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Heinrich Heine
Lutetia – Zweiter Teil






XLIV

Paris, 2. Juni 1842


Die Académie des sciences morales et politiques hat sich nicht blamieren wollen, und in ihrer Sitzung vom 28. Mai prorogierte sie bis 1844 die Krönung des besten examen critique de la philosophie allemande. Unter diesem Titel hatte sie nämlich eine Preisaufgabe angekündigt, deren Lösung nichts Geringeres beabsichtigte als eine beurteilende Darstellung der deutschen Philosophie von Kant bis auf die heutige Stunde, mit besonderer Berücksichtigung des ersteren, des großen Immanuel Kant, von dem die Franzosen so viel reden gehört, daß sie schier neugierig geworden. Einst wollte sogar Napoleon sich über die Kantsche Philosophie unterrichten, und er beauftragte irgendeinen französischen Gelehrten, ihm ein Resümee derselben zu liefern, welches aber auf einige Quartseiten zusammengedrängt sein müsse. Fürsten brauchen nur zu befehlen. Das Resümee ward unverzüglich und in vorgeschriebener Form angefertigt. Wie es ausfiel, weiß der liebe Himmel, und nur soviel ist mir bekannt, daß der Kaiser, nachdem er die wenigen Quartseiten aufmerksam durchgelesen, die Worte aussprach: »Alles dieses hat keinen praktischen Wert, und die Welt wird wenig gefördert durch Menschen wie Kant, Cagliostro, Swedenborg und Philadelphia.« – Die große Menge in Frankreich hält Kant noch immer für einen neblichten, wo nicht gar benebelten Schwärmer, und noch jüngst las ich in einem französischen Romane die Phrase: »le vague mystique de Kant«. Einer der größten Philosophen der Franzosen ist unstreitig Pierre Leroux, und dieser gestand mir vor sechs Jahren: erst aus der »Allemagne« von Henri Heine habe er die Einsicht gewonnen, daß die deutsche Philosophie nicht so mystisch und religiös sei, wie man das französische Publikum bisher glauben machte, sondern im Gegenteil sehr kalt, fast frostig abstrakt und ungläubig bis zur Negation des Allerhöchsten.

In der erwähnten Sitzung der Akademie gab uns Mignet, der Secrétaire perpétuel, eine notice historique über das Leben und Wirken des verstorbenen Destutt de Tracy. Wie in allen seinen Erzeugnissen beurkundete Mignet auch hier sein schönes, großes Darstellungstalent, seine bewunderungswürdige Kunst des Auffassens aller charakteristischen Zeitmomente und Lebensverhältnisse, seine heitere, klare Verständlichkeit. Seine Rede über Destutt de Tracy ist bereits im Druck erschienen, und es bedarf also hier keines ausführlichen Referats. Nur beiläufig will ich einige Bemerkungen hinwerfen, die sich mir besonders aufdrängten, während Mignet das schöne Leben jenes Edelmanns erzählte, der dem stolzesten Feudaladel entsprossen und während seiner Jugend ein wackerer Soldat war, aber dennoch mit großmütigster Selbstverleugnung und Selbstaufopferung die Partei des Fortschrittes ergriff und ihr bis zum letzten Atemzug treu blieb. Derselbe Mann, der mit Lafayette in den achtziger Jahren für die Sache der Freiheit Gut und Blut einsetzte, fand sich mit dem alten Freunde wieder zusammen am 29. Juli 1830 bei den Barrikaden von Paris, unverändert in seinen Gesinnungen; nur seine Augen waren erloschen, sein Herz war licht und jung geblieben. Der französische Adel hat sehr viele, erstaunlich viele solcher Erscheinungen hervorgebracht, und das Volk weiß es auch, und diese Edelleute, die seinen Interessen solche Ergebenheit bewiesen, nennt es »les bons nobles«. Mißtrauen gegen den Adel im allgemeinen mag sich in revolutionären Zeiten zwar als nützlich herausstellen, wird aber immer eine Ungerechtigkeit bleiben. In dieser Beziehung gewährt uns eine große Lehre das Leben eines Tracy, eines Rochefoucauld, eines d'Argenson, eines Lafayette und ähnlicher Ritter der Volksrechte.

Gerade, unbeugsam und schneidend, wie einst sein Schwert, war der Geist des Destutt de Tracy, als er sich später in jene materialistische Philosophie warf, die in Frankreich durch Condillac zur Herrschaft gelangte. Letzterer wagte nicht die letzten Konsequenzen dieser Philosophie auszusprechen, und wie die meisten seiner Schule ließ er dem Geiste immer noch ein abgeschiedenes Winkelchen im Universalreiche der Materie. Destutt de Tracy aber hat dem Geiste auch dieses letzte Refugium aufgekündigt, und seltsam! zu derselben Zeit, wo bei uns in Deutschland der Idealismus auf die Spitze getrieben und die Materie geleugnet wurde, erklomm in Frankreich das materialistische Prinzip seinen höchsten Gipfel, und man leugnete hier den Geist. Destutt de Tracy war sozusagen der Fichte des Materialismus.

Es ist ein merkwürdiger Umstand, daß Napoleon gegen die philosophische Koterie, wozu Tracy, Cabanis und Konsorten gehörten, eine so besorgliche Abneigung hegte und sie mitunter sehr streng behandelte. Er nannte sie Ideologen, und er empfand eine vage, schier abergläubische Furcht vor jener Ideologie, die doch nichts anderes war als der schäumende Aufguß der materialistischen Philosophie; diese hatte freilich die größte Umwälzung gefördert und die schauerlichsten Zerstörungskräfte offenbart, aber ihre Mission war vollbracht und also auch ihr Einfluß beendigt. Bedrohlicher und gefährlicher war jene entgegengesetzte Doktrin, die unbeachtet in Deutschland emportauchte und späterhin soviel beitrug zum Sturz der französischen Gewaltherrschaft. Es ist merkwürdig, daß Napoleon auch in diesem Fall nur die Vergangenheit begriff und für die Zukunft weder Ohr noch Auge hatte. Er ahnte einen verderblichen Feind im Reich des Gedankens, aber er suchte diesen Feind unter alten Perücken, die noch vom Puder des achtzehnten Jahrhunderts stäubten; er suchte ihn unter französischen Greisen, statt unter der blonden Jugend der deutschen Hochschulen. Da war unser Vierfürst Herodes viel gescheiter, als er die gefährliche Brut in der Wiege verfolgte und den Kindermord befahl. Doch auch ihm fruchtete nicht viel die größere Pfiffigkeit, die an dem Willen der Vorsehung zuschanden wurde – seine Schergen kamen zu spät, das furchtbare Kind war nicht mehr in Bethlehem, ein treues Eselein trug es rettend nach Ägypten. Ja, Napoleon besaß Scharfblick nur für Auffassung der Gegenwart oder Würdigung der Vergangenheit, und er war stockblind für jede Erscheinung, worin sich die Zukunft ankündigte. Er stand auf dem Balkon seines Schlosses zu Saint-Clond, als das erste Dampfschiff dort auf der Seine vorüberfuhr, und er merkte nicht im mindesten die weltumgestaltende Bedeutung dieses Phänomens!






© Wolfgang Fricke