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Heinrich Heine
Lutetia – Zweiter Teil






XLVII

Paris, 15. Juli 1842


Meine dunkle Ahnung hat mich leider nicht getäuscht; die trübe Stimmung, die mich seit einigen Tagen fast beugte und mein Auge umflorte, war das Vorgefühl eines Unglücks. Nach dem jauchzenden Übermut von vorgestern ist gestern ein Schrecken, eine Bestürzung eingetreten, die unbeschreiblich, und die Pariser gelangen durch einen unvorhergesehenen Todesfall zur Erkenntnis, wie wenig die hiesigen Zustände gesichert und wie gefährlich jedes Rütteln. Und sie wollten doch nur ein bißchen rütteln, keineswegs durch allzu starke Stöße das Staatsgebäude erschüttern. Wäre der Herzog von Orleans einige Tage früher gestorben, so hätte Paris keine zwölf Oppositionsdeputierten im Gegensatz zu zwei Konservativen gewählt und nicht durch diesen ungeheuren Akt die Bewegung wieder in Bewegung gesetzt. Dieser Todesfall stellt alles Bestehende in Frage, und es wird ein Glück sein, wenn die Anordnung der Regentschaft, für den Fall des Ablebens des jetzigen Königs, so bald als möglich und ohne Störnis von den Kammern beraten und beschlossen wird. Ich sage von den Kammern, denn das königliche Hausgesetz ist hier nicht ausreichend wie in andern Ländern. Die Diskussionen über die Regentschaft werden daher die Kammern zunächst beschäftigen und den Leidenschaften Worte leihen. Und geht auch alles ruhig vonstatten, so steht uns doch ein provisorisches Interregnum bevor, das immer ein Mißgeschick und ein ganz besonders schlimmes Mißgeschick ist für ein Land, wo die Verhältnisse noch so wackelig sind und eben der Stabilität am meisten bedürfen. Der König soll in seinem Unglück die höchste Charakterstärke und Besonnenheit beweisen, obgleich er schon seit einigen Wochen sehr niedergeschlagen war. Sein Geist ward in der letzten Zeit durch sonderbare Ahnungen getrübt. Er soll unlängst an Thiers, vor dessen Abreise, einen Brief geschrieben haben, worin er sehr viel vom Sterben sprach, aber er dachte gewiß nur an den eigenen Tod. Der verstorbene Herzog von Orleans war allgemein geliebt, ja angebetet. Die Nachricht seines Todes traf wie ein Blitz aus heiterm Himmel, und Betrübnis herrscht unter allen Volksklassen. Um zwei Uhr gestern nachmittag verbreitete sich auf der Börse, wo die Fonds gleich um drei Francs fielen, ein dumpfes Unglücksgerücht. Aber niemand wollte recht daran glauben. Auch starb der Prinz erst um vier Uhr, und der Todesnachricht ward bis um diese Zeit von vielen Seiten widersprochen. Noch um fünf Uhr bezweifelte man sie. Als aber um sechs Uhr vor den Theatern ein weißer Papierstreif über die Komödienzettel geklebt und relâche angekündigt wurde, da merkte jeder die schreckliche Wahrheit. Wie sie angetänzelt kamen, die geputzten Französinnen, und statt des gehofften Schauspiels nur die verschlossenen Türen sahen und von dem Unglück hörten, das bei Neuilly, auf dem Weg, der le chemin de la révolte heißt, passiert war, da stürzten die Tränen aus manchen schönen Augen, da war nichts als ein Schluchzen und Jammern um den schönen Prinzen, der so hübsch und so jung dahinsank, eine teure, ritterliche Gestalt, Franzose im liebenswürdigsten Sinne, in jeder Beziehung der nationalen Beklagnis würdig. Ja, er fiel in der Blüte seines Lebens, ein heiterer, heldenmütiger Jüngling, und er verblutete so rein, so unbefleckt, so beglückt, gleichsam unter Blumen, wie einst Adonis! Wenn er nur nicht gleich nach seinem Tod in schlechten Versen und in noch schlechterer Lakaienprosa gefeiert wird! Doch das ist das Los des Schönen hier auf Erden. Vielleicht, während der wahrhafteste und stolzeste Schmerz das französische Volk erfüllt und nicht bloß schöne Frauentränen dem Hingeschiedenen fließen, sondern auch freie Männertränen sein Andenken ehren, hält sich die offizielle Trauer schon etwelche Zwiebeln vor die Nase, um betrüglich zu flennen, und gar die Narrheit windet schwarze Flöre um die Glöckchen ihrer Kappe, und wir hören bald das tragikomische Geklingel. Besonders die larmoyante Faselhanselei, lauwarmes Spülicht der Sentimentalität, wird sich bei dieser Gelegenheit geltend machen. Vielleicht zu dieser Stunde schon keucht Laffitte nach Neuilly und umarmt den König mit deutschester Rührung, und die ganze Opposition wischt sich das Wasser aus den Augen. Vielleicht schon in dieser Stunde besteigt Chateaubriand sein melancholisches Flügelroß, seine gefiederte Rosinante, und schreibt eine hohltönende Kondolation an die Königin. Widerwärtige Weichlichkeit und Fratze! und der Zwischenraum ist sehr klein, der hier das Erhabene vom Lächerlichen trennt. Wie gesagt, vor den Theatern auf den Boulevards erfuhr man gestern die Gewißheit des betrübsamen Ereignisses, und hier bildeten sich überall Gruppen um die Redner, welche die nähern Umstände mit mehr oder weniger Zutat und Ausschmückung erzählten. Mancher alte Schwätzer, der sonst nie Zuhörer findet, benutzte diese Gelegenheit, um ein aufmerksames Publikum um sich zu versammeln und die öffentliche Neugier im Interesse seiner Rhetorik auszubeuten. Da stand ein Kerl vor den Variétés, der ganz besonders pathetisch deklamierte, wie Theramen in der »Phädra«: »Il était sur son char« usw. Es hieß allgemein, indem der Prinz vom Wagen stürzte, sei sein Degen gebrochen und der obere Stumpf ihm in die Brust gedrungen. Ein Augenzeuge wollte wissen, daß er noch einige Worte gesprochen, aber in deutscher Sprache. Übrigens herrschte gestern überall eine leidende Stille, und auch heute zeigt sich in Paris keine Spur von Unruhe.






© Wolfgang Fricke