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Heinrich Heine
Lutetia – Zweiter Teil






LXI

Paris, 21. Juni 1843


Alle Jahre besuche ich regelmäßig die feierliche Sitzung in der Rotunde des Palais Mazarin, wo man sich stundenlang vorher einfinden muß, um Platz zu finden, unter der Elite der Geistesaristokratie, wozu glücklicherweise die schönsten Damen gehören. Nach langem Warten kommen endlich durch eine Seitentür die Herren Akademiker, die Mehrzahl aus Leuten bestehend, die sehr alt oder wenigstens nicht sehr gesund sind; Schönheit darf hier nicht gesucht werden. Sie setzen sich auf ihre langen, harten Holzbänke; man spricht zwar von den Fauteuils der Akademie, aber diese existieren nicht in der Wirklichkeit und sind nur eine Fiktion. Die Sitzung beginnt mit einer langen, langweiligen Rede über die Jahresarbeiten und die eingegangenen Preisschriften, die der temporäre Präsident zu halten pflegt. Hierauf erhebt sich der Sekretär, der perpetuelle, dessen Amt ein ewiges ist, wie das Königtum. Die Sekretäre der Akademie und Ludwig Philipp sind Personen, die nicht durch Minister- oder Kammerlaune abgesetzt werden können. Leider ist Ludwig Philipp schon hochbejahrt, und wir wissen noch nicht, ob sein Nachfolger uns mit gleichem Talent die schöne Friedensruhe erhalten wird. Aber Mignet ist noch jung, oder, was noch besser, er ist der Typus der Jugendlichkeit selbst, er bleibt verschont von der Hand der Zeit, die uns andern die Haare weiß färbt, wo nicht gar ausrauft und die Stirne so häßlich fältelt: der schöne Mignet trägt noch seine goldlockichte Frisur wie vor zwölf Jahren, und sein Antlitz ist noch immer blühend wie das der Olympier. Sobald der Perpetuelle auf die Rednerbühne getreten, nimmt er seine Lorgnette und beäugelt das Publikum.

Er zählt die Häupter seiner Lieben,
Und sieh, es fehlt kein teures Haupt.

Hierauf betrachtet er auch die um ihn her sitzenden Kollegen, und wenn ich boshaft wäre, würde ich seinen Blick ganz eigen kommentieren. Er kommt mir in solchen Momenten immer vor wie ein Hirt, der seine Herde mustert. Sie gehören ihm ja alle, ihm, dem Perpetuellen, der sie alle überleben und sie früh oder spät in seinen »Précis historiques« sezieren und einbalsamieren wird. Er scheint eines jeden Gesundheitszustand zu prüfen, um sich zu der künftigen Rede vorbereiten zu können. Der alte Ballanche sieht sehr krank aus, und Mignet schüttelt den Kopf. Da jener arme Mann gar kein Leben gelebt und auf dieser Erde gar nichts anderes getan hat, als daß er zu den Füßen von Madame Récamier saß und Bücher schrieb, die niemand liest und jeder lobt, so wird Mignet wirklich seine Not haben, ihm in seinem »Précis historique« eine menschliche Seite abzugewinnen und ihn genießbar zu machen.

In der heurigen Sitzung war der verstorbene Daunou der Gegenstand, den Mignet behandelte. Zu meiner Schande gestehe ich, daß letzterer mir unbegreiflich wenig bekannt war, daß ich nur mit Mühe einige seiner Lebensmomente in meinem Gedächtnisse wiederfand. Auch bei anderen, besonders bei der jüngeren Generation, begegnete ich einer großen Unwissenheit in bezug auf Daunou. Und dennoch hatte dieser Mann während einem halben Jahrhundert an dem großen Rad gedreht, und dennoch hatte er unter der Republik und dem Kaisertume die wichtigsten Ämter bekleidet, und dennoch war er bis an sein Lebensende ein tadelloser Verfechter der Menschheitsrechte, ein unbeugsamer Kämpe gegen Geistesknechtschaft, einer jener hohen Organisatoren der Freiheit, die gut sprachen, aber noch besser handelten und das schöne Wort in die heilsame Tat umschufen. Warum aber ist er trotz aller seiner Verdienste, trotz seiner rastlosen politischen und literarischen Tätigkeit dennoch nicht berühmt geworden? Warum glüht in unsrer Erinnerung sein Name nicht so farbig wie die Namen so mancher seiner Kollegen, die eine minder bedeutende Rolle gespielt? Was fehlte ihm, um zur Berühmtheit zu gelangen? Ich will es mit einem Worte sagen: die Leidenschaft. Nur durch irgendeine Manifestation der Leidenschaft werden die Menschen auf dieser Erde berühmt. Hier genügt eine einzige Handlung, ein einziges Wort, aber sie müssen das leidenschaftliche Gepräge tragen. Ja, sogar die zufällige Begegnung mit großen Ereignissen der Leidenschaft gewährt unsterblichen Nachruhm. Der selige Daunou war aber ein stiller Mönch, der den klösterlichen Frieden im Gemüte trug, während alle Stürme der Revolution um ihn her raseten, der sein Tagwerk vollbrachte ruhig und furchtlos, unter Robespierre wie unter Napoleon, und der ebenso bescheiden starb, wie er bescheiden lebte. Ich will nicht sagen, daß seine Seele nicht glühte, aber es war eine Glut ohne Flamme, ohne Geprassel, ohne Spektakel.

Trotz dem scheinlosen Leben des Mannes wußte Mignet doch Interesse für diesen stillen Helden zu erregen, und da dieser das höchste Lob verdiente, konnte es ihm auch in reichem Maße gezollt werden. Aber wäre auch Daunou keineswegs ein so rühmenswerter Mensch gewesen, hätte er gar zu jenen charakterlosen Fröschen gehört, deren so mancher im Sumpf (marais) des Konventes saß und schweigsam fortlebte, während die Bessern sich um den Kopf sprachen, ja, er hätte sogar ein Lump sein können, so würde ihn dennoch der Weihrauchkessel des offiziellen Lobes sattsam eingequalmt haben. Obgleich Mignet seine Reden »Précis historiques« nennt, so sind sie doch noch immer die alten éloges, und es sind noch dieselben Komplimente aus der Zeit Ludwigs XIV., nur daß sie jetzt nicht mehr in gepuderten Allongeperücken stecken, sondern sehr modern frisiert sind. Und der jetzige Secrétaire perpétuel der Akademie ist einer der größten Friseure unsrer Zeit und besitzt den rechten Schick für dieses edle Gewerbe. Selbst wenn an einem Menschen kein einzigs gutes Haar ist, weiß er ihm doch einige Löckchen des Lobes anzukräuseln und den Kahlkopf unter dem Toupet der Phrase zu verbergen. Wie glücklich sind doch diese französischen Akademiker! Da sitzen sie im süßesten Seelenfrieden auf ihren sichern Bänken, und sie können ruhig sterben, denn sie wissen, wie bedenklich auch ihre Handlungen gewesen, so wird sie doch der gute Mignet nach ihrem Tode rühmen und preisen. Unter den Palmen seines Wortes, die ewig grün wie die seiner Uniform, eingelullt von dem Geplätscher der oratorischen Antithesen, lagern sie hier in der Akademie wie in einer kühlen Oase. Die Karawane der Menschheit aber schreitet ihnen zuweilen vorüber, ohne daß sie es merkten oder etwas anders vernahmen als das Geklingel der Kamele.






© Wolfgang Fricke