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Heinrich Heine: Über die Französische Bühne

In Salon Band IV (1840). In der Allgemeinen Theaterrevue 1837 zuerst veröffentlicht.

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Über die Französische Bühne
Vertraute Briefe an August Lewald

Geschrieben im Mai 1837, auf einem Dorfe bei Paris


Erster Brief

Endlich, endlich erlaubte es die Witterung, Paris und den warmen Kamin zu verlassen, und die ersten Stunden, die ich auf dem Lande zubringe, sollen wieder dem geliebten Freunde gewidmet sein. Wie hübsch scheint mir die Sonne aufs Papier und vergoldet die Buchstaben, die Ihnen meine heitersten Grüße überbringen! Ja, der Winter flüchtet sich über die Berge, und hinter ihm drein flattern die neckischen Frühlingslüfte, gleich einer Schar leichtfertiger Grisetten, die einen verliebten Greis mit Spottgelächter, oder wohl gar mit Birkenreisern, verfolgen. Wie er keucht und ächzt, der weißhaarige Geck! Wie ihn die jungen Mädchen unerbittlich vor sich hintreiben! Wie die bunten Busenbänder knistern und glänzen! Hie und da fällt eine Schleife ins Gras! Die Veilchen schauen neugierig hervor, und mit ängstlicher Wonne betrachten sie die heitere Hetzjagd. Der Alte ist endlich ganz in die Flucht geschlagen, und die Nachtigallen singen ein Triumphlied. Sie singen so schön und so frisch! Endlich können wir die Große Oper mitsamt Meyerbeer und Duprez entbehren. Nourrit entbehren wir schon längst. Jeder in dieser Welt ist am Ende entbehrlich, ausgenommen etwa die Sonne und ich. Denn ohne diese beiden kann ich mir keinen Frühling denken und auch keine Frühlingslüfte und keine Grisetten und keine deutsche Literatur! ... Die ganze Welt wäre ein gähnendes Nichts, der Schatten einer Null, der Traum eines Flohs, ein Gedicht von Karl Streckfuß!

Ja, es ist Frühling, und ich kann endlich die Unterjacke ausziehn. Die kleinen Jungen haben sogar ihre Röckchen ausgezogen und springen in Hemdeärmeln um den großen Baum, der neben der kleinen Dorfkirche steht und als Glockenturm dient. Jetzt ist der Baum ganz mit Blüten bedeckt und sieht aus wie ein alter gepuderter Großvater, der, ruhig und lächelnd, in der Mitte der blonden Enkel steht, die lustig um ihn herumtanzen. Manchmal überschüttet er sie neckend mit seinen weißen Flocken. Aber dann jauchzen die Knaben um so brausender. Streng ist es untersagt, bei Prügelstrafe untersagt, an dem Glockenstrang zu ziehen. Doch der große Junge, der den übrigen ein gutes Beispiel geben sollte, kann dem Gelüste nicht widerstehen, er zieht heimlich an dem verbotenen Strang, und dann ertönt die Glocke wie großväterliches Mahnen.

Späterhin, im Sommer, wenn der Baum in ganzer Grüne prangt und das Laubwerk die Glocke dicht umhüllt, hat ihr Ton etwas Geheimnisvolles, es sind wunderbar gedämpfte Laute, und sobald sie erklingen, verstummen plötzlich die geschwätzigen Vögel, die sich auf den Zweigen wiegten, und fliegen erschrecken davon.

Im Herbste ist der Ton der Glocke noch viel ernster, noch viel schauerlicher, und man glaubt eine Geisterstimme zu vernehmen. Besonders wenn jemand begraben wird, hat das Glockengeläute einen unaussprechlich wehmütigen Nachhall; bei jedem Glockenschlag fallen dann einige gelbe kranke Blätter vom Baume herab, und dieser tönende Blätterfall, dieses klingende Sinnbild des Sterbens, erfüllte mich einst mit so übermächtiger Trauer, daß ich wie ein Kind weinte. Das geschah vorig Jahr, als die Margot ihren Mann begrub ...

Aber jetzt ist ein schönes Frühlingswetter, die Sonne lacht, die Kinder jauchzen, sogar lauter, als eben nötig wäre, und hier, in dem kleinen Dorfhäuschen, wo ich schon vorig Jahr die schönsten Monate zubrachte, will ich Ihnen über das französische Theater eine Reihe Briefe schreiben und dabei. Ihrem Wunsche gemäß, auch die Bezüge auf die heimische Bühne nicht außer Augen lassen. Letzteres hat seine Schwierigkeit, da die Erinnerungen der deutschen Bretterwelt täglich mehr und mehr in meinem Gedächtnisse erbleichen. Von Theaterstücken, die in der letzten Zeit geschrieben worden, ist mir nichts zu Gesicht gekommen als zwei Tragödien von Immermann, „Merlin“ und „Peter der Große“, welche gewiß beide, der „Merlin“ wegen der Poesie, der „Peter“ wegen der Politik, nicht aufgeführt werden konnten ... Und denken Sie sich meine Miene: in dem Pakete, welches diese Schöpfungen eines lieben großen Dichters enthielt, fand ich einige Bände beigepackt, welche „Dramatische Werke von Ernst Raupach“ betitelt waren!

Von Angesicht kannte ich ihn zwar, aber gelesen hatte ich noch nie etwas von diesem Schoßkinde der deutschen Theaterdirektionen. Einige seiner Stücke hatte ich nur durch die Bühne kennengelernt, und da weiß man nicht genau, ob der Autor von dem Schauspieler oder dieser von jenem hingerichtet wird. Die Gunst des Schicksals wollte es nun, daß ich in fremdem Lande einige Lustspiele des Doktors Ernst Raupach mit Muße lesen konnte. Nicht ohne Anstrengung konnte ich mich bis zu den letzten Akten durcharbeiten. Die schlechten Witze möchte ich ihm alle hingehen lassen, und am Ende will er damit nur dem Publikum schmeicheln; denn der arme Hecht im Parterre wird zu sich selber sagen: 'Solche Witze kann ich auch machen!', und für dieses befriedigte Selbstgefühl wird er dem Autor Dank wissen. Unerträglich war mir aber der Stil. Ich bin so sehr verwohnt, der gute Ton der Unterhaltung, die wahre, leichte Gesellschaftssprache ist mir durch meinen langen Aufenthalt in Frankreich so sehr zum Bedürfnis geworden, daß ich bei der Lektüre der Raupachschen Lustspiele ein sonderbares Übelbefinden verspürte. Dieser Stil hat auch so etwas Einsames, Abgesondertes, Ungeselliges, das die Brust beklemmt. Die Konversation in diesen Lustspielen ist erlogen, sie ist immer nur bauchrednerisch vielstimmiger Monolog, ein ödes Ablagern von lauter hagestolzen Gedanken, Gedanken, die allein schlafen, sich selbst des Morgens ihren Kaffee kochen, sich selbst rasieren, allein spazierengehn vors Brandenburger Tor und für sich selbst Blumen pflücken. Wo er Frauenzimmer sprechen läßt, tragen die Redensarten unter der weißen Musselinrobe eine schmierige Hose von Gesundheitsflanell und riechen nach Tabak und Juchten.

Aber unter den Blinden ist der Einäugige König, und unter unseren schlechten Lustspieldichtern ist Raupach der beste. Wenn ich schlechte Lustspieldichter sage, so will ich nur von jenen armen Teufeln reden, die ihre Machwerke unter dem Titel Lustspiele aufführen lassen oder, da sie meistens Komödianten sind, selber aufführen. Aber diese sogenannten Lustspiele sind eigentlich nur prosaische Pantomimen mit traditionellen Masken: Väter, Bösewichter, Hofräte, Chevaliers, der Liebhaber, die Liebende, die Soubrette, Mütter, oder wie sie sonst benannt werden in den Kontrakten unserer Schauspieler, die nur zu dergleichen feststehenden Rollen, nach herkömmlichen Typen, abgerichtet sind. Gleich der italienischen Maskenkomödie ist unser deutsches Lustspiel eigentlich nur ein einziges, aber unendlich variiertes Stück. Die Charaktere und Verhältnisse sind gegeben, und wer ein Talent zu Kombinationsspielen besitzt, unternimmt die Zusammensetzung dieser gegebenen Charaktere und Verhältnisse und bildet daraus ein scheinbar neues Stück, ungefähr nach demselben Verfahren, wie man im chinesischen Puzzlespiel mit einer bestimmten Anzahl verschiedenartig ausgeschnittener Holzblättchen allerlei Figuren kombiniert. Mit diesem Talente sind oft die unbedeutendsten Menschen begabt, und vergebens strebt danach der wahre Dichter, der seinen Genius nur frei zu bewegen und nur lebende Gestalten, keine konstruierten Holzfiguren, zu schaffen weiß. Einige wahre Dichter, welche sich die undankbare Mühe gaben, deutsche Lustspiele zu schreiben, schufen einige neue komische Masken; aber da gerieten sie in Kollision mit den Schauspielern, welche, nur zu den schon vorhandenen Masken dressiert, um ihre Ungelehrigkeit oder Lernfaulheit zu beschönigen, gegen die neuen Stücke so wirksam kabalierten, daß sie nicht aufgeführt werden konnten.

Vielleicht liegt dem Urteil, das mir eben über die Werke des Dr. Raupach entfallen ist, ein geheimer Unmut gegen die Person des Verfassers zum Grunde. Der Anblick dieses Mannes hat mich einst zittern gemacht, und, wie Sie wissen, das verzeiht kein Fürst, Sie sehen mich mit Befremden an, Sie finden den Dr. Raupach gar nicht so furchtbar und sind auch nicht gewohnt mich vor einem lebenden Menschen zittern zu sehen? Aber es ist dennoch der Fall, ich habe vor dem Dr. Raupach einst eine solche Angst empfunden, daß meine Knie zu schlottern und meine Zähne zu klappern begonnen. Ich kann, neben dem Titelblatt der dramatischen Werke von Ernst Raupach, das gestochene Gesicht des Verfassers nicht betrachten, ohne daß mir noch jetzt das Herz in der Brust bebt ... Sie sehen mich mit großem Erstaunen an, teurer Freund, und ich höre auch neben Ihnen eine weibliche Stimme, welche neugierig fleht: „Ich bitte, erzählen Sie ...“

Doch das ist eine lange Geschichte, und dergleichen heute zu erzählen, dazu fehlt mir die Zeit. Auch werde ich an zu viele Dinge, die ich gerne vergäße, bei dieser Gelegenheit erinnert, z.B. an die trüben Tage, die ich in Potsdam zubrachte, und an den großen Schmerz, der mich damals in die Einsamkeit bannte. Ich spazierte dort mutterseelallein, in dem verschollenen Sanssouci, unter den Orangenbäumen der großen Rampe ... Mein Gott, wie unerquicklich, poesielos sind diese Orangenbäume! Sie sehen aus wie verkleidete Eichbüsche, und dabei hat jeder Baum seine Nummer, wie ein Mitarbeiter am Brockhausischen „Konversationsblatte“, und diese numerierte Natur hat etwas so pfiffig Langweiliges, so korporalstöckig Gezwungenes! Es wollte mich immer bedünken, als schnupften sie Tabak, diese Orangenbäume, wie ihr seliger Herr, der Alte Fritz, welcher, wie Sie wissen, ein großer Heros gewesen, zur Zeit, als Ramler ein großer Dichter war. Glauben Sie beileibe nicht, daß ich den Ruhm Friedrichs des Großen zu schmälern suche! Ich erkenne sogar seine Verdienste um die deutsche Poesie. Hat er nicht dem Geliert einen Schimmel und der Madame Karschin fünf Taler geschenkt? Hat er nicht, um die deutsche Literatur zu fördern, seine eignen schlechten Gedichte in französischer Sprache geschrieben? Hätte er sie in deutscher Sprache herausgegeben, so konnte sein hohes Beispiel einen unberechenbaren Schaden stiften! Die deutsche Muse wird ihm diesen Dienst nie vergessen.

Ich befand mich, wie gesagt, zu Potsdam nicht sonderlich heiter gestimmt, und dazu kam noch, daß der Leib mit der Seele eine Wette einging, wer von beiden mich am meisten quälen könne. Ach! der psychische Schmerz ist leichter zu ertragen als der physische, und gewährt man mir z.B. die Wahl zwischen einem bösen Gewissen und einem bösen Zahn, so wähle ich ersteres. Ach, es ist nichts Gräßlicheres als Zahnschmerz! Das fühlte ich in Potsdam, ich vergaß alle meine Seelenleiden und beschloß, nach Berlin zu reisen, um mir dort den kranken Zahn ausziehen zu lassen. Welche schauerliche, grauenhafte Operation! Sie hat so etwas vom Geköpftwerden. Man muß sich auch dabei auf einen Stuhl setzen und ganz stillhalten und ruhig den schrecklichen Ruck erwarten! Mein Haar sträubt sich, wenn ich nur daran denke. Aber die Vorsehung, in ihrer Weisheit, hat alles zu unserem Besten eingerichtet, und sogar die Schmerzen des Menschen dienen am Ende nur zu seinem Heile. Freilich, Zahnschmerzen sind fürchterlich, unerträglich; doch die wohltätig berechnende Vorsehung hat unseren Zahnschmerzen eben diesen fürchterlich unerträglichen Charakter verliehen, damit wir aus Verzweiflung endlich zum Zahnarzt laufen und uns den Zahn ausreißen lassen. Wahrlich, niemand würde sich zu dieser Operation oder vielmehr Exekution entschließen, wenn der Zahnschmerz nur im mindesten erträglich wäre!

Sie können sich nicht vorstellen, wie zagen und bangen Sinnes ich während der dreistündigen Fahrt im Postwagen saß. Als ich zu Berlin anlangte, war ich wie gebrochen, und da man in solchen Momenten gar keinen Sinn für Geld hat, gab ich dem Postillion zwölf gute Groschen Trinkgeld. Der Kerl sah mich mit sonderbar unschlüssigem Gesichte an; denn nach dem neuen Naglerschen Postreglement war es den Postillionen streng untersagt, Trinkgelder anzunehmen. Er hielt lange das Zwölfgroschenstück, als wenn er es wöge, in der Hand, und ehe er es einsteckte, sprach er mit wehmütiger Stimme: „Seit zwanzig Jahren bin ich Postillion und bin ganz an Trinkgelder gewöhnt, und jetzt auf einmal wird uns von dem Herrn Oberpostdirektor bei harter Strafe verboten, etwas von den Passagieren anzunehmen; aber das ist ein unmenschliches Gesetz, kein Mensch kann ein Trinkgeld abweisen, das ist gegen die Natur!“ Ich drückte dem ehrlichen Mann die Hand und seufzte. Seufzend gelangte ich endlich in den Gasthof, und als ich mich dort gleich nach einem guten Zahnarzt erkundigte, sprach der Wirt mit großer Freude: „Das ist ja ganz vortrefflich, soeben ist ein berühmter Zahnarzt von St. Petersburg bei mir eingekehrt, und wenn Sie an der Table d'hôte speisen, werden Sie ihn sehen.“ Ja, dachte ich, ich will erst meine Henkersmahlzeit halten ehe ich mich aufs Armesünderstühlchen setze. Aber bei Tische fehlte mir doch alle Lust zum Essen. Ich hatte Hunger, aber keinen Appetit. Trotz meines Leichtsinns konnte ich mir doch die Schrecknisse, die in der nächsten Stunde meiner harrten, nicht aus dem Sinne schlagen. Sogar mein Lieblingsgericht, Hammelfleisch mit Teltower Rübchen, widerstand mir. Unwillkürlich suchten meine Augen den schrecklichen Mann, den Zahnhenker aus St. Petersburg, und mit dem Instinkte der Angst hatte ich ihn bald unter den übrigen Gästen herausgefunden. Er saß fern von mir, am Ende der Tafel, hatte ein verzwicktes und verkniffenes Gesicht, ein Gesicht wie eine Zange, womit man Zähne auszieht. Es war ein fataler Kauz, in einem aschgrauen Rock mit blitzenden Stahlknöpfen. Ich wagte kaum, ihm ins Gesicht zu sehen, und als er eine Gabel in die Hand nahm, erschrak ich, als nahe er schon meinen Kinnbacken mit dem Brecheisen. Mit bebender Angst wandte ich mich weg von seinem Anblick und hätte mir auch gern die Ohren verstopft, um nur nicht den Ton seiner Stimme zu vernehmen. An diesem Tone merkte ich, daß er einer jener Leute war, die inwendig, im Leibe, grau angestrichen sind und hölzerne Gedärme haben. Er sprach von Rußland, wo er lange Zeit verweilt, wo aber seine Kunst keinen hinreichenden Spielraum gefunden. Er sprach mit jener stillen, impertinenten Zurückhaltung, die noch unerträglicher ist als die vollauteste Aufschneiderei. Jedesmal, wenn er sprach, ward mir flau zumute und zitterte meine Seele. Aus Verzweiflung warf ich mich in ein Gespräch mit meinem Tischnachbar, und indem ich dem Schrecklichen recht ängstlich den Rücken zukehrte, sprach ich auch so selbstbetäubend laut, daß ich die Stimme desselben endlich nicht mehr hörte. Mein Nachbar war ein liebenswürdiger Mann, von dem vornehmsten Anstand, von den feinsten Manieren, und seine wohlwollende Unterhaltung linderte die peinliche Stimmung, worin ich mich befand. Er war die Bescheidenheit selbst. Die Rede floß milde von seinen sanftgewölbten Lippen, seine Augen waren klar und freundlich, und als er hörte, daß ich an einem kranken Zahne litt, errötete er und bot mir seine Dienste an. „Um Gottes willen“, rief ich, „wer sind Sie denn?“ - „Ich bin der Zahnarzt Meyer aus St. Petersburg“, antwortete er. Ich rückte fast unartig schnell mit meinem Stuhle von ihm weg und stotterte in großer Verlegenheit: „Wer ist denn dort oben an der Tafel der Mann im aschgrauen Rock mit blitzenden Spiegelknöpfen?“ - „Ich weiß nicht“, erwiderte mein Nachbar, indem er mich befremdet ansah. Doch der Kellner, welcher meine Frage vernommen, flüsterte mir mit großer Wichtigkeit ins Ohr: „Es ist der Herr Theaterdichter Raupach.“






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© Wolfgang Fricke