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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XXXVI

Paris, 22. Mai 1841


Die Engländer hier schneiden sehr besorgliche Gesichter. »Es geht schlecht, es geht schlecht«, das sind die ängstlichen Zischlaute, die sie einander zuflüstern, wenn sie sich bei Galignani begegnen. Es hat in der Tat den Anschein, als wackle der ganze großbritannische Staat und sei dem Umsturz nahe, aber es hat nur den Anschein. Dieser Staat gleicht dem Glockenturm von Pisa: seine schiefe Stellung ängstigt uns, wenn wir hinaufblicken, und der Reisende eilt mit rascheren Schritten über den Domhof, fürchtend, der große Turm machte ihm unversehens auf den Kopf fallen. Als ich zur Zeit Cannings in London war und den wilden Meetings des Radikalismus beiwohnte, glaubte ich, der ganze Staatsbau stürze jetzt zusammen. Meine Freunde, welche England während der Aufregung der Reformbill besuchten, wurden dort von demselben Angstgefühl ergriffen. Andere, die dem Schauspiel der O'Connellschen Umtriebe und des katholischen Emanzipationslärms beiwohnten, empfanden ähnliche Beängstigung. Jetzt sind es die Korngesetze, welche einen so bedrohlichen Staatsuntergangssturm veranlassen – aber fürchte dich nicht, Sohn Albions:

Kracht's auch, bricht's doch nicht,
Bricht's auch, bricht's nicht mit dir!

Hier zu Paris herrscht in diesem Augenblick große Stille. Man wird es nachgerade müde, beständig von den falschen Briefen des Königs zu sprechen, und eine erfrischende Diversion gewährte uns die Entführung der spanischen Infantin durch Ignaz Gurowski, einen Bruder jenes famosen Adam Gurowski, dessen Sie sich vielleicht noch erinnern. Vorigen Sommer war Freund Ignaz in Mademoiselle Rachel verliebt; da ihm aber der Vater derselben, der von sehr guter jüdischer Familie ist, seine Tochter verweigerte, so machte er sich an die Prinzessin Isabella Fernanda von Spanien. Alle Hofdamen beider Kastilien, ja des ganzen Universums, werden die Hände vor Entsetzen über den Kopf zusammenschlagen: jetzt begreifen sie endlich, daß die alte Welt des traditionellen Respektes ein Ende hat!






© Wolfgang Fricke