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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XXXV

Paris, 19. Mai 1841


Vorigen Sonnabend hielt diejenige Sektion des Institut Royal, welche sich Académie des sciences morales et politiques nennt, eine ihrer merkwürdigsten Sitzungen. Der Schauplatz war, wie gewöhnlich, jene Halle des Palais Mazarin, die durch ihre hohe Wölbung, sowie durch das Personal, das manchmal dort seinen Sitz nimmt, so oft an die Kuppel des Invalidendoms erinnerte. In der Tat, die andern Sektionen des Instituts, die dort ihre Vorträge halten, zeugen nur von greisenhafter Ohnmacht, aber die obenerwähnte Académie des sciences morales et politiques macht eine Ausnahme und trägt den Charakter der Frische und Kraft. Es herrscht in dieser letzten Sektion ein großartiger Sinn, während die Einrichtung und der Gesamtgeist des Institut Royal sehr kleinlich ist. Ein Witzling bemerkte sehr richtig: »Diesmal ist der Teil größer als das Ganze.« In der Versammlung vom vorigen Sonnabend atmete eine ganz besonders jugendliche Regung: Cousin, welcher präsidierte, sprach mit jenem mutigen Feuer, das manchmal nicht sehr wärmt, aber immer leuchtet; und gar Mignet, welcher das Gedächtnis des verstorbenen Merlin de Douai, des berühmten Juristen und Konventglieds, zu feiern hatte, sprach so blühend schön, wie er selbst aussieht. Die Damen, die den Sitzungen der Section des sciences morales et politiques immer in großer Anzahl beiwohnen, wenn ein Vortrag des schönen Secrétaire perpétuel angekündigt ist, kommen dorthin vielleicht mehr, um zu sehen, als um zu hören, und da viele darunter sehr hübsch sind, so wirkt ihr Anblick manchmal störend auf die Zuhörer. Was mich betrifft, so fesselte mich diesmal der Gegenstand der Mignetschen Rede ganz ausschließlich, denn der berühmte Geschichtschreiber der Revolution sprach wieder über einen der wichtigsten Führer der großen Bewegung, welche das bürgerliche Leben der Franzosen umgestaltet, und jedes Wort war hier ein Resultat interessanter Forschung. Ja, das war die Stimme des Geschichtschreibers, des wirklichen Chefs von Klios Archiven, und es schien, als hielt er in den Händen jene ewigen Tabletten, worin die strenge Göttin bereits ihre Urteilssprüche eingezeichnet. Nur in der Wahl der Ausdrücke und in der mildernden Betonung bekundete sich manchmal die traditionelle Lobpflicht des Akademikers. Und dann ist Mignet auch Staatsmann, und mit kluger Scheu mußten die Tagesverhältnisse berücksichtigt werden bei der Besprechung der jüngsten Vergangenheit. Es ist eine bedenkliche Aufgabe, den überstandenen Sturm zu beschreiben, während wir noch nicht in den Hafen gelangt sind. Das französische Staatsschiff ist vielleicht noch nicht so wohl geborgen, wie der gute Mignet meint. Unfern vom Redner, auf einer der Bänke mir gegenüber, sah ich Herrn Thiers, und sein Lächeln war für mich sehr bedeutungsvoll bei denjenigen Stellen, wo Mignet mit allzu großer Behagnis von der definitiven Begründung der modernen Zustände sprach: so lächelt Äolus, wenn Daphnis am windstillen Ufer des Meeres die friedliche Flöte bläst!

Die ganze Rede von Mignet dürfte Ihnen in kurzem gedruckt zu Gesicht kommen, und die Fülle des Inhalts wird Sie alsdann gewiß erfreuen; aber nimmermehr kann die bloße Lektüre den lebendigen Vortrag ersetzen, der, wie eine tiefsinnige Musik, im Zuhörer eine Reihenfolge von Ideen anregt. So klingt mir noch beständig im Gedächtnis eine Bemerkung, die der Redner in wenigen Worten hinwarf und die dennoch fruchtbar an wichtigen Gedanken ist. Er bemerkte nämlich, wie ersprießlich es sei, daß das neue Gesetzbuch der Franzosen von Männern abgefaßt worden, die aus den wilden Drangsalen der größten Staatsumwälzung soeben hervorgegangen und folglich die menschlichen Passionen und zeitlichen Bedürfnisse gründlichst kennengelernt hatten. Ja, beachten wir diesen Umstand, so will es uns bedünken, als begünstigte derselbe ganz besonders die jetzige französische Legislation, als verliehe er einen ganz außerordentlichen Wert jenem Code Napoléon und dessen Kommentarien, welche nicht wie andere Rechtsbücher von müßigen und kühlen Kasuisten angefertigt sind, sondern von glühenden Menschheitsrettern, die alle Leidenschaften in ihrer Nacktheit gesehen und in die Schmerzen aller neuern Lebensfragen durch die Tat eingeweiht worden. Von dem Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung hat die philosophische Schule in Deutschland ebenso unrichtige Begriffe wie die historische; erstere ist tot, und letztere hat noch nicht gelebt.

Die Rede, womit Victor Cousin vorigen Sonnabend die Sitzung der Akademie eröffnete, atmete einen Freiheitssinn, den wir immer mit Freude bei ihm anerkennen werden. Er ist übrigens in diesen Blättern von einem unsrer Kollegen so reichlich gelobhudelt worden, daß er vorderhand dessen genug haben dürfte. Nur soviel wollen wir erwähnen, daß der Mann, den wir früherhin nicht sonderlich liebten, uns in der letzten Zeit zwar keine währliche Zuneigung, aber eine bessere Anerkennung einflößte. Armer Cousin, wir haben dich früherhin sehr malträtiert, dich, der du immer für uns Deutsche so liebreich und freundlich warest. Sonderbar, eben während der treue Zögling der deutschen Schule, der Freund Hegels, unser Victor Cousin, in Frankreich Minister war, brach in Deutschland gegen die Franzosen jener blinde Groll los, der jetzt allmählich schwindet und vielleicht einst unbegreiflich sein wird. Ich erinnere mich, zu jener Zeit, vorigen Herbst, begegnete ich Herrn Cousin auf dem Boulevard des Italiens, wo er vor einem Kupferstichladen stand und die dort ausgestellten Bilder von Overbeck bewunderte. Die Welt war aus ihren Angeln gerissen, der Kanonendonner von Beirut, wie eine Sturmglocke, weckte alle Kampflust des Orients und des Okzidents, die Pyramiden Ägyptens zitterten, diesseits und jenseits des Rheins wetzte man die Säbel – und Victor Cousin, damaliger Minister von Frankreich, stand ruhig vor dem Bilderladen des Boulevard des Italiens und bewunderte die stillen, frommen Heiligenköpfe von Overbeck und sprach mit Entzücken von der Vortrefflichkeit deutscher Kunst und Wissenschaft, von unserem Gemüt und Tiefsinn, von unserer Gerechtigkeitsliebe und Humanität. »Aber um des Himmels willen«, unterbrach er sich plötzlich, wie aus einem Traum erwachend, »was bedeutet die Raserei, womit ihr in Deutschland jetzt plötzlich gegen uns schreit und lärmt?« Er konnte diese Berserkerwut nicht begreifen, und auch ich begriff nichts davon, und Arm in Arm über den Boulevard hinwandelnd, erschöpften wir uns in lauter Konjekturen über die letzten Gründe jener Feindseligkeit, bis wir an das Passage des Panoramas gelangten, wo Cousin mich verließ, um sich bei Marquis ein Pfund Schokolade zu kaufen.

Ich konstatiere mit besonderer Vorliebe die kleinsten Umstände, welche von der Sympathie zeugen, die ich in betreff Deutschlands bei den französischen Staatsmännern finde. Daß wir dergleichen bei Guizot antreffen, ist leicht erklärlich, da seine Anschauungsweise der unsrigen verwandt ist und er die Bedürfnisse und das gute Recht des deutschen Volks sehr gründlich begreift. Dieses Verständnis versöhnt ihn vielleicht auch mit unsern beiläufigen Verkehrtheiten: die Worte »Tout comprendre, c'est tout pardonner« las ich dieser Tage auf dem Petschaft einer schönen Dame. Guizot mag immerhin, wie man behauptet, von puritanischem Charakter sein, aber er begreift auch Andersfühlende und Andersdenkende. Sein Geist ist auch nicht poesiefeindlich eng und dumpf: dieser Puritaner war es, welcher den Franzosen eine Übersetzung des Shakespeare gab, und als ich vor mehren Jahren über den britischen Dichterkönig schrieb, wußte ich den Zauber seiner phantastischen Komödien nicht besser zu erörtern, als indem ich den Kommentar jenes Puritaners, des Stutzkopfs Guizot, wörtlich mitteilte.

Sonderbar! das kriegerische Ministerium vom 1. März, das jenseits des Rheines so verschrien ward, bestand zum größten Teil aus Männern, welche Deutschland mit dem treuesten Eifer verehrten und liebten. Neben jenem Victor Cousin, welcher begriffen, daß bei Immanuel Kant die beste Kritik der reinen Vernunft und bei Marquis die beste Schokolade zu finden, saß damals im Ministerrate Hr. v. Rémusat, der ebenfalls dem deutschen Genius huldigte und ihm ein besonderes Studium widmete. Schon in seiner Jugend übersetzte er mehrere deutsche dramatische Dichtungen, die er im »Théâtre étranger« abdrucken ließ. Dieser Mann ist ebenso geistreich wie ehrlich, er kennt die Gipfel und die Tiefen des deutschen Volkes, und ich bin überzeugt, er hat von dessen Herrlichkeit einen höhern Begriff als sämtliche Komponisten des Beckerschen Lieds, wo nicht gar als der große Niklas Becker selbst! – Was uns in der jüngsten Zeit besonders gut an Rémusat gefiel, war die unumwundene Weise, womit er den guten Leumund eines edlen Waffenbruders gegen verleumderische Insinuationen verteidigte.






© Wolfgang Fricke