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Heinrich Heine
Lutetia – Zweiter Teil






XLVIII

Paris, 19. Juli 1842


Der verstorbene Herzog von Orleans bleibt fortwährend das Tagesgespräch. Noch nie hat das Ableben eines Menschen so allgemeine Trauer erregt. Es ist merkwürdig, daß in Frankreich, wo die Revolution noch nicht ausgegärt, die Liebe für einen Fürsten so tief wurzeln und sich so großartig manifestieren konnte. Nicht bloß die Bourgeoisie, die alle ihre Hoffnungen in den jungen Prinzen setzte, sondern auch die untern Volksklassen beklagen seinen Verlust. Als man das Juliusfest vertagte und auf der Place de la Concorde die großen Gerüste abbrach, die zur Illumination dienen sollten, war es ein herzzerreißender Anblick, wie das Volk sich auf die niedergerissenen Balken und Bretter setzte und über den Tod des teuren Prinzen jammerte. Eine düstere Betrübnis lag auf allen Gesichtern, und der Schmerz derjenigen, die kein Wort sprachen, war am beredsamsten. Da flossen die redlichsten Tränen, und unter den Weinenden war gewiß mancher, der in der Tabagie mit seinem Republikanismus prahlt.

Aber für Frankreich ist der Tod des jungen Prinzen ein wirkliches Unglück, und er dürfte weniger Tugenden besessen haben, als ihm nachgerühmt werden, so hätten doch die Franzosen hinlängliche Ursache zum Weinen, wenn sie an die Zukunft denken. Die Regentschaftsfrage beschäftigt schon alle Köpfe und leider nicht bloß die gescheiten. Viel Unsinn wird bereits zu Markt gebracht. Auch die Arglist weiß hier eine Ideenverwirrung anzuzetteln, die sie zu ihren Parteizwecken auszubeuten hofft und die in jedem Fall sehr bedenkliche Folgen haben kann. Genießt der Herzog von Nemours wirklich die allerhöchste Ungnade des souveränen Volks, wie mit übertriebenem Eifer behauptet wird? Ich will nicht darüber urteilen. Noch weniger will ich die Gründe seiner Ungnade untersuchen. Das Vornehme, Feine, Ablehnende, Patrizierhafte in der Erscheinung des Prinzen ist wohl der eigentliche Anklagepunkt. Das Aussehen des Orleans war edel, das Aussehen des Nemours ist adelig. Und selbst wenn das Äußere dem Innern entspräche, wäre der Prinz deshalb nicht minder geeignet, einige Zeit als Gonfaloniere der Demokratie derselben die besten Dienste zu leisten, da dieses Amt, durch die Macht der Verhältnisse, ihm die größte Verleugnung der Privatgefühle geböte: denn sein verhaßtes Haupt stünde hier auf dem Spiele. Ich bin sogar überzeugt, die Interessen der Demokratie sind weit weniger gefährdet durch einen Regenten, dem man wenig traut und den man beständig kontrolliert, als durch einen jener Günstlinge des Volks, denen man sich mit blinder Vorliebe hingibt und die am Ende doch nur Menschen sind, wandelbare Geschöpfe, unterworfen den Veränderungsgesetzen der Zeit und der eigenen Natur. Wie viele populäre Kronprinzen haben wir unbeliebt enden sehen! Wie grauenhaft wetterwendisch zeigte sich das Volk in bezug auf die ehemaligen Lieblinge! Die französische Geschichte ist besonders reich an betrübenden Beispielen. Mit welchem Freudejauchzen umjubelte das Volk den jungen Ludwig XIV. – mit tränenlosem Kaltsinn sah es den Greis begraben. Ludwig XV. hieß mit Recht le bien-aimé, und mit wahrer Affenliebe huldigten ihm die Franzosen im Anfang; als er starb, lachte man und pfiff man Schelmenlieder: man freute sich über seinen Tod. Seinem Nachfolger Ludwig XVI. ging es noch schlimmer, und er, der als Kronprinz fast angebetet wurde und der im Beginn seiner Regierung für das Muster aller Vollkommenheit galt, er ward von seinem Volke persönlich mißhandelt, und sein Leben ward sogar verkürzt, in der bekannten majestätsverbrecherischen Weise, auf der Place de la Concorde. Der letzte dieser Linie, Karl X., war nichts weniger als unpopulär, als er auf den Thron stieg, und das Volk begrüßte ihn damals mit unbeschreiblicher Begeisterung; einige Jahre später ward er zum Lande hinauseskortiert, und er starb den harten Tod des Exils. Der Solonische Spruch, daß man niemand vor seinem Ende glücklich preisen möge, gilt ganz besonders von den Königen von Frankreich. Laßt uns daher den Tod des Herzogs von Orleans nicht deshalb beweinen, weil er vom Volke so sehr geliebt ward und demselben eine so schöne Zukunft versprach, sondern weil er als Mensch unsere Tränen verdiente. Laßt uns auch nicht so sehr jammern über die sogenannte ruhmlose Art, über das banal Zufällige seines Endes. Es ist besser, daß sein Haupt gegen einen harmlosen Stein zerschellte, als daß die Kugel eines Franzosen oder eines Deutschen ihm den Tod gab. Der Prinz hatte eine Vorahnung seines frühen Sterbens, meinte aber, daß er im Kriege oder in einer Emeute fallen würde. Bei seinem ritterlichen Mute, der jeder Gefahr trotzte, war dergleichen sehr wahrscheinlich. – Der königliche Dulder, Ludwig Philipp, benimmt sich mit einer Fassung, die jeden mit Ehrfurcht erfüllt. Im Unglück zeigt er die wahre Größe. Sein Herz verblutet in namenlosem Kummer, aber sein Geist bleibt ungebeugt, und er arbeitet Tag und Nacht. Nie hat man den Wert seiner Erhaltung tiefer gefühlt als eben jetzt, wo die Ruhe der Welt von seinem Leben abhängt. Kämpfe tapfer, verwundeter Friedensheld!






© Wolfgang Fricke