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Heinrich Heine: William Ratcliff

Zuerst erschienen in »Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo«, 1823 bei Dümmler, Berlin. 1852 wurde die Tragödie in die 3. Auflage der »Neuen Gedichte« aufgenommen, was Heine in der Vorrede zur 3. Auflage erläuterte.
Das Stück ist wahrscheinlich 1822 entstanden. Eine Aufführung fand zu Heines Lebzeiten nicht statt.
Anmerkung: Ich habe die Schrift in 2 Teile aufgeteilt, damit die Datei nicht zu groß wurde - im Original existiert eine solche Einteilung nicht.

William Ratcliff


Tragödie


Personen

MacGregor, schottischer Laird
Maria, seine Tochter
Graf Douglas, ihr Bräutigam
William Ratcliff
Lesley, sein Freund
Margarete, Marias Amme
Tom, Wirt einer Diebesherberge
Willie, sein Söhnchen

Robin, Räuber und Gauner
Dick,"
Bill,"
John,"
Taddie,"

Räuber, Bediente, Hochzeitsgäste.

Die Handlung geht vor in der neuesten Zeit, im nördlichen Schottland.



Zimmer in MacGregors Schloß

Margarete (kauert bewegungslos in einer Ecke).
MacGregor. Maria. Douglas.

MacGregor er legt Douglas' und Marias Hände ineinander:

Ihr seid jetzt Mann und Weib. Wie eure Hände
Vereinigt sind, so sollen auch die Herzen,
In Leid und Freud, vereinigt sein auf immer.
Zwei mächt'ge Sakramente, das der Kirche
Und das der Liebe, haben euch verbunden;
Ein Doppelsegen ruht auf euren Häuptern;
Und auch den Vatersegen leg ich drauf.

Er legt segnend seine Hände auf beider Haupt.

Douglas:

Mit Stolz, Mylord, nenn ich Euch heute: Vater.

MacGregor:

Mit noch weit größerm Stolz nenn ich Euch: Sohn.

Sie umarmen sich.

Margarete singt im abgebrochenen Wahnsinntone:

»Was ist von Blut dein Schwert so rot?
Edward, Edward?«

Douglas erschrocken auffahrend und nach Margarete schauend:

Um Gott, Mylord, welch gläsern geller Laut?
Es fängt zu singen an, das stumme Bild -

MacGregor mit erzwungenem Lächeln:

Stört Euch nicht dran. Es ist die tolle Margret,
Gehört zum Schloß. Sie leidet an der Starrsucht,
Seit Jahr und Tag. Mit stieren Augen liegt sie
Gekauert, manch unheimlich lange Stunde;
Und dann und wann, wie 'n Stein, der sprechen kann,
Bewegungslos, quäkt sie ein altes Lied -

Douglas:

Warum behaltet Ihr im Schloß solch Schrecknis?

MacGregor leise zu ihm:

Still, still. Sie hört jedwedes Wort; - schon lange
Hätt ich sie fortgeschafft - doch darf ich nicht.

Maria:

Laßt ruhn die arme, gute Margarete.
Erzählt mir lieber etwas Neues, Douglas.
Wie sieht's in London aus? Bei uns in Schottland
Erfährt man nichts.

Douglas:

Noch ist's das alte Treiben.
Man rennt, und fährt, und jagt, Straß' auf, Straß' ab.
Man schläft des Tags, und macht zum Tag die Nacht.
Vauxhall und Routs und Picknicks drängen sich;
Und Drurylane und Coventgarden locken.
Die Oper rauscht. Pfundnoten wechselt man
Für Musiknoten ein. »God save the King«
Wird mitgebrüllt. Die Patrioten liegen
In dunkeln Schenken und politisieren,
Und subskribieren, wetten, fluchen, gähnen,
Und saufen auf das Wohl des Vaterlands.
Roastbeef und Pudding dampft, der Porter schäumt,
Und sein Rezept schreibt lächelnd der Quacksalber.
Die Taschendiebe drängen. Gauner quälen
Mit ihrer Höflichkeit. Der Bettler quält
Mit seinem Jammeranblick und Gewimmer.
Vor allem quält die unbequeme Tracht,
Der enge Wespenrock, das steife Halsband,
Und gar der babylonisch hohe Turmhut.

MacGregor:

Da lob ich mir mein Plaid und meine Mütze.
Ihr tatet gut, daß Ihr die Narrenkleider
Vom Leib geworfen habt. Ein Douglas muß
Im Äußern auch ein Schotte sein, und heute
Lacht mir das Herz im Leib, wenn ich Euch schaue,
Euch alle, in der lieben Schottentracht.

Maria:

Erzählt mir was von Eurer Reise, Douglas.

Douglas:

Zu Wagen fuhr ich bis an Schottlands Grenze.
Das ging mir viel zu langsam. In Old-Jedburgh
Nahm ich ein Pferd. Ich gab dem Tier die Spor'n.
Mich selber aber spornte Liebessehnsucht.
Ich dachte nur an Euch, Marie, und pfeilschnell,
Durch Busch und Berg und Feld, trug mich mein Roß.
Im Wald bei Invernes wär mir's bald schlecht
Bekommen, daß ich in Gedanken ritt.
Piff! Paff! erweckten mich aus meinen Träumen
Die Kugeln, die mir um die Ohren pfiffen.
Drei Straßenräuber stürzten auf mich ein.
Ein Kampf begann. Es regneten die Hiebe.
Ich wehrte mich der Haut; doch unterliegen
Hätt ich wohl müssen -
O weh! Marie erbleicht,
Und wankt, und sinkt -

Margarete springt hastig auf und hält die in Ohnmacht fallende Maria in ihren Armen.

Margarete:

O weh! mein rotes Püppchen
Ist kreideblaß, und kalt wie Stein. O weh!

Halb singend, halb sprechend und Maria streichelnd.

»Püppchen klein, Püppchen mein,
Schließe auf die Äugelein!

Püppchen fein, du mußt sein
Nicht so kalt wie Marmelstein.

Rosenschein will ich streun
Auf die weißen Wängelein.« -

MacGregor:

Halt ein, verrücktes Weib, mit Wahnsinnsprüchen
Betörst du ihr noch mehr das kranke Haupt -

Margarete mit dem Finger drohend:

Du? du? willst schelten? Wasch dir erst die Hände,
Die roten Hände; du befleckst mit Blut
Klein Püppchens weißes Hochzeitkleid. Geh fort.
Ich rat dir gut.

MacGregor ängstlich:

Die tolle Alte faselt! -

Margarete singend:

»Püppchen klein, Püppchen mein,
Schließe auf die Äugelein!«

Maria Sie erwacht aus ihrer Ohnmacht und lehnt sich an Margarete:

Erzählt nur weiter, wie es ging. Ich höre.

Douglas:

Es tut mir leid - was ich erzählt - doch hört:
Ein andrer Reiter sprengte rasch herbei,
Fiel jenen Räubern plötzlich in den Rücken,
Und hieb drauflos mit Kraft. Ich selbst bekam
Jetzt neuen Mut und freies Spiel. Wir schlugen
Die Hunde in die Flucht. Ich wollte danken
Dem edlen Retter. Aber dieser rief:
»Ich habe keine Zeit«, und jagte weiter.

Maria lächelnd:

Ach, Gott sei Dank! Ihr habt mich sehr geängstigt.
Jetzt bin ich wieder wohl. Margrete, führ mich.
Freundinnen warten meiner in dem Saal.

Margarete ängstlich zu MacGregor:

Du, sei nicht bös. Die arme Margret ist
Nicht immer toll.

MacGregor:

Geht nur, wir folgen gleich.

Maria und Margarete gehen ab.




MacGregor. Douglas


Douglas:

Ich staune, ist Marie so krankhaft reizbar?
Sie ist so ängstlich heute; sie erbleicht
Und zittert bei dem leisesten Geräusche -

MacGregor:

Douglas! ich will und darf's Euch nicht verhehlen,
Was heut so sehr Mariens Seele ängstigt.
Verzeiht, daß ich's Euch früher nicht eröffnet.
Tollkühn ist Euer Mut, und die Gefahr,
Die ich mit Klugheit von Euch abgewendet,
Hättet Ihr selber rastlos aufgesucht;
Fort hätt es Euch getrieben, ihn zu zücht'gen,
Den Frevler, der Mariens Ruhe störte.

Douglas:

Wer darf Mariens Ruh gefährden, sprecht?

MacGregor:

Hört ruhig an die traurige Geschichte.
Sechs Jahre sind es jetzt, da kehrte ein
Bei uns ins Schloß ein fahrender Student
Aus Edinburgh, mit Namen William Ratcliff.
Den Vater hatt ich einst gekannt, recht gut,
Recht gut, recht gut, er hieß Sir Edward Ratcliff.
Gastfreundlich nahm ich also auf den Sohn,
Und gab ihm Speis' und Obdach, vierzehn Tage.
Er sah Marie, und sah ihr in die Augen,
Und sah dort viel zu tief, begann zu seufzen,
Zu schmachten und zu ächzen - bis Maria
Ihm rund erklärte: daß er lästig sei.
Die Liebe packt' er in den Korb und ging. -
Zwei Jahre drauf kam Philipp Macdonald,
Der Earl von Ais, warb um Mariens Hand,
Und warb mit gutem Glück, und nach sechs Monden
Stand am Altare, hochzeitlich geschmückt,
Die holde Braut - der Bräut'gam aber fehlte.
Wir suchten überall, in allen Zimmern,
Im Hof, im Stall, im Garten - Ach! da fand man
Am Schwarzenstein den Leichnam Macdonalds.

Douglas:

Wer war der Mörder?

MacGregor:

Lange war vergeblich
All unser Forschen - da gestand Maria,
Daß sie den Mörder kenne, und erzählte:
In jener Nacht, die auf den Mordtag folgte,
Sei William Ratcliff in ihr Schlafgemach
Plötzlich getreten, habe lachend ihr
Die Hand gezeigt, noch rot vom Blut des Bräut'gams,
Und habe Macdonalds Verlobungsring
Ihr dargereicht mit zierlicher Verbeugung.

Douglas:

Verruchtheit! Welcher Hohn! Was tatet Ihr?

MacGregor:

Ich ließ den Leichnam Macdonalds beisetzen
In seines eignen Schlosses Ahnengruft,
Und an der Stätte, wo der Mord geschah,
Pflanzt ich ein Kreuz, zum ewigen Gedächtnis.
Den Mörder Ratcliff suchte ich vergebens.
Man hatte ihn zuletzt gesehn in London,
Wo er, nach seiner Mutter Tod, sein Erbteil
In Saus und Braus verpraßte, und nachher
Von Spiel und Borg, und gar, wie ein'ge sagen,
Vom ritterlichen Straßenraube lebte.
Verstrichen waren seit der Zeit zwei Jahre,
Und Mord und Mörder waren fast vergessen,
Da kam hierher in unser Schloß Lord Duncan,
Hielt bei mir an um meiner Tochter Hand.
Ich will'gte ein, und mir gelang es auch,
Marias Jawort einem Mann zu schaffen,
Der aus dem Stamm der Schottenkön'ge sproßt.
Doch wehe uns! Bald stand am Hochaltar,
Festlich geschmückt, die heimlich bange Braut -
Und Duncan lag am Schwarzenstein erschlagen!

Douglas:

Entsetzlich!

MacGregor:

»Auf! Steigt auf zu Roß!« rief ich
Den Knechten, und wir jagten und wir suchten,
In Busch und Feld, in Wäldern und in Klüften,
Drei Tage lang, jedoch umsonst, wir fanden
Die Spur des Mörders nirgends.
Ach! und dennoch,
Dieselbe Nacht von jenem Schreckenstag
Schlich William Ratcliff in Mariens Kammer,
Verhöhnte sie, und gab ihr zierlich grüßend
Des Bräutigams Verlobungsring zurück.

Douglas:

Bei Gott! der Mensch ist kühn! den möcht ich treffen.

MacGregor:

Er war's gewiß, den Ihr schon habt getroffen
Im Wald bei Invernes. Nur wundr' ich mich,
Daß keiner meiner Späher ihn gesehn; -
Denn, Graf, ich hab dafür gesorgt, daß ich
Nicht Euren Namen auch zu setzen brauche -
Auf das Gedächtniskreuz am Schwarzenstein.

Er geht ab.

Douglas allein:

Aus Klugheit hat's MacGregor mir verschwiegen
Bis nach der Trauung. Oh, das ist ein Fuchs!
Doch messen möcht ich mich mit jenem Trotzkopf,
Der finster grollend stets Marien ängstigt.
Mir soll er nicht den Ring vom Finger ziehen,
Denn wo mein Finger ist, ist auch die Hand.
Ich liebe nicht Marien, und ich bin
Auch nicht geliebt von ihr. Die Konvenienz
Hat unsern heut'gen Ehebund geschlossen.
Doch herzlich gut bin ich dem sanften Mädchen.
Ich möcht von Dornen ihre Pfade säubern -




Lesley, im Mantel gehüllt und sich vorsichtig umsehend, tritt herein.

Douglas. Lesley.


Lesley:

Seid Ihr Graf Douglas?

Douglas:

Ja, ich bin's, was wollt Ihr?

Lesley Er gibt ihm einen Brief:

So ist an Euch dies niedliche Billett.

Douglas Er hat den Brief gelesen:

Ja, ja! Sagt ihm, ich komm. Am Schwarzenstein!

Beide gehn ab.




Diebesherberge. Im Hintergrunde liegen schlafende Menschen. Ein Heiligenbild hängt an der Wand. Die Wanduhr pickt. Abenddämmerung.



William Ratcliff sitzt brütend in einer Ecke des Zimmers. In der andern Ecke sitzt Tom, der Wirt, und hält sein Söhnchen Willie zwischen den Knien.


Tom leise:

Willie, kannst du das Vaterunser sagen?

Willie lachend und laut:

Wie 'n Donnerwetter.

Tom:

Sprich nur nicht so laut,
Du weckst mir ja die müden Leute auf.

Willie:

Nun, soll's jetzt losgehn?

Tom:

Ja, doch nicht zu rasch.

Willie schnell:

»Vater unser im Himmel, dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel. Gib uns unser täglich Brot immerdar. Und vergib uns unsre Sünden; denn auch wir vergeben allen, die uns schuldig sind. Und führe uns nicht - Stottert. - führe uns nicht - führe uns nicht -«

Tom:

Siehst du? du stotterst. »Führe uns nicht in Versuchung«;
Fang wieder an von vorn.

Willie sieht immer nach William Ratcliff und spricht ängstlich und unsicher:

»Vater unser im Himmel, dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel. Gib uns unser täglich Brot immerdar. Und vergib uns unsre Sünden; denn auch wir vergeben allen, die uns schuldig sind. Und führe uns nicht - Stottert. - führe uns nicht - führe uns nicht -«

Tom ärgerlich:

»In Versuchung!«

Willie weinend:

Lieber Vater, sonst ging mir's
Vom Maul wie Wasser. Aber der dort sitzt -

Er zeigt auf William Ratcliff.

Der sieht mich immer an mit schlimmen Augen.

Tom:

Heut abend, Willie, kriegst du keine Fische, Drohend.
Und stiehlst du sie mir wieder aus dem Kasten -

Willie weinend und im Vaterunsertone:

»Führe uns nicht in Versuchung!«

Ratcliff:

Laßt nur den Buben gehn. Auch ich hab nie
Im Kopf behalten können diese Stelle. Schmerzlich.
»Führe uns nicht in Versuchung!«

Tom:

Auch tät mir's leid, wenn einst der Bube würde
Wie Ihr und diese dort. Zeigt nach den Schlafenden.
Jetzt geh nur, Willie.

Willie abgehend und weinerlich vor sich hinmurmelnd:

»Führe uns nicht in Versuchung!«



Die Vorigen ohne Willie.


Ratcliff lächelnd:

Wie meint Ihr das?

Tom:

Fromm, christlich soll er werden;
Kein solcher Galgenstrick wie ich, sein Vater.

Ratcliff spöttisch:

Ihr seid so schlimm noch nicht.

Tom:

Jetzt freilich bin ich
Ein zahmes Tier, und zapfe Bier, ein Wirt.
Und weil mein Häuschen hübsch versteckt im Wald liegt,
Beherberg ich nur große Herrn wie Ihr,
Die gerne das Inkognito behaupten,
Am Tage schlafen und des Abends ausgehn.
Ich gebe Tagsquartier statt Nachtquartier.
Ja, einst mondsüchtelte ich auch und schwärmte

Macht eine Fingerbewegung.

In fremde Häuser und in fremde Taschen.
Doch nie hab ich's so toll gemacht wie diese.

Er zeigt nach den Schlafenden.

Seht diesen Fuchskopf. Das ist ein Genie!
Der hat ein angeborenes Gelüste
Nach fremden Taschentüchern. Stiehlt wie 'n Rabe.
Ei, seht, wie er im Schlafe hastig fingert!
Er stiehlt sogar im Traum. Seht nur, er schmunzelt.
Der Lange dort, mit magern Heuschreckbeinen,
War einst ein Schneider; mauste anfangs Läppchen,
Bald aber Lappen, endlich Stücke Tuch.
Mit Not ist er dem Hängen einst entronnen;
Seitdem hat er das Zucken in den Beinen.
Seht, wie er zappelt! Oh, ich wett, er träumt
Von einer Leiter, wie der Vater Jakob.
Doch seht mal dort den alten, Dicken Robin Wie er so ruhig liegt und schnarcht, und ach!
Der hat schon zehn Mordtaten auf der Seele.
Ja, wenn er noch katholisch wär, wie wir,
Und absolvieren könnt! Er ist ein Ketzer,
Und nach dem Hängen muß er dort noch brennen.

Ratcliff Er ist immer unruhig im Zimmer auf und ab gegangen und sieht beständig nach der Uhr:

Glaubt's nicht, der alte Robin wird nicht brennen.
Dort oben gibt es eine andre Jury
Als hier in Großbritannien. Robin ist
Ein Mann; und einen Mann ergreift der Zorn,
Wenn er betrachtet, wie die Pfennigseelen,
Die Buben, oft im Überflusse schwelgen,
In Samt und Seide schimmern, Austern schlürfen,
Sich in Champagner baden, in dem Bette
Des Doktor Graham ihre Kurzweil treiben,
In goldnen Wagen durch die Straßen rasseln,
Und stolz herabsehn auf den Hungerleider,
Der, mit dem letzten Hemde unterm Arm,
Langsam und seufzend nach dem Leihhaus wandert.

Bitter lachend.

O seht mir doch die klugen, satten Leute,
Wie sie mit einem Walle von Gesetzen
Sich wohlverwahret gegen allen Andrang
Der schreiend überläst'gen Hungerleider!
Weh dem, der diesen Wall durchbricht!
Bereit sind Richter, Henker, Stricke, Galgen -
Je nun! manchmal gibt's Leut', die das nicht scheun.

Tom:

So dacht ich auch, und teilte ein die Menschen
In zwei Nationen, die sich wild bekriegen;
Nämlich in Satte und in Hungerleider.
Weil ich zu letzterer Partei gehörte,
So mußt ich mit den Satten oft mich balgen.
Doch hab ich eingesehn, der Kampf ist ungleich,
Und zieh allmählich mich zurück vom Handwerk.
Ich bin es müd': unstet herumzustreichen,
Niemand ins Aug' zu schaun, das Licht zu fliehn,
An jedem Galgen, im Vorbeigehn, ängstlich
Hinaufzuschaun, ob ich nicht selbst dran hänge,
Und nur zu träumen von Botany-Bay,
Vom Zuchthaus und vom ew'gen Wollespinnen.

Wahrhaftig, das ist nur ein Hundeleben!
Man wird durch Busch und Feld gehetzt wie 'n Wild,
In jedem Baume sieht man einen Häscher,
Und sitzt man auch in still verborgner Kammer,
Erschrickt man, wenn die Tür sich öffnet -


Lesley tritt hastig ein. Ratcliff stürzt ihm entgegen. Tom fährt erschrocken zurück mit dem Ausruf »Jesus«


Lesley:

Er kömmt! Er kömmt!

Ratcliff:

Er kömmt? Wohlan, so gilt's.

Tom ängstlich:

Wer kömmt? Seit ein'ger Zeit bin ich so schreckhaft -

Lesley zu Tom:

Beruh'ge dich, und laß uns jetzt allein.

Tom mit pfiffiger Miene:

Ha! ich versteh. Ihr habt jetzt was zu teilen.

Er geht ab.



Die Vorigen ohne Tom.


Ratcliff:

Er kömmt? So will ich gehn.

Er greift nach Hut und Degen.

Lesley hält ihn zurück:

Ho! ho! so geht's nicht.
Erst muß es dunkler sein. Man paßt dir auf.
MacGregors Knechte lauern. Wie du aussiehst,
Weiß jedes Kind; man hat dich gut beschrieben.
Wahrhaftig, sag mir mal, was soll der Spaß?
Du suchst Gefahr, Gefahr, die dir nicht nützt.
Geh mit zurück nach London; bist dort sicher.
Du solltest meiden diese schlimme Gegend.
Man weiß es, daß du Macdonald und Duncan
So abgemurkst.

Ratcliff mit trotziger Würde:

Nicht abgemurkst. Im Zweikampf
Fiel Macdonald und Duncan. Ehrlich focht ich;
Und auch mit Douglas will ich ehrlich fechten.

Lesley:

Erleichtre dir's. Verstehst ja Italienisch.

Macht eine Banditenbewegung.

Doch sprich, wo trat dir Douglas in den Weg?
Was tat er dir? Woher dein Groll, dein Haß?

Ratcliff:

Ich sah ihn nie; ich sprach ihn nie; er tat
Mir niemals was zuleid'; ich haß ihn nicht.

Lesley:

Und doch willst du sein Lebenslicht auslöschen?
Bist du verrückt? Bin ich verrückt? daß ich
Behilflich bin zu solchem Tollhausstreich!

Ratcliff:

Weh dir, wenn du begriffest solche Dinge!
Weh deinem Hirnfuttral, es müßte bersten,
Und Wahnsinn würde gucken aus den Ritzen!
Wie eine Eierschale würde bersten
Dein armer Kopf, und war er so geräumig
Als wie die Kuppel der Sankt-Paulus-Kirche.

Lesley fühlt sich ironisch ängstlich den Kopf:

Du machst mich bang; o schweige lieber still!

Ratcliff:

Glaub nicht, ich sei ein weicher Mondscheinheld,
Ein Bilderjäger, der vom eignen Windhund,
Von Phantasie durch Nacht und Höll' gehetzt wird,
Ein magenkrank schwindsüchtelnder Poet,
Der mit den Sternen Unzucht treibt, der Leibschmerz
Vor Rührung kriegt, wenn Nachtigallen trillern,
Der sich aus Seufzern eine Leiter baut,
Und endlich mit dem Strick verschlungner Reime
Sich aufhängt an der Säule seines Ruhms.

Lesley:

Das könnt ich selbst im Notfall wohl beschwören.

Ratcliff:

Und doch gesteh ich - spaßhaft mag's dir klingen -,
Es gibt entsetzlich seltsame Gewalten,
Die mich beherrschen; dunkle Mächte gibt's,
Die meinen Willen lenken, die mich treiben
Zu jeder Tat, die meinen Arm regieren,
Und die schon in der Kindheit mich umschauert.

   Als Knabe schon, wenn ich alleine spielte,
Gewahrt ich oft zwei neblichte Gestalten,
Die weit ausstreckten ihre Nebelarme,
Sehnsüchtig sich in Lieb' umfangen wollten,
Und doch nicht konnten, und sich schmerzlich ansahn!
Wie luftig und verschwimmend sie auch schienen,
Bemerkt ich dennoch auf dem einen Antlitz
Die stolzverzerrten Züge eines Mannes,
Und auf dem andern milde Frauenschönheit.
Oft sah ich auch im Traum die beiden Bilder,
Und schaute dann noch deutlicher die Züge:
Mit Wehmut sah mich an der Nebelmann,
Mit Liebe sah mich an das Nebelweib. -
Doch als ich auf die hohe Schule kam,
Zu Edinburgh, sah ich die Bilder seltner,
Und in dem Strudel des Studentenlebens
Verschwammen meine bleichen Traumgesichte.
Da brachte mich auf einer Ferienreise
Zufall hierher und nach MacGregors Schloß.

   Maria sah ich dort! Mein Herz durchzuckte
Ein rascher Blitz bei ihrem ersten Anblick.
Es waren ja des Nebelweibes Züge,
Die schönen, stillen, liebefrommen Züge,
Die mich so oft im Traume angelächelt!
Nur war Mariens Wange nicht so bleich,
Nur war Mariens Auge nicht so starr.
Die Wange blühte und das Auge blitzte;
Der Himmel hatte allen Liebeszauber
Auf dieses holde Bild herabgegossen;
Die Hochgebenedeite selber war
Gewiß nicht schöner als die Namensschwester;
Und von der Liebe Sehnsuchtweh ergriffen,
Streckt ich die Arme aus, sie zu umfangen -

Pause.

Ich weiß nicht, wie es kam: im nahen Spiegel
Sah ich mich selbst - Ich war der Nebelmann,
Der nach dem Nebelweib die Arme ausgestreckt!

   War's eitel Traum? War's Phantasientrug?
Maria sah mich an so mild, so freundlich,
So liebend, so verheißend! Aug' in Auge
Und Seel' in Seele tauchten wir. O Gott!

   Das dunkle Urgeheimnis meines Lebens
War plötzlich mir erschlossen, und verständlich
War mir der Sang der Vögel, und die Sprache
Der Blumen, und der Liebesgruß der Sterne,
Der Hauch des Zephirs und des Baches Murmeln,
Und meiner eignen Brust geheimes Seufzen!
Wie Kinder jauchzten wir, und spielten wir.
Wir suchten uns, und fanden uns im Garten.
Sie gab mir Blumen, Myrten, Locken, Küsse;
Die Küsse gab ich doppelt ihr zurück.
Und endlich sank ich hin vor ihr aufs Knie,
Und bat: »O sprich, Maria, liebst du mich?«

Versinkt in Träumerei.

Lesley:

Da hätt ich dich doch sehen mögen, Ratcliff,
Die starken Fäuste bittend fromm gefaltet,
Das funkelnd wilde Aug' sehnsüchtig schmachtend,
Und zärtlich sanft die Stimm', die auf der Landstraß'
Dem reichen Lord so schrecklich ins Gehör schallt.

Ratcliff wild ausbrechend:

Verfluchte Schlang'! Mit seltsam scheuen Blicken
Und Widerwillen fast sah sie mich an,
Und höhnisch knicksend sprach sie frostig: »Nein!«
Noch hör ich's lachen unter mir: Nein! nein!
Noch hör ich's seufzen über mir: Nein! nein!
Und klirrend schlagen zu des Himmels Pforte!

Lesley:

Das war ja ganz infam und niederträchtig.

Ratcliff:

MacGregors Schloß verließ ich, und ich reiste
Von dort nach London; im Gewühl der Hauptstadt
Dacht ich des Herzens Qual zu übertäuben.
Ich war mein eigner Herr, denn meine Eltern
Verlor ich früh, noch eh' ich sie gekannt hab.
Schlecht, schlecht gelang mir der Betäubungsplan.
Portwein, Champagner, alles wollt nicht fruchten;
Nach jedem Glase ward mein Herz betrübter.
Blondinen und Brünetten, keine konnt
Forttändeln und fortlächeln meinen Schmerz.
Sogar beim Pharo fand ich keine Ruh'.
Marias Aug' schwamm auf dem grünen Tische;
Marias Hand bog mir die Parolis;
Und in dem Bild der eckigen Coeur-Dame
Sah ich Marias himmelschöne Züge!
Maria war's, kein dünnes Kartenblatt;
Maria war's, ich fühlte ihren Atem;
Sie winkte: ja! sie nickte: ja! - va banque! -
Zum Teufel war mein Geld, die Liebe blieb.

Lesley lacht:

Ha! ha! da zogst du aus dem Stall dein Rößlein,
Schwangst dich hinauf, wie's Schottlands Rittern ziemt,
Und wie die Ahnen lebtest du vom Stegreif.
Die Liebe ist dir jetzt gewiß vergangen;
Man wird schon nüchtern, wenn man oft des Nachts
Durch Wind und Wetter reitet, und beim Galgen
Vorbeikömmt, und dort gute Freunde sieht,
Die pendulartig mit den Beinen grüßen.

Ratcliff:

Öl kam ins Feuer. Wilder nur entbrannte
In mir die wilde Sehnsucht nach Marien.
In England ward's mir oft zu eng; nach Schottland
Zog's mich mit unsichtbaren Eisenarmen.
Nur in Mariens Nähe schlaf ich ruhig,
Und atm' ich frei, und ist mir nicht so ängstlich,
Und ist mir wohl - denn höre mein Geheimnis:

   Geschworen hab ich bei dem Wort des Herrn,
Und bei der Macht des Himmels und der Hölle,
Und hab mit grausem Fluch den Schwur besiegelt -
»Von dieser Hand soll fallen der Vermeßne,
Der's wagt, Marien bräutlich zu umfangen.«
Die Stimm' in meiner Brust sprach diesen Schwur,
Und blindlings dien ich jener dunklen Macht,
Die mit mir kämpft, wenn ich Mariens Freiern
Am Schwarzenstein ein Rosenbett bereite.

Lesley:

Jetzt erst versteh ich dich; doch Bill'g ich nichts.

Ratcliff:

Bill'g ich's denn selbst? Nur jene Stimme hier,
Die fremde Stimm', die sich hier eingenistet,
Sagt: ja; nur jene Bilder nicken Beifall,
Die ich im Traume seh - Aufschreiend.
Jesus Maria!
Dort! dort! siehst du? dort, dort! Die Nebelmenschen!

Es ist dunkel geworden. Man sieht zwei neblichte Gestalten über die Bühne schwanken und verschwinden. - Die im Hintergrunde liegenden Räuber und Gauner, durch Ratcliffs Schrei aus dem Schlafe geweckt, springen auf mit dem Ausrufe:

Was gibt's? Was gibt's?

Lesley:

Bist du des Teufels, Ratcliff?
Ich sehe nichts.

Mehrere:

Was sieht er? Sieht er Häscher?

Lesley:

Nein! just das Gegenteil, denn Geister sieht er.

Alle lachen.

Robin verdrießlich:

God damn! Man hat auch keine Ruh' am Tag.

Ratcliff:

Es dunkelt; ich will gehn.

Lesley:

Ich gehe mit.

Ratcliff:

Das leid ich nicht.

Lesley:

Nur bis zum Schwarzenstein;
Vielleicht stehn Wachen dort.

Ratcliff:

Die Angst treibt sie
Schon weg; dort ist es nicht geheu'r des Nachts.

Lesley:

Lebt wohl, ihr Herrn!

Ratcliff:

Lebt wohl!

Alle:

Gott segne euch!

Ratcliff und Lesley gehn ab.



Die Vorigen ohne Ratcliff und Lesley.


Robin:

God damn! der ist besoffen oder toll.

Dick:

So war er immer, denn ich kenn ihn noch
Von London her. In Rascal-Tavern hab ich
Ihn oft gesehn. Er pflegte stundenlang
Mit krauser Stirn zu sitzen in der Ecke
Und immer still und stumm ins Licht zu starr'n.
Oft saß er zwischen uns vergnügt und lachend -
Nur lacht' er gar zu hell - erzählte Späße -
Nur gar zu wilde Späße - und er war
Vergnügt und lachte - Oh, da zuckte plötzlich
Und gräßlich spöttisch seine Oberlippe,
Ein Ton des Schmerzes pfiff aus seiner Brust,
Und wütend sprang er auf: »Johann, mein Pferd!« -
Und ritt zum Teufel, und er kam nach ein'gen
Monaten erst zurück. Nach Schottland, sagt man,
Pflegt er alsdann zu reiten, Tag und Nacht.

Robin:

Oh, der ist krank.

Dick:

Was kümmert's mich? Lebt wohl.

Geht ab.

Bill:

Es ist schon Zeit, daß man zur Arbeit geht.

Betend vor dem Heiligenbilde:

Beschütz mich in Gefahr und gib mir Segen!

Er und mehrere gehn ab.

Robin hält sich seine Faust vorm Gesicht:

Mein Schutzpatron, beschütz mich in Gefahr. Geht ab.



Zwei Gauner bleiben schlafend liegen. Tom, der Wirt, schleicht herein und stiehlt ihnen das Geld aus der Tasche.


Tom mit schlauer Miene:

Sie dürfen mich nicht vor Gericht verklagen. Er geht ab.

John und Taddie wachen auf.

John gähnend:

Der Schlaf ist doch die köstlichste Erfindung!

Taddie gähnend:

Komm, John, zum Frühstück.

John:

Frühstück! Was gibt's Neues?

Taddie:

Gewiß hat man Freund Riffel heut gehängt.

John:

Das Hängen ist die schlechteste Erfindung.

Trollen beide fort.




Fortsetzung

© Wolfgang Fricke