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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XXXVII

Paris, 11. Dezember 1841


Jetzt, wo das Neujahr herannaht, der Tag der Geschenke, überbieten sich hier die Kaufmannsläden in den mannigfaltigsten Ausstellungen. Der Anblick derselben kann dem müßigen Flaneur den angenehmsten Zeitvertreib gewähren; ist sein Hirn nicht ganz leer, so steigen ihm auch manchmal Gedanken auf, wenn er hinter den blanken Spiegelfenstern die bunte Fülle der ausgestellten Luxus- und Kunstsachen betrachtet und vielleicht auch einen Blick wirft auf das Publikum, das dort neben ihm steht. Die Gesichter dieses Publikums sind so häßlich ernsthaft und leidend, so ungeduldig und drohend, daß sie einen unheimlichen Kontrast bilden mit den Gegenständen, die sie begaffen, und uns die Angst anwandelt, diese Menschen möchten einmal mit ihren geballten Fäusten plötzlich dreinschlagen und all das bunte, klirrende Spielzeug der vornehmen Welt mitsamt dieser vornehmen Welt selbst gar jämmerlich zertrümmern! Wer kein großer Politiker ist, sondern ein gewöhnlicher Flaneur, der sich wenig kümmert um die Nuance Dufaure und Passy, sondern um die Miene des Volks auf den Gassen, dem wird es zur festen Überzeugung, daß früh oder spät die ganze Bürgerkomödie in Frankreich mitsamt ihren parlamentarischen Heldenspielern und Komparsen ein ausgezischt schreckliches Ende nimmt und ein Nachspiel aufgeführt wird, welches das Kommunistenregiment heißt! Von langer Dauer freilich kann dieses Nachspiel nicht sein; aber es wird um so gewaltiger die Gemüter erschüttern und reinigen, es wird eine echte Tragödie sein.

Die letzten politischen Prozesse dürften manchem die Augen öffnen, aber die Blindheit ist gar zu angenehm. Auch will keiner an die Gefahren erinnert werden, die ihm die süße Gegenwart verleiden können. Deshalb grollen sie alle jenem Manne, dessen strenges Auge am tiefsten hinabblickt in die Schreckensnächte der Zukunft und dessen hartes Wort vielleicht manchmal zur Unzeit, wenn wir eben beim fröhlichsten Mahle sitzen, an die allgemeine Bedrohnis erinnert. Sie grollen alle jenem armen Schulmeister Guizot. Sogar die sogenannten Konservativen sind ihm abhold, zum größten Teil, und in ihrer Verblendung glauben sie ihn durch einen Mann ersetzen zu können, dessen heiteres Gesicht und gefällige Rede sie minder schreckt und ängstigt. Ihr konservativen Toren, die ihr nichts imstande seid zu konservieren als eben eure Torheit, ihr solltet diesen Guizot wie euren Augapfel schonen; ihr solltet ihm die Mücken abwedeln, die radikalen sowohl wie die legitimen, um ihn bei guter Laune zu erhalten; ihr solltet ihm auch manchmal Blumen schicken ins Hôtel des Capucines, aufheiternde Blumen, Rosen und Veilchen, statt ihm durch tägliches Nergeln dieses Logis zu verleiden oder gar ihn hinauszuintrigieren. An eurer Stelle hätte ich immer Angst, er möchte den glänzenden Quälnissen seines Ministerplatzes plötzlich entspringen und sich wieder hinaufretten in sein stilles Gelehrtenstübchen der Rue L'Évêque, wo er einst so idyllisch glücklich lebte unter seinen schafledernen und kalbledernen Büchern.

Ist aber Guizot wirklich der Mann, der imstande wäre, das hereinbrechende Verderben abzuwenden? Es vereinigen sich in der Tat bei ihm die sonst getrennten Eigenschaften der tiefsten Einsicht und des festen Willens er würde mit einer antiken Unerschütterlichkeit allen Stürmen Trotz bieten und mit modernster Klugheit die schlimmen Klippen vermeiden – aber der stille Zahn der Mäuse hat den Boden des französischen Staatsschiffes allzusehr durchlöchert, und gegen diese innere Not, die weit bedenklicher als die äußere, wie Guizot sehr gut begriffen, ist er unmächtig. Hier ist die Gefahr. Die zerstörenden Doktrinen haben in Frankreich zu sehr die unteren Klassen ergriffen – es handelt sich nicht mehr um Gleichheit der Rechte, sondern um Gleichheit des Genusses auf dieser Erde, und es gibt in Paris etwa 400000 rohe Fäuste, welche nur des Losungswortes harren, um die Idee der absoluten Gleichheit zu verwirklichen, die in ihren rohen Köpfen brütet. Von mehren Seiten hört man, der Krieg sei ein gutes Ableitungsmittel gegen solchen Zerstörungsstoff. Aber hieße das nicht Satan durch Beelzebub beschwören? Der Krieg würde nur die Katastrophe beschleunigen und über den ganzen Erdboden das Übel verbreiten, das jetzt nur an Frankreich nagt; – die Propaganda des Kommunismus besitzt eine Sprache, die jedes Volk versteht: die Elemente dieser Universalsprache sind so einfach wie der Hunger, wie der Neid, wie der Tod. Das lernt sich so leicht!

Doch laßt uns dieses trübe Thema verlassen und wieder zu den heitern Gegenständen übergehen, die hinter den Spiegelfenstern auf der Rue Vivienne oder den Boulevards ausgestellt sind. Das funkelt, das lacht und locht! Keckes Leben, ausgesprochen in Gold, Silber, Bronze, Edelstein, in allen möglichen Formen, namentlich in den Formen aus der Zeit der Renaissance, deren Nachbildung in diesem Augenblick eine herrschende Mode. Woher die Vorliebe für diese Zeit der Renaissance, der Wiedergeburt oder vielmehr der Auferstehung, wo die antike Welt gleichsam aus dem Grabe stieg, um dem sterbenden Mittelalter seine letzten Stunden zu verschönen? Empfindet unsre Jetztzeit eine Wahlverwandtschaft mit jener Periode, die, ebenso wie wir, in der Vergangenheit eine verjüngende Quelle suchte, lechzend nach frischem Lebenstrank? Ich weiß nicht, aber jene Zeit Franz' I. und seiner Geschmacksgenossen übt auf unser Gemüt einen fast schauerlichen Zauber, wie Erinnerung von Zuständen, die wir im Traum durchlebt; und dann liegt ein ungemein origineller Reiz in der Art und Weise, wie jene Zeit das wiedergefundene Altertum in sich zu verarbeiten wußte. Hier sehen wir nicht, wie in der Davidschen Schule, eine akademisch trockene Nachahmung der griechischen Plastik, sondern eine flüssige Verschmelzung derselben mit dem christlichen Spiritualismus. In den Kunst- und Lebensgestaltungen, die der Vermählung jener heterogensten Elemente ihr abenteuerliches Dasein verdankten, liegt ein so süßer melancholischer Witz, ein so ironischer Versöhnungskuß, ein blühender Übermut, ein elegantes Grauen, das uns unheimlich bezwingt, wir wissen nicht wie.

Doch wie wir heute die Politik den Kannegießern von Profession überlassen, so überlassen wir den patentierten Historikern die genauere Nachforschung, in welchem Grad unsere Zeit mit der Zeit der Renaissance verwandt ist; und als echte Flaneurs wollen wir auf dem Boulevard Montmartre vor einem Bilde stehenbleiben, das dort die Herren Goupil und Rittner ausgestellt haben und das gleichsam als der Kupferstichlöwe der Saison alle Blicke auf sich zieht. Es verdient in der Tat diese allgemeine Aufmerksamkeit: es sind »Die Fischer« von Léopold Robert, die dieser Kupferstich darstellt. Seit Jahr und Tag erwartete man denselben, und er ist gewiß eine köstliche Weihnachtsgabe für das große Publikum, dem das Originalbild unbekannt geblieben. Ich enthalte mich aller detaillierten Beschreibung dieses Werks, da es in kurzem ebenso bekannt sein wird wie die »Schnitter« desselben Malers, wozu es ein sinnreiches und anmutiges Seitenstück bildet. Wie dieses berühmte Bild eine sommerliche Kampagne darstellt, wo römische Landleute gleichsam auf einem Siegeswagen mit ihrem Erntesegen heimziehen, so sehen wir hier, auf dem letzten Bild von Robert, als schneidendsten Gegensatz, den kleinen winterlichen Hafen von Chioggia und arme Fischerleute, die, um ihr kärgliches Tagesbrot zu gewinnen, trotz Wind und Wetter sich eben anschicken zu einer Ausfahrt ins Adriatische Meer. Weib und Kind und die alte Großmutter schauen ihnen nach mit schmerzlicher Resignation – gar rührende Gestalten, bei deren Anblick allerlei polizeiwidrige Gedanken in unserm Herzen laut werden. Diese unseligen Menschen, die Leibeigenen der Armut, sind zu lebenslänglicher Mühsal verdammt und verkümmern in harter Not und Betrübnis. Ein melancholischer Fluch ist hier gemalt, und der Maler, sobald er das Gemälde vollendet hatte, schnitt er sich die Kehle ab. Armes Volk! armer Robert! – Ja, wie die »Schnitter« dieses Meisters ein Werk der Freude sind, das er im römischen Sonnenlicht der Liebe empfangen und ausgeführt hat, so spiegeln sich in seinen »Fischern« alle die Selbstmordgedanken und Herbstnebel, die sich, während er in der zerstörten Venezia hauste, über seine Seele lagerten. Wie uns jenes erstere Bild befriedigt und entzückt, so erfüllt uns dieses letztere mit empörungssüchtigem Unmut: dort malte Robert das Glück der Menschheit, hier malte er das Elend des Volks.

Ich werde nie den Tag vergessen, wo ich das Originalgemälde, »Die Fischer« von Robert, zum ersten Male sah. Wie ein Blitzstrahl aus unumwölktem Himmel hatte uns plötzlich die Nachricht seines Todes getroffen, und da jenes Bild, welches gleichzeitig anlangte, nicht mehr im bereits eröffneten Salon ausgestellt werden konnte, faßte der Eigentümer, Herr Paturle, den löblichen Gedanken, eine besondere Ausstellung desselben zum Besten der Armen zu veranstalten. Der Maire des zweiten Arrondissements gab dazu sein Lokal, und die Einnahme, wenn ich nicht irre, betrug über sechzehntausend Franken. (Mögen die Werke aller Volksfreunde so praktisch nach ihrem Tode fortwirken!) Ich erinnere mich, als ich die Treppe der Mairie hinaufstieg, um zu dem Expositionszimmer zu gelangen, las ich auf einer Nebentüre die Aufschrift: Bureau des décès. Dort im Saale standen sehr viele Menschen vor dem Bilde versammelt, keiner sprach, es herrschte eine ängstliche, dumpfe Stille, als läge hinter der Leinwand der blutige Leichnam des toten Malers. Was war der Grund, weshalb er sich eigenhändig den Tod gab, eine Tat, die im Widerspruch war mit den Gesetzen der Religion, der Moral und der Natur, heiligen Gesetzen, denen Robert sein ganzes Leben hindurch so kindlich Gehorsam leistete? Ja, er war erzogen im schweizerisch strengen Protestantismus, er hielt fest an diesem väterlichen Glauben mit unerschütterlicher Treue, und von religiösem Skeptizismus oder gar Indifferentismus war bei ihm keine Spur. Auch ist er immer gewissenhaft gewesen in der Erfüllung seiner bürgerlichen Pflichten, ein guter Sohn, ein guter Wirt, der seine Schulden bezahlte, der allen Vorschriften des Anstandes genügte, Rock und Hut sorgsam bürstete, und von Immoralität kann ebenfalls bei ihm nicht die Rede sein. An der Natur hing er mit ganzer Seele, wie ein Kind an der Brust der Mutter; sie tränkte sein Talent und offenbarte ihm alle ihre Herrlichkeiten, und, nebenbei gesagt, sie war ihm lieber als die Tradition der Meister: ein überschwengliches Versinken in den süßen Wahnwitz der Kunst, ein unheimliches Gelüste nach Traumweltgenüssen, ein Abfall von der Natur, hat also ebenfalls den vortrefflichen Mann nicht in den Tod gelockt. Auch waren seine Finanzen wohlbestellt, er war geehrt, bewundert und sogar gesund. Was war es aber? Hier in Paris ging einige Zeit die Sage, eine unglückliche Leidenschaft für eine vornehme Dame in Rom habe jenen Selbstmord veranlaßt. Ich kann nicht daran glauben. Robert war damals achtunddreißig Jahre alt, und in diesem Alter sind die Ausbrüche der großen Passion zwar sehr furchtbar, aber man bringt sich nicht um, wie in der frühen Jugend, in der unmännlichen Werther-Periode.

Was Robert aus dem Leben trieb, war vielleicht jenes entsetzlichste aller Gefühle, wo ein Künstler das Mißverhältnis entdeckt, das zwischen seiner Schöpfungslust und seinem Darstellungsvermögen stattfindet: dieses Bewußtsein der Unkraft ist schon der halbe Tod, und die Hand hilft nur nach, um die Agonie zu verkürzen. Wie brav und herrlich auch die Leistungen Roberts, so waren sie doch gewiß nur blasse Schatten jener blühenden Naturschönheiten, die seiner Seele vorschwebten, und ein geübtes Auge entdeckte leicht ein mühsames Ringen mit dem Stoff, den er nur durch die verzweiflungsvollste Anstrengung bewältigte. Schön und fest sind alle diese Robertschen Bilder, aber die meisten sind nicht frei, es weht darin nicht der unmittelbare Geist: sie sind komponiert. Robert hatte eine gewisse Ahnung von genialer Größe, und doch war sein Geist gebannt in kleinen Rahmen. Nach dem Charakter seiner Erzeugnisse zu urteilen, sollte man glauben, er sei Enthusiast gewesen für Raffael Sanzio von Urbino, den idealen Schönheitsengel – nein, wie seine Vertrauten versichern, war es vielmehr Michelangelo Buonarroti, der stürmische Titane, der wilde Donnergott des Jüngsten Gerichts, für den er schwärmte, den er anbetete. Der wahre Grund seines Todes war der bittere Unmut des Genremalers, der nach großartigster Historienmalerei lechzte – er starb an einer Lakune seines Darstellungsvermögens.

Der Kupferstich von den »Fischern«, den die Herren Goupil und Rittner jetzt ausgestellt haben, ist vortrefflich, in bezug auf das Technische: ein wahres Meisterstück, weit vorzüglicher als der Stich der »Schnitter«, der vielleicht mit zu großer Hast verfertigt worden. Aber es fehlt ihm der Charakter der Ursprünglichkeit, der uns bei den »Schnittern« so vollselig entzückt und der vielleicht dadurch entstand, daß dieses Gemälde aus einer einzigen Anschauung, sei es eine äußere oder innere, gleichviel, hervorgegangen und derselben mit großer Treue nachgebildet ist. Die »Fischer« hingegen sind zu sehr komponiert, die Figuren sind mühsam zusammengesucht, nebeneinander gestellt, inkommodieren sich wechselseitig mehr, als sie sich ergänzen, und nur durch die Farbe ist das Verschiedenartige im Originalgemälde ausgeglichen und erhielt das Bild den Schein der Einheit. Im Kupferstich, wo die Farbe, die bunte Vermittlung, fehlt, fallen natürlicherweise die äußerlich verbundenen Teile wieder auseinander, es zeigt sich Verlegenheit und Stückwerk, und das Ganze ist kein Ganzes mehr. »Es ist ein Zeichen von Raffaels Größe«, sagte mir jüngst ein Kollege, »daß seine Gemälde im Kupferstich nichts von ihrer Harmonie verlieren. Ja, selbst in den dürftigsten Nachbildungen, allen Kolorits, wo nicht gar aller Schattierung entkleidet, in ihren nackten Konturen, bewahren die Raffaelschen Werke jene harmonische Macht, die unser Gemüt bewegt. Das kommt daher, weil sie echte Offenbarungen sind, Offenbarungen des Genius, der, eben wie die Natur, schon in den bloßen Umrissen das Vollendete gibt.«

Ich will mein Urteil über die Robertschen »Fischer« resümieren: es fehlt ihnen die Einheit, und nur die Einzelnheiten, namentlich das junge Weib mit dem kranken Kinde, verdienen das höchste Lob. Zur Unterstützung meines Urteils berufe ich mich auf die Skizze, worin Robert gleichsam seinen ersten Gedanken ausgesprochen: hier, in der ursprünglichen Konzeption, herrscht jene Harmonie, die dem ausgeführten Bilde fehlt, und wenn man sie mit diesem vergleicht, merkt man gewiß, wie der Maler seinen Geist lange Zeit gezerrt und abgemüdet haben muß, ehe er das Gemälde in seiner jetzigen Gestalt zustande brachte.






© Wolfgang Fricke