heinrich-heine-denkmal.de
Paris, 17. September 1842
Nach einer vierwöchentlichen Reise bin ich seit gestern wieder hier, und ich gestehe, das Herz jauchzte mir in der Brust, als der Postwagen über das geliebte Pflaster der Boulevards dahinrollte, als ich den ersten Putzladen mit lächelnden Grisettengesichtern vorüberfuhr, als ich das Glockengeläute der Cocoverkäufer vernahm, als die holdselige zivilisierte Luft von Paris mich wieder anwehte. Es wurde mir fast glücklich zumut, und den ersten Nationalgardisten, der mir begegnete, hätte ich umarmen können; sein zahmes, gutmütiges Gesicht grüßte so witzig hervor unter der wilden, rauhen Bärenmütze, und sein Bajonett hatte wirklich etwas Intelligentes, wodurch es sich von den Bajonetten anderer Korporationen so beruhigend unterscheidet. Warum aber war die Freude bei meiner Rückkehr nach Paris diesmal so überschwenglich, daß es mich fast bedünkte, als beträte ich den süßen Boden der Heimat, als hörte ich wieder die Laute des Vaterlandes? Warum übt Paris einen solchen Zauber auf Fremde, die in seinem Weichbild einige Jahre verlebt? Viele wackere Landsleute, die hier seßhaft, behaupten, an keinem Ort der Welt könne der Deutsche sich heimischer fühlen als eben in Paris und Frankreich selbst sei am Ende unserm Herzen nichts anderes als ein französisches Deutschland.
Aber diesmal ist meine Freude bei der Rückkehr doppelt groß: ich komme aus England. Ja, aus England, obgleich ich nicht den Kanal durchschiffte. Ich verweilte nämlich während vier Wochen in Boulogne- sur-Mer, und das ist bereits eine englische Stadt. Man sieht dort nichts als Engländer und hört dort nichts als Englisch von morgens bis abends, ach, sogar des Nachts, wenn man das Unglück hat, Wandnachbarn zu besitzen, die bis tief in die Nacht bei Tee und Grog politisieren! Während vier Wochen hörte ich nichts als jene Zischlaute des Egoismus, der sich in jeder Silbe, in jeder Betonung ausspricht. Es ist gewiß eine schreckliche Ungerechtigkeit, über ein ganzes Volk das Verdammungsurteil auszusprechen. Doch in betreff der Engländer könnte mich der augenblickliche Unmut zu dergleichen verleiten, und beim Anblick der Masse vergesse ich leicht die vielen wackern und edlen Männer, die sich durch Geist und Freiheitsliebe ausgezeichnet. Aber diese, namentlich die britischen Dichter, stachen immer desto greller ab von dem übrigen Volk, sie waren isolierte Martyrer ihrer nationalen Verhältnisse, und dann gehören große Genies nicht ihrem partikulären Geburtslande, kaum gehören sie dieser Erde, der Schädelstätte ihres Leidens. Die Masse, die Stockengländer – Gott verzeih mir die Sünde! – sind mir in tiefster Seele zuwider, und manchmal betrachte ich sie gar nicht als meine Mitmenschen, sondern ich halte sie für leidige Automaten, für Maschinen, deren inwendige Triebfeder der Egoismus. Es will mich dann bedünken, als hörte ich das schnurrende Räderwerk, womit sie denken, fühlen, rechnen, verdauen und beten – ihr Beten, ihr mechanisches anglikanisches Kirchengehen mit dem vergoldeten Gebetbuch unterm Arm, ihre blöde, langweilige Sonntagsfeier, ihr linkisches Frömmeln ist mir am widerwärtigsten; ich bin fest überzeugt, ein fluchender Franzose ist ein angenehmeres Schauspiel für die Gottheit als ein betender Engländer! Zu andern Zeiten kommen diese Stockengländer mir vor wie ein öder Spuk, und weit unheimlicher als die bleichen Schatten der mitternächtlichen Geisterstunde sind mir jene vierschrötigen, rotbäckigen Gespenster, die schwitzend im grellen Sonnenlicht umherwandeln. Dabei der totale Mangel an Höflichkeit. Mit ihren eckigen Gliedmaßen, mit ihren steifen Ellenbogen stoßen sie überall an, und ohne sich zu entschuldigen durch ein artiges Wort. Wie müssen diese rothaarigen Barbaren, die blutiges Fleisch fressen, erst jenen Chinesen verhaßt sein, denen die Höflichkeit angeboren und die, wie bekannt ist, zwei Drittel ihrer Tageszeit mit der Ausübung dieser Nationaltugend verknicksen und verbücklingen!
Ich gestehe es, ich bin nicht ganz unparteiisch, wenn ich von Engländern rede, und mein Mißurteil, meine Abneigung, wurzelt vielleicht in den Besorgnissen ob der eigenen Wohlfahrt, ob der glücklichen Friedensruhe des deutschen Vaterlandes. Seitdem ich nämlich tief begriffen habe, welcher schnöde Egoismus auch in ihrer Politik waltet, erfüllen mich diese Engländer mit einer grenzenlosen, grauenhaften Furcht. Ich hege den besten Respekt vor ihrer materiellen Obmacht; sie haben sehr viel von jener brutalen Energie, womit die Römer die Welt unterdrückt, aber sie vereinigen mit der römischen Wolfsgier auch die Schlangenlist Karthagos. Gegen erstere haben wir gute und sogar erprobte Waffen, aber gegen die meuchlerischen Ränke jener Punier der Nordsee sind wir wehrlos. Und jetzt ist England gefährlicher als je, jetzt, wo seine merkantilischen Interessen unterliegen: es gibt in der ganzen Schöpfung kein so hartherziges Geschöpf wie ein Krämer, dessen Handel ins Stocken geraten, dem seine Kunden abtrünnig werden und dessen Warenlager keinen Absatz mehr findet.
Wie wird England sich aus solcher Geschäftskrisis retten? Ich weiß nicht, wie die Frage der Fabrikarbeiter gelöst werden kann; aber ich weiß, daß die Politik des modernen Karthagos nicht sehr wählig in ihren Mitteln ist. Ein europäischer Krieg wird dieser Selbstsucht vielleicht zuletzt als das geeignetste Mittel erscheinen, um dem innern Gebreste einige Ableitung nach außen zu bereiten. Die englische Oligarchie spekuliert alsdann zunächst auf den Säckel des Mittelstandes, dessen Reichtum in der Tat kolossal ist und zur Besoldung und Beschwichtigung der unteren Klassen hinlänglich ausgebeutet werden dürfte. Wie groß auch ihre Ausgaben für indische und chinesische Expeditionen, wie groß auch ihre finanzielle Not, wird doch die englische Regierung jetzt den pekuniären Aufwand steigern, wenn es ihre Zwecke fördert. Je größer das heimische Defizit, desto reichlicher wird im Ausland das englische Gold ausgestreut werden: England ist ein Kaufmann, der sich in bankerottem Zustand befindet und aus Verzweiflung ein Verschwender wird oder vielmehr kein Geldopfer scheut, um sich momentan zu halten. Und man kann mit Geld schon etwas ausrichten auf dieser Erde, besonders, seit jeder die Seligkeit hier unten sucht. Man hat keinen Begriff davon, wie England jährlich die ungeheuersten Summen ausgibt bloß zur Besoldung seiner ausländischen Agenten, deren Instruktionen alle für den Fall eines europäischen Krieges berechnet sind, und wie wieder diese englischen Agenten die heterogensten Talente, Tugenden und Laster im Ausland für ihre Zwecke zu gewinnen wissen.
Wenn wir dergleichen bedenken, wenn wir zur Einsicht gelangen, daß nicht an der Seine, aus Begeisterung für eine Idee und auf öffentlichem Marktplatz, die Ruhe Europas am furchtbarsten gestört werden dürfte, sondern an der Themse, in den verschwiegenen Gemächern des Foreign Office, infolge des rohen Hungerschreies englischer Fabrikarbeiter; wenn wir dieses bedenken, so müssen wir dorthin manchmal unser Auge richten und nächst der Persönlichkeit der Regierenden auch die andrängende Not der untern Klassen beobachten. Diese gesteigerte Not ist ein Gebreste, das die unwissenden Feldscherer durch Aderlässe zu heben glauben, aber ein solches Blutvergießen wird eine Verschlimmerung hervorbringen. Nicht von außen, durch die Lanzette, nein, nur von innen heraus, durch geistige Medikamente, kann der sieche Staatskörper geheilt werden. Nur soziale Ideen könnten hier eine Rettung aus der verhängnisvollsten Not herbeiführen, aber, um mit Saint-Simon zu reden, auf allen Werften Englands gibt es keine einzige große Idee; nichts als Dampfmaschinen und Hunger. Jetzt ist freilich der Aufruhr unterdrückt, aber durch öftere Ausbrüche kann es wohl dahin kommen, daß die englischen Fabrikarbeiter, die nur Baum- und Schafwolle zu verarbeiten wissen, sich auch ein bißchen in Menschenfleisch versuchen und sich die nötigen Handgriffe aneignen und endlich dieses blutige Gewerbe ebenso mutvoll ausüben wie ihre Kollegen, die Ouvriers zu Lyon und Paris, und dann dürfte es sich endlich ereignen, daß der Besieger Napoleons, der Feldmarschall Mylord Wellington, der jetzt wieder sein Oberschergenamt angetreten hat, mitten in London sein Waterloo fände. In gleicher Weise möchte leicht der Fall eintreten, daß seine Myrmidonen ihrem Meister den Gehorsam aufkündigten. Es zeigen sich schon jetzt sehr bedenkliche Symptome solcher Gesinnung bei dem englischen Militär, und in diesem Augenblick sitzen funfzig Soldaten im Towergefängnis zu London, welche sich geweigert hatten, auf das Volk zu schießen. Es ist kaum glaublich, und es ist dennoch wahr, daß englische Rotröcke nicht dem Befehl ihrer Offiziere, sondern der Stimme der Menschlichkeit gehorchten und jener Peitsche vergaßen, welche die Katze mit neun Schwänzen (the cat of nine tails) heißt und mitten in der stolzen Hauptstadt der englischen Freiheit ihren Heldenrücken beständig bedroht – die Knute Großbritanniens! Es ist herzzerreißend, wenn man liest, wie die Weiber weinend den Soldaten entgegentraten und ihnen zuriefen: »Wir brauchen keine Kugeln, wir brauchen Brot.« Die Männer kreuzten ergebungsvoll die Arme und sprachen: »Den Hunger müßt ihr totschießen, nicht uns und unsere Kinder.« Der gewöhnliche Schrei war: »Schießt nicht, wir sind ja alle Brüder.«
Solche Berufung auf die Fraternität mahnt mich an die französischen Kommunisten, bei denen ich ähnliche Redeweisen zuweilen vernahm. Diese Redeweisen, wie ich besonders in Lyon bemerkte, waren durchaus nicht auffallend oder stark gefärbt, weder pikant noch original; im Gegenteil, es waren die abgedroschensten, plattesten Gemeinsprüche, welche der Troß der Kommunisten im Munde führte. Aber die Macht ihrer Propaganda besteht nicht sowohl in einem gut formulierten Prospektus von bestimmten Beklagnissen und bestimmten Forderungen, sondern in einem tief wehmütigen und fast sympathetisch wirkenden Ton, womit sie die banalsten Dinge äußern, z.B. »Wir sind alle Brüder« usw. Der Ton und allenfalls ein geheimer Händedruck bilden alsdann den Kommentar zu diesen Worten und verleihen ihnen ihre welterschütternde Bedeutung. Die französischen Kommunisten stehen überhaupt auf demselben Standpunkt mit den englischen Fabrikarbeitern, nur daß der Franzose mehr von einer Idee, der Engländer hingegen ganz und gar vom Hunger getrieben wird.
Der Aufruhr in England ist für den Augenblick gestillt, aber nur für den Augenblick; er ist bloß vertagt, er wird mit jedesmal gesteigerter Macht aufs neue ausbrechen, und um so gefährlicher, da er immer die rechte Stunde abwarten kann. Wie aus vielen Anzeichen einleuchtet, ist der Widerstand der Fabrikarbeiter jetzt ebenso praktisch organisiert wie einst der Widerstand der irischen Katholiken. Die Chartisten haben diese drohende Macht in ihr Interesse zu ziehen und einigermaßen zu disziplinieren gewußt, und ihre Verbindung mit den unzufriedenen Fabrikarbeitern ist vielleicht die wichtigste Erscheinung der Gegenwart. Diese Verbindung entstand auf sehr einfachem Wege, sie war eine natürliche, obgleich die Chartisten sich gern mit einem bestimmten Programm als eine rein politische Partei präsentieren und die Fabrikarbeiter, wie ich schon oben erwähnt, nur arme Taglöhner sind, die vor Hunger kaum sprechen können und, gleichgültig gegen alle Regierungsform, nur das liebe Brot verlangen. Aber das Wort meldet selten den innern Herzensgedanken einer Partei, es ist nur ein äußerliches Erkennungszeichen, gleichsam die gesprochene Kokarde; der Chartist, der sich auf die politische Frage zu beschränken vorgibt, hegt Wünsche im Gemüte, die mit den vagsten Gefühlen jener hungrigen Handwerker tief übereinstimmen, und diese können ihrerseits immerhin das Programm der Chartisten zu ihrem Feldgeschrei wählen, ohne ihre Zwecke zu verabsäumen. Die Chartisten nämlich verlangen: erstens, daß das Parlament nur aus einer Kammer bestehe und durch alljährliche Wahlen erneuert werde; zweitens, daß durch geheimes Votieren die Unabhängigkeit der Wähler sichergestellt werde; endlich, daß jeder geborene Engländer, der ins Mannesalter getreten, Wähler und wählbar sei. »Davon können wir noch immer nicht essen«, sagten die notleidenden Arbeiter, »von Gesetzbüchern ebensowenig wie von Kochbüchern wird der Mensch satt, uns hungert.« – »Wartet nur«, entgegnen die Chartisten, »bis jetzt saßen im Parlament nur die Reichen, und diese sorgten nur für die Interessen ihrer eignen Besitztümer; durch das neue Wahlgesetz, durch die Charte, werden aber auch die Handwerker oder ihre Vertreter ins Parlament kommen, und da wird es sich wohl ausweisen, daß die Arbeit ebensogut wie jeder andere Besitz ein Eigentumsrecht in Anspruch nehmen kann und es einem Fabrikherrn ebensowenig erlaubt sein dürfte, den Taglohn des Arbeiters nach Willkür herabzusetzen, wie es ihm nicht erlaubt ist, das Mobiliar- oder Immobiliarvermögen seines Nachbarn zu beeinträchtigen. Die Arbeit ist das Eigentum des Volks, und die daraus entspringenden Eigentumsrechte sollen durch das regenerierte Parlament sanktioniert und geschützt werden.« Ein Schritt weiter, und diese Leute sagen, die Arbeit sei das Recht des Volks; und da dieses Recht auch die Berechtigung zu einem unbedinglichen Arbeitslohne zur Folge hätte, so führt der Chartismus, wo nicht zur Gütergemeinschaft, doch gewiß zur Erschütterung der bisherigen Eigentumsidee, des Grundpfeilers der heutigen Gesellschaft, und in jenen chartistischen Anfängen läge, in ihre Konsequenzen verfolgt, eine soziale Umwälzung, wogegen die französische Revolution als sehr zahm und bescheiden erscheinen dürfte.
Hier offenbart sich wieder die Hypokrisie und der praktische Sinn der Engländer, im Gegensatz zu den Franzosen: die Chartisten verbergen unter legalen Formen ihren Terrorismus, während die Kommunisten ihn freimütig und unumwunden aussprechen. Letztere tragen freilich noch einige Scheu, die letzten Konsequenzen ihres Prinzips beim rechten Namen zu nennen, und diskutiert man mit ihren Häuptlingen, so verteidigen sich diese gegen den Vorwurf, als wollten sie das Eigentum abschaffen, und sie behaupten dann, sie wollten im Gegenteil das Eigentum auf eine breitere Basis etablieren, sie wollten ihm eine umfassendere Organisation verleihen. Du lieber Himmel, ich fürchte, das Eigentum würde durch den Eifer solcher Organisatoren sehr in die Krümpe gehen, und es würde am Ende nichts als die breite Basis übrigbleiben. »Ich will dir die Wahrheit gestehen«, sagte mir jüngst ein kommunistischer Freund, »das Eigentum wird keineswegs abgeschafft werden, aber es bekömmt eine neue Definition.«
Es ist nun diese neue Definition, die hier in Frankreich dem herrschenden Bürgerstande eine große Angst einflößt, und dieser Angst verdankt Ludwig Philipp seine ergebensten Anhänger, die eifrigsten Stützen seines Thrones. Je heftiger die Stützen zittern, desto weniger schwankt der Thron, und der König braucht nichts zu fürchten, eben weil die Furcht ihm Sicherheit gibt. Auch Guizot erhält sich durch die Angst vor der neuen Definition, die er mit seiner scharfen Dialektik so meisterhaft bekämpft, und ich glaube nicht, daß er so bald unterliegt, obgleich die herrschende Partei der Bourgeoisie, für die er soviel getan und soviel tut, kein Herz für ihn hat. Warum lieben sie ihn nicht? Ich glaube, erstens, weil sie ihn nicht verstehen, und zweitens, weil man denjenigen, der unsere eignen Güter schützt, immer weit weniger liebt als denjenigen, der uns fremde Güter verspricht. So war es einst in Athen, so ist es jetzt in Frankreich, so wird es in jeder Demokratie sein, wo das Wort frei ist und die Menschen leichtgläubig.