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Heinrich Heine
Lutetia – Zweiter Teil






LVII

Paris, 5. Mai 1843


Die eigentliche Politik lebt jetzt zurückgezogen in ihrem Hôtel auf dem Boulevard des Capucines. Industrielle und artistische Fragen sind unterdessen an der Tagesordnung, und man streitet jetzt, ob das Zuckerrohr oder die Runkelrübe begünstigt werden solle, ob es besser sei, die Nordeisenbahn einer Kompanie zu überlassen oder sie ganz auf Kosten des Staates auszubauen, ob das klassische System in der Poesie durch den Sukzeß von »Lucretia« wieder auf die Beine kommen werde; die Namen, die man in diesem Augenblick am häufigsten nennt, sind Rothschild und Ponsard.

Die Untersuchung über die Wahlen bildet ein kleines Intermezzo in der Kammer. Der voluminöse Bericht über diese betrübsame Angelegenheit enthält sehr wunderliche Details. Der Verfasser ist ein gewisser Lanyer, den ich vor zwölf Jahren als einen äußerst ungeschickten Arzt bei seinem einzigen Patienten antraf und der seitdem zum Besten der Menschheit den Äskulapstab an den Nagel gehängt hat. Sobald die enquête beseitigt, beginnen die Debatten über die Zuckerfrage, bei welcher Gelegenheit Herr von Lamartine die Interessen des Kolonialhandels und der französischen Marine gegen den kleinlichen Krämersinn vertreten wird. Die Gegner des Zuckerrohrs sind entweder beteiligte Industrielle, die das Heil Frankreichs nur vom Standpunkt ihrer Bude beurteilen, oder es sind alte abgelebte Bonapartisten, die an der Runkelrübe, der Lieblingsidee des Kaisers, mit einer gewissen Pietät festhalten. Diese Greise, die seit 1814 geistig stehengeblieben, bilden immer ein wehmütig komisches Seitenstück zu unsern überrheinischen alten Deutschtümlern, und wie diese einst für die deutsche Eiche und den Eichelkaffee, so schwärmen jene für die Gloire und den Runkelrübenzucker. Aber die Zeit rollt rasch vorwärts, unaufhaltsam, auf rauchenden Dampfwagen, und die abgenutzten Helden der Vergangenheit, die alten Stelzfüße abgeschlossener Nationalität, die Invaliden und Inkurabeln, werden wir bald aus den Augen verlieren.

Die Eröffnung der beiden neuen Eisenbahnen, wovon die eine nach Orléans, die andere nach Rouen führt, verursacht hier eine Erschütterung, die jeder mitempfindet, wenn er nicht etwa auf einem sozialen Isolierschemel steht. Die ganze Bevölkerung von Paris bildet in diesem Augenblick gleichsam eine Kette, wo einer dem andern den elektrischen Schlag mitteilt. Während aber die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfaßt den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Wir merken bloß, daß unsre ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen, fortgeschleudert wird, daß neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns erwarten, und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reiz, verlockend und zugleich beängstigend. So muß unsern Vätern zumut gewesen sein, als Amerika entdeckt wurde, als die Erfindung des Pulvers sich durch ihre ersten Schüsse ankündigte, als die Buchdruckerei die ersten Aushängebogen des göttlichen Wortes in die Welt schickte. Die Eisenbahnen sind wieder ein solches providentielles Ereignis, das der Menschheit einen neuen Umschwung gibt, das die Farbe und Gestalt des Lebens verändert; es beginnt ein neuer Abschnitt in der Weltgeschichte, und unsre Generation darf sich rühmen, daß sie dabeigewesen. Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unsern Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir nur Geld genug, um auch letztere anständig zu töten! In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orléans, in ebensoviel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Türe brandet die Nordsee.

Es haben sich nicht bloß für die Ausführung der Nordeisenbahn, sondern auch für die Anlage vieler andern Linien große Gesellschaften gebildet, die das Publikum in gedruckten Zirkularen zur Teilnahme auffordern. Jede versendet einen Prospektus, an dessen Spitze in großen Zahlen das Kapital paradiert, das die Kosten der Unternehmung decken wird. Es beträgt immer einige funfzig bis hundert, ja sogar mehre hundert Millionen Francs; es werden, sobald die zur Subskription limitierte Zeit verflossen, keine Subskribenten mehr angenommen; auch wird bemerkt, daß, im Fall die Summe des limitierten Gesellschaftskapitals vor jenem Termin erreicht ist, niemand mehr zur Subskription zugelassen werden kann. Ebenfalls mit kolossalen Buchstaben stehen obenangedruckt die Namen der Personen, die das Comité de surveillance der Sozietät bilden; es sind nicht bloß Namen von Finanziers, Bankiers, Receveurs-généraux, Usineninhabern und Fabrikanten, sondern auch Namen von hohen Staatsbeamten, Prinzen, Herzögen, Marquis, Grafen, die zwar meist unbekannt, aber mit ihrer offiziellen und feudalistischen Titulatur gar prachtvoll klingen, so daß man glaubt, die Trompetenstöße zu vernehmen, womit Bajazzo auf dem Balkon einer Marktbude das verehrungswürdige Publikum zum Hereintreten einladet. On ne paie qu'en entrant. Wer traute nicht einem solchen Comité de surveillance, das aber keineswegs, wie viele glauben, eine solidarische Garantie versprochen haben will und keine feste Stütze ist, sondern als Karyatide figuriert. Ich bemerkte einem meiner Freunde meine Verwunderung, daß unter den Mitgliedern der Komitees sich auch Marineoffiziere befänden, ja daß ich auf vielen Prospektuszirkularen als Präsidenten der Sozietät die Namen von Admirälen gedruckt sähe. So z.B. sähe ich den Namen des Admirals Rosamel, nach welchem sogar die ganze Gesellschaft und sogar ihre Aktien genannt werden. Mein Freund, der sehr lachlustig, meinte, eine solche Beigesellung von Seeoffizieren sei eine sehr kluge Vorsichtsmaßregel der respektiven Gesellschaften, für den Fall, daß sie mit der Justiz in eine fatale Kollision kämen und von einer Jury zu den Galeeren verurteilt würden; die Mitglieder der Gesellschaft hätten alsdann immer einen Admiral bei sich, was ihnen zu Toulon oder Brest, wo es viel zu rudern gibt, von Nutzen sein möchte. Mein Freund irrt sich. Jene Leute haben nicht zu befürchten, in Toulon oder in Brest ans Ruder zu kommen; das Ruder, das ihren Händen einst anheimfällt oder zum Teil schon anheimgefallen, gehört einer ganz andern Örtlichkeit, es ist das Staatsruder, dessen sich die herrschende Geldaristokratie täglich mehr und mehr bemächtigt. Jene Leute werden bald nicht sowohl das Comité de surveillance der Eisenbahnsozietät, sondern auch das Comité de surveillance unserer ganzen bürgerlichen Gesellschaft bilden, und sie werden es sein, die uns nach Toulon oder Brest schicken.

Das Haus Rothschild, welches die Konzession der Nordeisenbahn soumissioniert und sie aller Wahrscheinlichkeit nach erhalten wird, bildet keine eigentliche Sozietät, und jede Beteiligung, die jenes Haus einzelnen Personen gewährt, ist eine Vergünstigung, ja, um mich ganz bestimmt auszudrücken, sie ist ein Geldgeschenk, das Herr von Rothschild seinen Freunden angedeihen läßt. Die eventuellen Aktien, die sogenannten Promessen des Hauses Rothschild, stehen nämlich schon mehre hundert Franken über pari, und wer daher solche Aktien al pari von dem Baron James de Rothschild begehrt, bettelt im wahren Sinne des Wortes. Aber die ganze Welt bettelt jetzt bei ihm, es regnet Bettelbriefe, und da die Vornehmsten mit dem würdigen Beispiel vorangehen, ist jetzt das Betteln keine Schande mehr. Herr von Rothschild ist daher der Held des Tages, und er spielt überhaupt in der Geschichte unsrer heutigen misère eine so große Rolle, daß ich ihn oft und so ernsthaft als möglich besprechen muß. Er ist in der Tat eine merkwürdige Person. Ich kann seine finanzielle Fähigkeit nicht beurteilen, aber nach Resultaten zu schließen, muß sie sehr groß sein. Eine eigentümliche Kapazität ist bei ihm die Beobachtungsgabe oder der Instinkt, womit er die Kapazitäten andrer Leute in jeder Sphäre, wo nicht zu beurteilen, doch herauszufinden versteht. Man hat ihn ob solcher Begabnis mit Ludwig XIV. verglichen; und wirklich, im Gegensatz zu seinen Herren Kollegen, die sich gern mit einem Generalstab von Mittelmäßigkeiten umgeben, sahen wir Hrn. James von Rothschild immer in intimster Verbindung mit den Notabilitäten jeder Disziplin: wenn ihm auch das Fach ganz unbekannt war, so wußte er doch immer, wer darin der beste Mann. Er versteht vielleicht keine Note Musik, aber Rossini war beständig sein Hausfreund. Ary Scheffer ist sein Hofmaler; Carême war sein Koch. Hr. v. Rothschild weiß sicher kein Wort Griechisch, aber der Hellenist Letronne ist der Gelehrte, den er am meisten auszeichnet. Sein Leibarzt war der geniale Dupuytren, und es herrschte zwischen beiden die brüderlichste Zuneigung. Den Wert eines Crémieux, des großen Juristen, dem eine große Zukunft bevorsteht, hat Hr. v. Rothschild schon frühe begriffen, und er fand in ihm seinen treuen Anwalt. In gleicher Weise hat er die politischen Fähigkeiten Ludwig Philipps gleich von Anfang gewürdigt, und er stand immer auf vertrautem Fuße mit diesem Großmeister der Staatskunst. Den Émile Péreire, den Pontifex maximus der Eisenbahnen, hat Hr. v. Rothschild ganz eigentlich entdeckt, er machte denselben gleich zu seinem ersten Ingenieur, und durch ihn gründete er die Eisenbahn nach Versailles. Die Poesie, sowohl die französische wie die deutsche, ist ebenfalls in der Gunst des Hrn. v. Rothschild sehr würdig vertreten, doch will es mich bedünken, als ob hier nur eine liebenswürdige Courtoisie im Spiele und als ob der Herr Baron für unsre heutigen lebenden Dichter nicht so schwärmerisch begeistert sei wie für die großen Toten, z.B. für Homer, Sophokles, Dante, Cervantes, Shakespeare, Goethe, lauter verstorbene Poeten, verklärte Genien, die, geläutert von allen irdischen Schlacken, jeder Erdennot entrückt sind und keine Nordeisenbahnaktien verlangen.

In diesem Augenblick ist der Stern Rothschild im Zenit seines Glanzes. Ich weiß nicht, ob ich mir nicht einen Mangel an Devotion zuschulden kommen lasse, indem ich Hrn. v. Rothschild nur einen Stern nannte. Doch er wird mir nicht darob grollen, wie jener andre, Ludwig XIV., der einst über einen armen Dichter in Zorn geriet, weil er die Impertinenz hatte, ihn mit einem Stern zu vergleichen, ihn, der gewohnt war, die Sonne genannt zu werden, und auch diesen Himmelskörper als sein offizielles Sinnbild angenommen.

Ich will heute, um ganz sicher zu gehen, Hrn. v. Rothschild dennoch mit der Sonne vergleichen, erstens kostet es mir nichts, und dann, wahrhaftig, ich kann es mit gutem Fug in diesem Augenblick, wo jeder ihm huldigt, um von seinen goldnen Strahlen gewärmt zu werden. – Unter uns gesagt, diese Furor der Verehrung ist für die arme Sonne keine geringe Plage, und sie hat keine Ruhe vor ihren Anbetern, worunter manche gehören, die wahrlich nicht wert sind, von der Sonne beschienen zu werden; diese Pharisäer psalmodieren am lautesten ihr Lob und Preis, und der arme Baron wird von ihnen so sehr moralisch torquiert und abgehetzt, daß man ein Mitleid mit ihm haben möchte. Ich glaube überhaupt, das Geld ist für ihn mehr ein Unglück als ein Glück; hätte er ein hartes Naturell, so würde er weniger Ungemach ausstehen, aber ein gutmütiger, sanfter Mensch, wie er ist, muß er viel leiden von dem Andrang des vielen Elends, das er lindern soll, von den Ansprüchen, die man beständig an ihn macht, und von dem Undank, der jeder seiner Wohltaten auf dem Fuße folgt. Überreichtum ist vielleicht schwerer zu ertragen als Armut. Jedem, der sich in großer Geldnot befindet, rate ich, zu Hrn. v. Rothschild zu gehen; nicht um bei ihm zu borgen (denn ich zweifle, daß er etwas Erkleckliches bekömmt), sondern um sich durch den Anblick jenes Geldelends zu trösten. Der arme Teufel, der zuwenig hat und sich nicht zu helfen weiß, wird sich hier überzeugen, daß es einen Menschen gibt, der noch weit mehr gequält ist, weil er zuviel Geld hat, weil alles Geld der Welt in seine kosmopolitische Riesentasche geflossen und weil er eine solche Last mit sich herumschleppen muß, während rings um ihn her der große Haufen von Hungrigen und Dieben die Hände nach ihm ausstreckt. Und welche schreckliche und gefährliche Hände! – »Wie geht es Ihnen?« frug einst ein deutscher Dichter den Herrn Baron. »Ich bin verrückt«, erwiderte dieser. »Ehe Sie nicht Geld zum Fenster hinauswerfen«, sagte der Dichter, »glaube ich es nicht.« Der Baron fiel ihm aber seufzend in die Rede: »Das ist eben meine Verrücktheit, daß ich nicht manchmal das Geld zum Fenster hinauswerfe.«

Wie unglücklich sind doch die Reichen in diesem Leben – und nach dem Tode kommen sie nicht einmal in den Himmel! »Ein Kamel wird eher durch ein Nadelöhr gehen, als daß ein Reicher ins Himmelreich käme« – dieses Wort des göttlichen Kommunisten ist ein furchtbares Anathema und zeugt von seinem bittern Haß gegen die Börse und Hautefinance von Jerusalem. Es wimmelt in der Welt von Philanthropen, es gibt Tierquälergesellschaften, und man tut wirklich sehr viel für die Armen. Aber für die Reichen, die noch viel unglücklicher sind, geschieht gar nichts. Statt Preisfragen über Seidenkultur, Stallfütterung und Kantsche Philosophie aufzugeben, sollten unsre gelehrten Sozietäten einen bedeutenden Preis aussetzen zur Lösung der Frage, wie man ein Kamel durch ein Nadelöhr fädeln könne. Ehe diese große Kamelfrage gelöst ist und die Reichen eine Aussicht gewinnen, ins Himmelreich zu kommen, wird auch für die Armen kein durchgreifendes Heil begründet. Die Reichen würden weniger hartherzig sein, wenn sie nicht bloß auf Erdenglück angewiesen wären und nicht die Armen beneiden müßten, die einst dort oben in floribus sich des ewigen Lebens gaudieren. Sie sagen: »Warum sollen wir hier auf Erden für das Lumpengesindel etwas tun, da es ihm doch einst besser geht als uns und wir jedenfalls nach dem Tode nicht mit demselben zusammentreffen.« Wüßten die Reichen, daß sie dort oben wieder in aller Ewigkeit mit uns gemeinsam hausen müssen, so würden sie sich gewiß hier auf Erden etwas genieren und sich hüten, uns gar zu sehr zu mißhandeln. Laßt uns daher vor allem die große Kamelfrage lösen.

Hartherzig sind die Reichen, das ist wahr. Sie sind es sogar gegen ihre ehemaligen Kollegen, wenn sie etwas heruntergekommen sind. Da bin ich jüngst dem armen August Leo begegnet, und das Herz blutete mir beim Anblick des Mannes, der ehemals mit den Häuptern der Börse, mit der Aristokratie der Spekulanten, so intim verbunden und sogar selbst ein Stück Bankier war. Aber sagt mir doch, ihr hochmögenden Herren, was hat euch der arme Leo getan, daß ihr ihn so schnöde ausgestoßen habt aus der Gemeinde? – ich meine nicht aus der jüdischen, ich meine aus der Finanzgemeinde. Ja, der Ärmste genießt seit einiger Zeit die Ungunst seiner Genossen in so hohem Grade, daß man ihn von allen verdienstlichen Unternehmungen, d.h. von allen Unternehmungen, woran etwas verdient wird, wie einen Misselsüchtigen ausschließt. Auch von dem letzten emprunt hat man ihm nichts zufließen lassen, und auf Beteiligung bei neuen Eisenbahn-Entreprisen muß er gänzlich verzichten, seitdem er bei der Versailler Eisenbahn der rive gauche eine so klägliche Schlappe erlitten und seine Leute in so schreckliche Verluste hineingerechnet hat. Keiner will mehr etwas von ihm wissen, jeder stößt ihn zurück, und sogar sein einziger Freund (der, beiläufig gesagt, ihn nie ausstehen konnte), sogar sein Jonathan, der Stockjobber Läusedorf, verläßt ihn und läuft jetzt beständig hinter dem Baron Mecklenburg einher und kriecht demselben fast zwischen die Rockschöße hinein. – Beiläufig bemerke ich ebenfalls, daß genannter Baron Mecklenburg, einer unserer eifrigsten Agioteure und Industriellen, keineswegs ein Israelite ist, wie man gewöhnlich glaubt, weil man ihn mit Abraham Mecklenburg verwechselt oder weil man ihn immer unter den Starken Israels sieht, unter den Krethi und Plethi der Börse, wo sie sich um ihn versammeln; denn sie lieben ihn sehr. Diese Leute sind keine religiösen Fanatiker, wie man sieht, und ihr Unmut gegen den armen Leo ist daher keinen intoleranten Ursachen beizumessen; sie grollen ihm nicht wegen seiner Abtrünnigkeit von der schönen jüdischen Religion, und sie zuckten nur mitleidig die Achsel über die schlechten Religionswechselgeschäfte des armen Leo, der in dem protestantischen Bethaus der Rue des Billettes jetzt das Amt eines Marguilliers versieht – das ist gewiß ein bedeutendes Ehrenamt, aber ein Mann wie August Leo wäre mit der Zeit auch in der Synagoge zu großen Würden emporgestiegen, man hätte vielleicht bei Beschneidungsfeierlichkeiten das Kind, dem die Vorhaut abgeschnitten wird, oder das Messerchen, womit solches geschieht, seinen Händen anvertraut, oder man hätte ihn auch bei Lesung der Thora mit den kostspieligsten Tageswürden überhäuft, ja, da er sehr musikalisch ist und gar für Kirchenmusik soviel Sinn besitzt, wäre ihm vielleicht am Neujahrsfeste der jüdischen Kirche das Blasen mit dem Schofar, dem heiligen Horne, zuteil geworden. Nein, er ist nicht das Opfer eines religiösen oder moralischen Unwillens starrköpfiger Pharisäer, es sind nicht Fehler des Herzens, welche dem armen Leo zur Last gelegt werden, sondern Rechnungsfehler, und verlorene Millionen verzeiht selbst kein Christ. Aber habt doch endlich Erbarmen mit dem armen Gefallenen, mit der gesunkenen Größe, nehmt ihn wieder auf in Gnaden, laßt ihn wieder teilnehmen an einem guten Geschäfte, gönnt ihm einmal wieder einen kleinen Profit, woran sich sein gebrochenes Herz erlabe, date obolum Belisario – gebt einen Obolus einem Belisar, der zwar kein großer Feldherr, aber blind gewesen und nie im Leben irgendeinem Bedürftigen einen Obolus gegeben hat!

Auch patriotische Gründe gibt es, welche die Erhaltung des armen Leo wünschenswert machen. Gekränktes Selbstgefühl und die großen Verluste nötigen, wie ich höre, den einst so wohlhabenden Mann, das sehr teure Paris zu verlassen und sich auf das Land zurückzuziehen, wo er, wie Cincinnatus, seinen selbstgepflanzten Kohl verspeisen oder, wie einst Nebukadnezar, auf seinen eigenen Wiesen grasen kann. Das wäre nun ein großer Verlust für die deutsche Landsmannschaft. Denn alle deutsche Reisende zweiten und dritten Ranges, die hierher nach Paris kamen, fanden im Hause des Herrn Leo eine gastliche Aufnahme, und manche, die in der frostigen Franzosenwelt ein Unbehagen empfanden, konnten sich mit ihrem deutschen Herzen hierher flüchten und mit gleichgesinnten Gemütern wieder heimisch fühlen. An kalten Winterabenden fanden sie hier eine warme Tasse Tee, etwas homöopathisch zubereitet, aber nicht ganz ohne Zucker. Sie sahen hier Herrn von Humboldt, nämlich in effigie an der Wand hängend, als Lockvogel. Hier sahen sie den Nasenstern in natura. Auch eine deutsche Gräfin fand man hier. Es zeigten sich hier auch die vornehmsten Diplomaten von Krähwinkel, nebst ihren kräh- und schiefwinklichten Gemahlinnen. Hier hörte man mitunter sehr ausgezeichnete Klavierspieler und Geiger, neuangekommene Virtuosen, die von Seelenverkäufern an das Haus Leo empfohlen worden und sich in seinen Soireen musikalisch ausbeuten ließen. Es waren die holden Klänge der Muttersprache, sogar der Großmuttersprache, welche hier den Deutschen begrüßten. Hier ward die Mundart des Hamburger Dreckwalls am reinsten gesprochen, und wer diese klassischen Laute vernahm, dem ward zumute, als röche er wieder die Twieten des Mönckedamms. Wenn aber gar die »Adelaide« von Beethoven gesungen wurde, flossen hier die sentimentalsten Tränen! Ja, jenes Haus war eine Oase, eine sehr aasige Oase deutscher Gemütlichkeit in der Sandwüste der französischen Verstandswelt, es war eine Lauberhütte des traulichsten Cancans, wo man ruddelte wie an den Ufern des Mains, wo man klingelte wie im Weichbilde der hil'gen Stadt Köln, wo dem vaterländischen Klatsch manchmal auch zur Erfrischung ein Gläschen Bier beigesellt ward – deutsches Herz, was verlangst du mehr? Es wäre jammerschade, wenn diese Klatschbude geschlossen würde.






© Wolfgang Fricke