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Heinrich Heine
Lutetia – Erster Teil






XL

Paris, 12. Januar 1842


Wir lächeln über die armen Lappländer, die, wenn sie an Brustkrankheit leiden, ihre Heimat verlassen und nach St. Petersburg reisen, um dort die milde Luft eines südlichen Klimas zu genießen. Die algierschen Beduinen, die sich hier befinden, dürften mit demselben Recht über manche unsrer Landsleute lächeln, die ihrer Gesundheit wegen den Winter lieber in Paris zubringen als in Deutschland und sich einbilden, daß Frankreich ein warmes Land sei. Ich versichere Sie, es kann bei uns auf der Lüneburger Heide nicht kälter sein als hier in diesem Augenblick, wo ich Ihnen mit froststeifen Fingern schreibe. Auch in der Provinz muß eine bittere Kälte herrschen. Die Deputierten, welche jetzt rudelweise anlangen, erzählen nur von Schnee, Glatteis und umgestürzten Diligencen. Ihre Gesichter sind noch rot und verschnupft, ihr Gehirn eingefroren, ihre Gedanken neun Grad unter Null. Bei Gelegenheit der Adresse werden sie auftauen. Alles hat jetzt hier ein frostiges und ödes Ansehen. Nirgends Übereinstimmung bei den wichtigsten Fragen, und beständiger Windwechsel. Was man gestern wollte, heute will man's nicht mehr, und Gott weiß, was man morgen begehren wird. Nichts als Hader und Mißtrauen, Schwanken und Zersplitterung. König Philipp hat die Maxime seines mazedonischen Namensgenossen, das »Trenne und herrsche!«, bis zum schädlichsten Übermaß ausgeübt. Die zu große Zerteilung erschwert wieder die Herrschaft, zumal die konstitutionelle, und Guizot wird mit den Spaltungen und Zerfaserungen der Kammer seine liebe Not haben. Guizot ist noch immer der Schutz und Hort des Bestehenden. Aber die sogenannten Freunde des Bestehenden, die Konservativen, sind dessen wenig eingedenk, und sie haben bereits vergessen, daß noch vorigen Freitag in derselben Stunde »A bas Guizot!« und »Vive Lamennais!« gerufen worden! Für den Mann der Ordnung, für den großen Ruhestifter war es in der Tat ein indirekter Triumph, daß man ihn herabwürdigte, um jenen schauderhaften Priester zu feiern, der den politischen Fanatismus mit dem religiösen vermählt und der Weltverwirrung die letzte Weihe erteilt. Armer Guizot, armer Schulmeister, armer Rector magnificus von Frankreich! dir bringen sie ein »Pereat«, diese Studenten, die weit besser täten, wenn sie deine Bücher studierten, worin soviel Belehrung enthalten, soviel Tiefsinn, soviel Winke für das Glück der Menschheit! »Nimm dich in acht«, sagte einst ein Demagoge zu einem großen Patrioten, »wenn das Volk in Wahnsinn gerät, wird es dich zerreißen.« Und dieser antwortete: »Nimm dich in acht, denn dich wird das Volk zerreißen, wenn es wieder zur Vernunft kommt.« Dasselbe hätten wohl vorigen Freitag Lamennais und Guizot zueinander sagen können. Jener tumultuarische Auftritt sah bedenklicher aus, als die Zeitungen meldeten. Diese hatten ein Interesse, den Vorfall einigermaßen zu vertuschen, die ministeriellen sowohl als die Oppositionsblätter; letztere, weil jene Manifestation keinen sonderlichen Anklang im Volke fand. Das Volk sah ruhig zu und fror. Bei neun Grad Kälte ist kein Umsturz der Regierung in Paris zu befürchten. Im Winter gab es hier nie Emeuten. Seit der Bestürmung der Bastille bis auf die Revolte des Barbès hat das Volk immer seinen Unmut bis zu den wärmeren Sommermonden vertagt, wo das Wetter schön war und man sich mit Vergnügen schlagen konnte. –






© Wolfgang Fricke