» Startseite » Texte von Heine » Lutetia - Artikel LVIII

Heinrich Heine
Lutetia – Zweiter Teil






LVIII

Paris, 6. Mai 1843


Die kostbare Zeit wird leichtsinnig verzettelt. Ich sage die kostbare Zeit, und ich verstehe darunter die Friedensjahre, die uns durch die Regierung Ludwig Philipps verbürgt sind. An dem Lebensfaden desselben hängt die Ruhe Frankreichs, und der Mann ist alt, und unerbittlich ist die Schere der Parze. Statt diese Zeit zu benutzen und den Knäuel der innern und äußern Mißverständnisse zu entwirren, sucht man die Verwickelungen und Schwierigkeiten noch zu steigern. Nichts als geschminkte Komödie, und Ränke hinter den Kulissen. Durch dieses Kleintreiben kann Frankreich wirklich an den Rand des Abgrunds geraten. Die Wetterfahnen verlassen sich auf ihr berühmtes Talent der Vielseitigkeit in der Bewegung; sie fürchten nicht die ärgsten Stürme, da sie immer verstanden, sich nach jedem Luftzug zu drehen. Ja, der Wind kann euch nicht brechen, denn ihr seid noch beweglicher wie der Wind. Aber ihr bedenkt nicht, daß ihr trotz eurer windigen Versatilität dennoch kläglich aus eurer Höhe herabpurzelt, wenn der Turm niederstürzt, auf dessen Spitze ihr gestellt seid! Fallen müßt ihr mit Frankreich, und dieser Turm ist untergraben, und im Norden hausen sehr böswillige Wettermacher. Die Schamanen an der Newa sind in diesem Augenblick nicht in der Ekstase des Sturmbeschwörens; aber hier hängt doch alles von Laune ab, von der absoluten Laune erhabenster Willkür. Wie gesagt, mit dem Ableben Ludwig Philipps verschwindet alle Bürgschaft der Ruhe; dieser größere Hexenmeister hält die Stürme gebunden durch seine geduldige Klugheit. Wer ruhig schlafen will, muß in seinem Nachtgebet den König von Frankreich allen Schutzengeln des Lebens empfehlen.

Guizot wird sich noch geraume Zeit halten, was gewiß wünschenswert, da eine ministerielle Krisis immer mit unvorhergesehenen Fatalitäten verbunden ist. Ein Ministerwechsel ist bei den veränderungsüchtigen Franzosen vielleicht ein Surrogat für den periodischen Dynastienwechsel. Aber diese Umwälzungen im Personal der höchsten Staatsbeamten sind darum nicht minder ein Unglück für ein Land, das mehr als jedes andere der Stabilität bedürftig ist. Wegen ihrer prekären Stellung können die Minister sich in keine weitausgreifende Plane einlassen, und der nackte Erhaltungstrieb absorbiert alle ihre Kräfte. Ihr schlimmstes Mißgeschick ist nicht sowohl ihre Abhängigkeit vom königlichen Willen, der meistens verständig und heilsam ist, sondern ihre Abhängigkeit von den sogenannten Konservativen, jenen konstitutionellen Janitscharen, welche hier nach Laune die Minister absetzen und einsetzen. Erregt einer derselben ihre Ungnade, so versammeln sie sich in ihren parlamentarischen Ortas und pauken los auf ihre Kessel. Die Ungnade dieser Leute entspringt aber gewöhnlich aus wirklichen Suppenkesselinteressen: sie sind es nämlich, welche in Frankreich eigentlich regieren, indem kein Minister ihnen etwas verweigern darf, keinerlei Amt oder Vergünstigung, weder ein Konsulat für den ältesten Sohn ihres Herrn Schwagers noch ein Tabaksprivilegium für die Witwe ihres Portiers. Es ist unrichtig, wenn man von dem Regiment der Bourgeoisie im allgemeinen spricht, man sollte nur von dem Regimente der konservativen Deputierten reden; diese sind es, welche das jetzige Frankreich ausbeuten, in ihrem Privatinteresse, wie einst der Geburtsadel. Letzterer ist von der konservativen Partei keineswegs bestimmt gesondert, und wir begegnen manchem alten Namen unter den parlamentarischen Tagesherrschern. Der Name »Konservative« ist aber eigentlich ebenfalls keine richtige Bezeichnung, da es gewiß nicht allen, die wir solchermaßen benamsen, um die Konservation der politischen Zustände zu tun ist und manche daran sehr gern ein bißchen rütteln möchten; ebenso wie es in der Opposition sehr viele Männer gibt, die das Bestehende um alles in der Welt willen nicht umstürzen möchten und gar besonders vor dem Krieg eine Todesscheu hegen. Die meisten jener Oppositionsmänner wollen nur ihre Partei ans Regiment bringen, um dieses, gleich den Konservativen, in ihrem Privatinteresse auszubeuten. Die Prinzipien sind auf beiden Seiten nur Losungsworte ohne Bedeutung; es handelt sich im Grunde nur darum, welche von beiden Parteien die materiellen Vorteile der Herrschaft erwerbe. In dieser Beziehung haben wir hier denselben Kampf, der sich jenseits des Kanals, unter den Namen Whigs und Tories, seit zwei Jahrhunderten hinschleppt.

Die englische konstitutionelle Regierungsform war, wie männiglich bekannt, das große Muster, wonach sich das jetzige französische parlamentarische Gemeinwesen gebildet; namentlich die Doktrinäre haben dieses Vorbild bis zur Pedanterie nachzuäffen gesucht, und es wäre nicht unwahrscheinlich, daß die allzu große Nachgiebigkeit, womit das heutige Ministerium die Usurpationen der Konservativen erduldet und sich von denselben ausbeuten läßt, am Ende aus einer gelehrten Gründlichkeit hervorginge, die ihr reiches, durch mühsame Studien erworbenes Wissen getreulichst dokumentieren möchte. Der 29. Oktober, d.h. der Herr Professor, den die Opposition mit jenem Monatsdatum bezeichnet, kennt das Räderwerk der englischen Staatsmaschine besser als irgend jemand, und wenn er glaubt, daß eine solche Maschine auch diesseits des Kanals nicht anders fungieren könne als durch die unsittlichen Mittel, in deren Anwendung Walpole ein Meister und Robert Peel keineswegs ein Stümper war, so ist eine solche Ansicht gewiß sehr zu beklagen, aber wir können ihr nicht mit hinlänglicher Gelehrsamkeit und Geschichtskenntnis widersprechen. Wir müssen sagen, die Maschine selbst taugt nichts; aber fehlt uns dieser Mut, so können wir den dirigierenden Maschinenmeister keiner allzu herben Kritik unterwerfen. Und wozu nützte am Ende diese Kritik? Was hülfe es, in Augsburg zu rügen, wenn an der Seine gesündigt wird? Die Opposition eines Ausländers in ausländischen Blättern, wo es sich um Gebreste der innern Verwaltung Frankreichs handelt, wäre eine Rodomontade, die ebenso ungeziemend wie närrisch. Nicht die innere Administration, sondern nur Akte der Politik, die auch auf unser eignes Vaterland einen Einfluß üben könnten, soll ein Korrespondent besprechen. Ich werde daher die jetzige Korruption, das Bestechungssystem, womit meine Kollegen in deutschen Zeitungen so viele Kolonnen anfüllen, weder in Frage stellen noch rechtfertigen. Was geht das uns an, wer in Frankreich die besten Ämter, die fettesten Sinekuren, die prachtvollsten Orden erschleicht oder an sich reißt? Was kümmert es uns, ob es ein Schnapphahn der Rechten oder ein Schnapphahn der Linken ist, der die goldenen Gedärme des Budgets einsteckt? Wir haben nur dafür zu sorgen, daß wir uns selbst in der respektiven Heimat von unsern heimischen Tories oder Whigs durch kein Ämtchen, durch keinen Titel, durch kein Bändchen erkaufen lassen, wenn es gilt, für die Interessen des deutschen Volks zu reden oder zu stimmen! Warum sollen wir jetzt über den Splitter, den wir in französischen Augen bemerkt, soviel Zeter schreien, wenn wir uns über den Balken in den blauen Augen unsrer deutschen Behörden entweder gar nicht oder sehr kleinlaut äußern dürfen? Wer könnte übrigens in Deutschland beurteilen, ob der Franzose, dem das französische Ministerium eine Stelle oder Gunst gewährt, dieselbe verdienter- oder unverdienterweise empfing? Die Ämterjägerei wird nicht aufhören unter einem Ministerium Thiers oder Barrot, wenn Guizot fällt. Kämen gar die Republikaner ans Ruder, so würde die Korruption sich mehr im Gewande der Hypokrisie zeigen, statt daß sie jetzt ohne Schminke, schier naiv zynisch auftritt. Die Partei wird immer den Männern der Partei die große Schüssel vorsetzen. Einen entsetzlich grauenhaften Anblick böte uns gewiß die Stunde, »wo sich das Laster erbricht und die Tugend zu Tische setzt!« Mit welcher Wolfsgier würden die armen Hungerleider der Tugend nach der langen Fastenzeit sich über die guten Speisen herstürzen! Wie mancher Cato würde sich bei dieser Gelegenheit den Magen verderben! Wehe den Verrätern, die sich satt gegessen und sogar Rebhühner und Trüffeln gegessen und Champagner getrunken während unsrer jetzigen Zeit der Verderbnis, der Bestechung, der Guizotschen Korruption!

Ich will nicht untersuchen, von welcher Beschaffenheit diese sogenannte Guizotsche Korruption ist und welche Beklagnisse die verletzten Interessen anführen. Muß der große Puritaner wirklich seiner Selbsterhaltung wegen zu dem anglikanischen Bestechungssystem seine Zuflucht nehmen, so ist er gewiß sehr zu bedauern; eine Vestalin, welche einer Maison de tolérance vorstehen müßte, befände sich gewiß in keiner minder unpassenden Lage. Vielleicht besticht ihn selbst der Gedanke, daß von seiner Selbsterhaltung auch der Fortbestand des ganzen jetzigen gesellschaftlichen Zustandes von Frankreich abhängig sei. Das Zusammenbrechen desselben ist für ihn der Beginn aller möglichen Schrecknisse. Guizot ist der Mann des geregelten Fortschrittes, und er sieht die teuern, blutteuern Erworbenheiten der Revolution jetzt mehr als je gefährdet durch ein düster heranziehendes Weltgewitter. Er möchte gleichsam Zeit gewinnen, um die Garben der Ernte unter Dach zu bringen. In der Tat, die Fortdauer jener Friedensperiode, wo die gereiften Früchte eingescheuert werden können, ist unser erstes Bedürfnis. Die Saat der liberalen Prinzipien ist erst grünlich abstrakt emporgeschossen, und das muß erst ruhig einwachsen in die konkret knorrigste Wirklichkeit. Die Freiheit, die bisher nur hie und da Mensch geworden, muß auch in die Massen selbst, in die untersten Schichten der Gesellschaft, übergehen und Volk werden. Diese Volkwerdung der Freiheit, dieser geheimnisvolle Prozeß, der, wie jede Geburt, wie jede Frucht, als notwendige Bedingnis Zeit und Ruhe begehrt, ist gewiß nicht minder wichtig, als es jene Verkündigung der Prinzipien war, womit sich unsre Vorgänger beschäftigt haben. Das Wort wird Fleisch, und das Fleisch blutet. Wir haben eine geringere Arbeit, aber größeres Leid als unsre Vorgänger, welche glaubten, alles sei glücklich zu Ende gebracht, nachdem die heiligen Freiheits- und Gleichheitsgesetze feierlich proklamiert und auf hundert Schlachtfeldern sanktioniert worden. Ach! das ist noch jetzt der leidige Irrtum so vieler Revolutionsmänner, welche sich einbilden, die Hauptsache sei, daß ein Fetzen Freiheit mehr oder weniger abgerissen werde von dem Purpurmantel der regierenden Macht; sie sind zufrieden, wenn nur die Ordonnanz, die irgendein demokratisches Grundgesetz promulgiert, recht hübsch, schwarz auf weiß, abgedruckt steht im »Moniteur«. Da erinnere ich mich, als ich vor zwölf Jahren den alten Lafayette besuchte, drückte derselbe mir beim Fortgehen ein Papier in die Hand, und er hatte dabei ganz die überzeugte Miene eines Wunderdoktors, der uns ein Universalelixier überreicht. Es war die bekannte Erklärung der Menschenrechte, die der Alte vor sechzig Jahren aus Amerika mitgebracht und noch immer als die Panazee betrachtete, womit man die ganze Welt radikal kurieren könne. Nein, mit dem bloßen Rezept ist dem Kranken noch nicht geholfen, obgleich jenes unerläßlich ist: er bedarf auch der Tausendmischerei des Apothekers, der Sorgfalt der Wärterin, er bedarf der Ruhe, er bedarf der Zeit.






© Wolfgang Fricke