit diesen Worten läuft hier mancher deutsche Korrespondent herum und prophezeit den Untergang des heutigen Jerusalems; aber er selber fristet doch sein kümmerliches Leben durch Berichterstattung dessen, was diese so gesunkenen Franzosen täglich schaffen und tun, und seine respektiven Kommittenten, die deutschen Zeitungsredaktionen, würden ohne Berichte aus Paris keine drei Wochen lang ihre Journalspalten füllen können. Nein, Frankreich hat noch nicht geendet, aber – wie alle Völker, wie das Menschengeschlecht selbst – es ist nicht ewig, es hat vielleicht schon seine Glanzperiode überlebt, und es geht jetzt mit ihm eine Umwandlung vor, die sich nicht ableugnen läßt: auf seiner glatten Stirn lagern sich diverse Runzeln, das leichtsinnige Haupt bekommt graue Haare, senkt sich sorgenvoll und beschäftigt sich nicht mehr ausschließlich mit dem heutigen Tage – es denkt auch an morgen.

Der Kammerbeschluß über die Fortifikation von Paris beurkundet eine solche Übergangsperiode des französischen Volksgeistes. Die Franzosen haben in der letzten Zeit sehr viel gelernt, sie verloren dadurch alle Lust des blinden Hinausstürmens in die gefährliche Fremde. Sie wollen jetzt sich selber zu Hause verschanzen gegen die eventuellen Angriffe der Nachbarn. Auf dem Grabe des kaiserlichen Adlers ist ihnen der Gedanke gekommen, daß der bürgerkönigliche Hahn nicht unsterblich sei. Frankreich lebt nicht mehr in dem kecken Rausche seiner unüberwindlichen Obmacht: es ward ernüchtert durch das aschermittwochliche Bewußtsein seiner Besiegbarkeit, und ach, wer an den Tod denkt, ist schon halb gestorben! Die Befestigungswerke von Paris sind vielleicht der Riesensarg, den der Riese sich selber dekretierte, in trüber Ahnung. Es mag jedoch noch eine gute Weile dauern, ehe seine Sterbestunde schlägt, und manchem Nichtriesen dürfte er zuvor die tödlichsten Hiebe versetzen. Jedenfalls wird er einst durch die klirrende Wucht seines Hinsinkens den Erdboden schüttern machen, und noch furchtbarer als im Leben wird er durch seine postumen Werke, als nachtwandelndes Gespenst, seine Feinde ängstigen. Ich bin überzeugt, im Fall man Paris zerstörte, würden seine Bewohner, wie einst die Juden, sich in die ganze Welt zerstreuen und dadurch noch erfolgreicher die Saat der gesellschaftlichen Umwandlung verbreiten.

Die Befestigung von Paris ist das wichtigste Ereignis unserer Zeit, und die Männer, die in der Deputiertenkammer dafür oder dagegen stimmten, haben auf die Zukunft den größten Einfluß geübt. An diese enceinte continue, an diese forts détachés knüpft sich jetzt das Schicksal des französischen Volks. Werden diese Bauten vor dem Gewitter schützen, oder werden sie die Blitze noch verderblicher anziehen? Werden sie der Freiheit oder der Knechtschaft Vorschub leisten? Werden sie Paris vor Überfall retten oder dem Zerstörungsrechte des Kriegs unbarmherzig bloßstellen? Ich weiß es nicht, denn ich habe weder Sitz noch Stimme im Rate der Götter. Aber soviel weiß ich, daß die Franzosen sich sehr gut schlagen würden, wenn sie einst Paris verteidigen müßten gegen eine dritte Invasion. Die zwei frühern Invasionen würden nur dazu gedient haben, den Grimm der Gegenwehr zu steigern. Ob Paris, wenn es befestigt gewesen wäre, jene zwei ersten Male widerstanden hätte, wie in der Kammer behauptet ward, möchte ich aus guten Gründen bezweifeln. Napoleon, geschwächt durch alle möglichen Siege und Niederlagen, war nicht imstande, dem andrängenden Europa die Zaubermittel jener Idee, »welche Heere aus dem Boden stampft«, entgegenzusetzen; er hatte nicht mehr Kraft genug, die Fesseln zu brechen, womit er selber jene Idee angekettet; die Alliierten waren es, die bei der Einnahme von Paris jene gebundene Idee in Freiheit setzten. Die französischen Liberalen und Ideologen handelten gar nicht so dumm, gar nicht so närrisch, als sie dem bedrängten Imperator zu seiner Verteidigung keinen Beistand leisteten, denn dieser war ihnen weit gefährlicher als alle jene fremden Helden, die doch am Ende mit Geld und guten Worten abziehen mußten und nur einen matten Statthalter hinterließen, dessen man sich auch mit der Zeit entledigen konnte, wie im Julius 1830 wirklich geschah, seit welcher Zeit die Ideen der Revolution wieder in Paris installiert wurden. Die Macht jener Ideen ist es, die einer dritten Invasion die Stirne bieten würde und die jetzt, gewitzigt durch bittere Erfahrungen, auch die materiellen Bollwerke der Verteidigung nicht verschmäht.

Hier stoßen wir auf die Spaltung, welche in diesem Augenblick unter den Männern der radikalen Partei, in betreff der Befestigung von Paris, herrscht und die leidenschaftlichsten Debatten hervorruft. Bekanntlich hat die Fraktion der Republikaner, die durch den »National« repräsentiert wird, den Gesetzvorschlag der Befestigung am wirksamsten verfochten. Eine andere Fraktion, die ich die Linke der Republikaner nennen möchte, erhebt sich dagegen mit dem wildesten Zorn, und da sie in der Presse nur wenige Organe besitzt, so ist bis jetzt die »Revue du progrès« das einzige Journal, wo sie sich aussprechen konnte. Die darauf bezüglichen Artikel flossen aus der Feder Louis Blancs und sind der höchsten Beachtung wert. Wie ich höre, beschäftigt sich auch Arago mit einer Schrift über denselben Gegenstand. Diese Republikaner sträuben sich gegen den Gedanken, daß die Revolution zu materiellen Bollwerken ihre Zuflucht nehmen müsse, sie sehen darin eine Schwächung der moralischen Wehrmittel, eine Erschlaffung der frühern dämonischen Energie, und sie möchten lieber, wie einst der gewaltige Konvent, den Sieg dekretieren als Sicherheitsanstalten treffen gegen die Niederlage. Es sind in der Tat die Traditionen des Wohlfahrtsausschusses, welche diesen Leuten vorschweben, statt daß die Messieurs des »National« vielmehr die Traditionen der Kaiserzeit im Sinne tragen. Ich sagte eben »Messieurs«, denn dies ist der Spottname, womit jene, die sich Citoyens nennen, ihre Antagonisten titulieren. Terroristisch sind im Grunde beide Fraktionen, nur daß die Messieurs des »National« lieber durch Kanonen, die Citoyens hingegen lieber durch die Guillotine agieren möchten. Es ist leicht begreiflich, daß erstere eine große Sympathie für einen Gesetzvorschlag empfinden mußten, wodurch die Revolution, zur Zeit der Not, in einem rein militärischen Gewande erscheinen könnte und die Kanonen imstande wären, die Guillotine im Zaume zu halten! So, und nicht anders, erkläre ich mir den Eifer, womit sich der »National« für die Befestigung von Paris aussprach.

Sonderbar! diesmal begegneten sich der »National«, der König und Thiers in dem heißesten Wunsche für dieselbe Sache. Und doch ist dieses Begegnis sehr natürlich. Laßt uns durch Zumutung arglistiger Hintergedanken keinen von diesen dreien verleumden. Wie sehr auch persönliche Neigungen im Spiele sind, so handelten doch alle drei zunächst im Interesse Frankreichs: Ludwig Philipp ebensogut wie Thiers und die Herren des »National«. Jedoch, wie gesagt, persönliche Neigungen kamen ins Spiel. Ludwig Philipp, dieser abgesagte Feind des Krieges, des Zerstörens, ist ein ebenso leidenschaftlicher Freund des Bauens, er liebt alles, wobei Hammer und Kelle in Bewegung gesetzt wird, und der Plan der Befestigung von Paris schmeichelte dieser angebornen Passion. Aber Ludwig Philipp ist auch der Repräsentant der Revolution, er mag es wollen oder nicht, und wo diese bedroht wird, steht seine eigene Existenz in Frage. Er muß sich in Paris halten, um jeden Preis. Denn bemächtigen sich die fremden Potentaten seiner Hauptstadt, so würde seine Legitimität ihn nicht so inviolabel schützen wie jene Könige von Gottes Gnaden, die überall, wo sie sind, den Mittelpunkt ihres Reiches bilden. Fiele Paris gar in die Hände der Republikaner, infolge einer Revolte, so würden die fremden Mächte vielleicht mit Heeresmacht heranziehen, aber schwerlich, um eine Restauration zu versuchen zugunsten Ludwig Philipps, welcher im Julius 1830 König der Franzosen ward, nicht parceque Bourbon, sondern quoique Bourbon! Dies fühlt der kluge Herrscher, und er verschanzt sich in seinem Malapartus. Daß die Befestigung von Paris, wie für ihn selber, so auch für Frankreich heilsam und notwendig, ist sein fester Glaube, und neben der Privatlaune und dem Selbsterhaltungstrieb leitete ihn hier eine echte und wahrhafte Vaterlandsliebe. Jeder König ist ja ein natürlicher Patriot und liebt sein Land, in dessen Geschichte sein Leben wurzelt und mit dessen Schicksalen es verwachsen ist. Ludwig Philipp ist ein Patriot, und zwar im bürgerlichen, familienväterlichen, neufränkischen Sinne, wie denn überhaupt in den Orleans eine ganz andere Art des Patriotismus sich entwickelte als in den Bourbonen der ältern Linie, die mehr vom historischen Stammesstolze, vom mittelalterlichen Adeltum, beseelt waren als von eigentlicher Liebe für Frankreich.

Da diese Vaterlandsliebe von den Franzosen als die höchste Tugend angesehen wird, so war es eine sehr wirksame Büberei, daß die Feinde des Königs seine patriotischen Gesinnungen durch verfälschte Briefe verdächtigten. Ja, diese famosen Briefe sind zum Teil verfälscht, zum Teil ganz falsch, und ich begreife nicht, wie manche ehrliche Leute unter den Republikanern nur einen Augenblick an ihre Echtheit glauben konnten. Aber diese Leute sind immer die Düpes der Legitimisten, welche die Waffen schmieden, womit jene das Leben oder den Leumund des Königs zu meucheln suchen. Der Republikaner ist immer bereit, sein Leben bei jeder gefährlichen Untat aufs Spiel zu setzen; aber er ist doch nur ein täppisches Werkzeug fremder Erfindsamkeit, die für ihn denkt und rechnet: man kann im wahren Sinne des Wortes von den Republikanern behaupten, daß sie das Pulver nicht erfunden haben, womit sie auf den König schießen.

Ja, wer in Frankreich das Nationalgefühl besitzt und begreift, übt den unwiderstehlichsten Zauber auf die Masse und kann sie nach Belieben lenken und treiben, ihnen das Geld oder das Blut abzapfen und sie in alle möglichen Uniformen stecken, in die Rittertracht des Ruhmes oder in die Livree der Knechtschaft. Das war das Geheimnis Napoleons, und sein Geschichtschreiber Thiers hat es ihm abgelauscht, abgelauscht mit dem Herzen, nicht mit dem bloßen Verstande; denn nur das Gefühl versteht das Gefühl. Thiers ist wahrhaft durchglüht vom französischen Nationalgefühl, und wer dieses gemerkt hat, versteht seine Macht und Unmacht, seine Irrtümer und Vorzüge, seine Größe und Kleinheit und sein Anrecht auf die Zukunft. Dieses Nationalgefühl erklärt alle Akte seines Ministeriums: hier sehen wir die Translation der kaiserlichen Asche, die glorreichste Feier des Heldentums, neben der kläglichen Vertretung jenes kläglichen Konsuls von Damaskus, welcher mittelalterliche Justizgreuel unterstützte, aber ein Repräsentant von Frankreich war; hier sehen wir das leichtsinnigste Aufbrausen und Alarmschlagen, als der Londoner Traktat divulgiert und Frankreich beleidigt ward, und daneben die besonnene Aktivität der Bewaffnung und jenen kolossalen Entschluß der Fortifikation von Paris. Ja, Thiers war es, welcher letztere begann und für dieses Beginnen auch nachträglich das Gesetz in der Kammer eroberte. Nie sprach er mit größerer Beredsamkeit, nie hat er mit feinerer Taktik einen parlamentarischen Sieg erfochten. Es war eine Schlacht, und im letzten Augenblick war die Entscheidung sehr zweifelhaft; aber das Feldherrnauge des Thiers entdeckte schnell die Gefahr, die dem Gesetz drohte, und ein improvisiertes Amendement gab den Ausschlag. Ihm gebührt die Ehre des Tages.

Es fehlte nicht an Leuten, die den Eifer, den Thiers für den Gesetzentwurf an den Tag legte, nur egoistischen Motiven zuschrieben. Aber hier war wirklich nur der Patriotismus vorwaltend, und ich wiederhole es, Herr Thiers ist durchdrungen von diesem Gefühle. Er ist ganz der Mann der Nationalität, nicht der Revolution, als deren Sohn er sich gern darstellt. Mit dieser Kindschaft hat es freilich seine Richtigkeit, die Revolution ist seine Mutter, aber man darf nicht überschwengliche Sympathien daraus herleiten. Thiers liebt zunächst das Vaterland, und ich glaube, er würde diesem Gefühle alle mütterlichen Interessen aufopfern. Sein Enthusiasmus ist gewiß sehr abgekühlt für den ganzen Freiheitsspektakel, der nur noch als ein verhallendes Echo in seiner Seele nachklingt. Er hat ja als Geschichtschreiber alle Phasen desselben im Geiste mitgelebt, als Staatsmann mußte er mit der fortgesetzten Bewegung tagtäglich kämpfen und ringen, und nicht selten mag diesem Sohn der Revolution die Mutter sehr lästig, sehr fatal geworden sein:Gebreste denn er weiß recht gut, daß die alte Frau kapabel wäre, ihm selber den Kopf abschlagen zu lassen. – Sie ist nämlich nicht von sanftem Naturell; ein Berliner würde sagen: sie hat kein Gemüt. Wenn die Herren Söhne sie zuweilen schlecht behandeln, so muß man nicht vergessen, daß sie selber, die alte Frau, für ihre Kinder niemals dauernde Zärtlichkeit bewiesen und die besten immer ermordet hat.






© Wolfgang Fricke