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Heinrich Heine: Französische Maler
Lessore





[. . .] wende ich mich rasch zu einem Gemälde, worauf der Name

Lessore


zu lesen war und das durch seine wunderbare Wahrheit und durch einen Luxus von Bescheidenheit und Einfachheit jeden anzog. Man stutzte, wenn man vorbeiging. „Der kranke Bruder“ ist es im Katalog verzeichnet. In einer ärmlichen Dachstube, auf einem ärmlichen Bette, liegt ein siecher Knabe und schaut mit flehenden Augen nach einem rohhölzernen Kruzifixe, das an der kahlen Wand befestigt ist. Zu seinen Füßen sitzt ein anderer Knabe, niedergeschlagenen Blicks, bekümmert und traurig. Sein kurzes Jäckchen und seine Höschen sind zwar reinlich, aber vielfältig geflickt und von ganz grobem Tuche. Die gelbe wollene Decke auf dem Bette und weniger die Möbel als vielmehr der Mangel derselben zeugen von banger Dürftigkeit. Dem Stoffe ganz anpassend ist die Behandlung. Diese er innert zumeist an die Bettlerbilder des Murillo. Scharfgeschnittene Schatten, gewaltige, feste, ernste Striche, die Farben nicht geschwinde hingefegt, sondern ruhigkühn aufgelegt, sonderbar gedämpft und dennoch nicht trübe; den Charakter der ganzen Behandlung bezeichnet Shakespeare mit den Worten: the modesty of nature. Umgeben von brillanten Gemälden mit glänzenden Prachtrahmen, mußte dieses Stück um so mehr auffallen, da der Rahmen alt und von angeschwärztem Golde war, ganz übereinstimmend mit Stoff und Behandlung des Bildes. Solchermaßen konsequent in seiner ganzen Erscheinung und kontrastierend mit seiner ganzen Umgebung, machte dieses Gemälde einen tiefen melancholischen Eindruck auf jeden Beschauer und erfüllte die Seele mit jenem unnennbaren Mitleid, das uns zuweilen ergreift, wenn wir aus dem erleuchteten Saal einer heitern Gesellschaft plötzlich hinaustreten auf die dunkle Straße und von einem zerlumpten Mitgeschöpfe angeredet werden, das über Hunger und Kälte klagt. Dieses Bild sagt viel mit wenigen Strichen, und noch viel mehr erregt es in unserer Seele.


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© Wolfgang Fricke