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Heinrich Heine: Über die Französische Bühne


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Zehnter Brief

Außer Meyerbeer besitzt die Académie royale de musique wenige Tondichter, von welchen es der Mühe lohnte, ausführlich zu reden. Und dennoch befindet sich die französische Oper in der reichsten Blüte, oder, um mich richtiger auszudrücken, sie erfreut sich täglich einer guten Recette. Dieser Zustand des Gedeihens begann vor sechs Jahren durch die Leitung des berühmten Herrn Véron, dessen Prinzipien seitdem von dem neuen Direktor, Herrn Duponchel, mit demselben Erfolg angewendet werden. Ich sage Prinzipien, denn in der Tat, Herr Véron hatte Prinzipien, Resultate seines Nachdenkens in der Kunst und Wissenschaft, und wie er als Apotheker eine vortreffliche Mixtur für den Husten erfunden hat, so erfand er als Operndirektor ein Heilmittel gegen die Musik. Er hatte nämlich an sich selber bemerkt, daß ein Schauspiel von Frankoni ihm mehr Vergnügen machte als die beste Oper; er überzeugte sich, daß der größte Teil des Publikums von denselben Empfindungen beseelt sei, daß die meisten Leute aus Konvenienz in die Große Oper gehen und nur dann sich dort ergötzen, wenn schöne Dekorationen, Kostüme und Tänze so sehr ihre Aufmerksamkeit fesseln, daß sie die fatale Musik ganz überhören. Der große Véron kam daher auf den genialen Gedanken, die Schaulust der Leute in so hohem Grade zu befriedigen, daß die Musik sie gar nicht mehr genieren kann, daß sie in der Großen Oper dasselbe Vergnügen finden wie bei Frankoni. Der große Véron und das große Publikum verstanden sich: Jener wußte die Musik unschädlich zu machen und gab unter dem Titel „Oper“ nichts als Pracht und Spektakelstücke; dieses, das Publikum, konnte mit seinen Töchtern und Gattinnen in die Große Oper gehen, wie es gebildeten Ständen ziemt, ohne vor Langerweile zu sterben. Amerika war entdeckt, das Ei stand auf der Spitze, das Opernhaus füllte sich täglich, Frankoni ward überboten, und machte bankrott, und Herr Véron ist seitdem ein reicher Mann. Der Name Véron wird ewig leben in den Annalen der Musik; er hat den Tempel der Göttin verschönert, aber sie selbst zur Tür hinausgeschmissen. Nichts übertrifft den Luxus, der in der Großen Oper überhandgenommen, und diese ist jetzt das Paradies der Harthörigen.

Der jetzige Direktor folgt den Grundsätzen seines Vorgängers, obgleich er zu der Persönlichkeit desselben den ergötzlich schroffsten Kontrast bildet. Haben Sie Herrn Véron jemals gesehen? Im Café de Paris oder auf dem Boulevard Coblence ist sie Ihnen gewiß manchmal aufgefallen, diese feiste karikierte Figur, mit dem schief eingedrückten Hute auf dem Kopfe, welcher in einer ungeheuren weißen Krawatte, deren Vatermörder bis über die Ohren reichen, ganz vergraben ist, so daß das rote, lebenslustige Gesicht mit den kleinen blinzelnden Augen nur wenig zum Vorschein kommt. Indem Bewußtsein seiner Menschenkenntnis und seines Gelingens wälzt er sich so behaglich, so insolent behaglich einher, umgeben von einem Hofstaate junger, mitunter auch ältlicher Dandys der Literatur, die er gewöhnlich mit Champagner oder schönen Figurantinnen regaliert. Es ist der Gott des Materialismus, und sein geistverhöhnender Blick schnitt mir oft peinigend ins Herz, wenn ich ihm begegnete.

Herr Duponchel ist ein hagerer, gelbblasser Mann, welcher, wo nicht edel, doch vornehm aussieht, immer trist, eine Leichenbittermiene, und jemand nannte ihn ganz richtig: un deuil perpétuel. Nach seiner äußeren Erscheinung würde man ihn über für den Aufseher des Père-Lachaise als für den Direktor der Großen Oper halten. Er erinnert mich immer an den melancholischen Hofnarren Ludwigs XIII. Dieser Ritter von der traurigen Gestalt ist jetzt Maître de plaisir der Pariser, und ich möchte ihn manchmal belauschen, wenn er, einsam in seiner Behausung, auf neue Spaße sinnt, womit er seinen Souverän, das französische Publikum, ergötzen soll, wenn er wehmütignärrisch das trübe Haupt: schüttelt und das rote Buch ergreift, um nachzusehen, ob die Taglioni ...

Sie sehen mich verwundert an? Ja, das ist ein kurioses Buch, dessen Bedeutung sehr schwer mit anständigen Worten zu erklären sein möchte. Nur durch Analogien kann ich mich hier verständlich machen. Wissen Sie, was der Schnupfen der Sängerinnen ist? Ich höre Sie seufzen, und Sie denken wieder an Ihre Märtyrerzeit: die letzte Probe ist überstanden, die Oper ist schon für den Abend angekündigt, da kommt plötzlich die Primadonna und erklärt, daß sie nicht singen könne, denn sie habe den Schnupfen. Da ist nichts anzufangen, ein Blick gen Himmel, ein ungeheurer Schmerzensblick!, und ein neuer Zettel wird gedruckt, worin man einem verehrungswürdigen Publikum anzeigt, daß die Vorstellung der „Vestalin“, wegen Unpäßlichkeit der Mademoiselle Schnaps, nicht stattfinden könne und statt dessen „Rochus Pumpernickel“ aufgeführt wird. Den Tänzerinnen half es nichts, wenn sie den Schnupfen ansagten, er hinderte sie ja nicht am Tanzen, und sie beneideten lange Zeit die Sängerinnen ob jener rheumatischen Erfindung, womit diese sich zu jeder Zeit einen Feierabend und ihrem Feinde, dem Theaterdirektor, einen Leidenstag verschaffen konnten. Sie erflehten daher vom lieben Gott dasselbe Qualrecht, und dieser, ein Freund des Balletts, wie alle Monarchen, begabte sie mit einer Unpäßlichkeit, die, an sich selber harmlos, sie dennoch verhindert, öffentlich zu pirouettieren, und die wir, nach der Analogie von thé dansant, den tanzenden Schnupfen nennen möchten. Wenn nun eine Tänzerin nicht auftreten will, hat sie ebensogut ihren unabweisbaren Vorwand wie die beste Sängerin. Der ehemalige Direktor der Großen Oper verwünschte sich oft zu allen Teufeln, wenn die „Sylphide“ gegeben werden sollte und die Taglioni ihm meldete, sie könne heute keine Flügel und keine Trikothosen anziehen und nicht auftreten, denn sie habe den tanzenden Schnupfen ... Der große Véron, in seiner tiefsinnigen Weise, entdeckte, daß der tanzende Schnupfen sich von dem singenden Schnupfen der Sängerinnen durch eine gewisse Regelmäßigkeit unterscheide und seine jedesmalige Erscheinung lange vorausberechnet werden könne: denn der liebe Gott, ordnungsliebend, wie er ist, gab den Tänzerinnen eine Unpäßlichkeit, die im Zusammenhang mit den Gesetzen der Astronomie, der Physik, der Hydraulik, kurz, des ganzen Universums steht und folglich kalkulable ist; der Schnupfen der Sängerinnen hingegen ist eine Privaterfindung, eine Erfindung der Weiberlaune, und folglich inkalkulable. In diesem Umstand der Berechenbarkeit der periodischen Wiederkehr des tanzenden Schnupfens suchte der große Véron eine Abhülfe gegen die Vexationen der Tänzerinnen, und jedesmal, wenn eine derselben den ihrigen bekam, ward das Datum dieses Ereignisses in ein besonderes Buch genau aufgezeichnet, und das ist das rote Buch, welches eben Herr Duponchel in Händen hielt und in welchem er nachrechnen konnte, an welchem Tage die Taglioni ... Dieses Buch, welches den Inventionsgeist und überhaupt den Geist des ehemaligen Operndirektors, des Herrn Véron, charakterisiert, ist gewiß von praktischer Nützlichkeit.

Aus den vorhergehenden Bemerkungen werden Sie die gegenwärtige Bedeutung der französischen Großen Oper begriffen haben. Sie hat sich mit den Feinden der Musik ausgesöhnt, und wie in den Tuilerien ist der wohlhabende Bürger stand auch in die Académie de musique eingedrungen, während die vornehme Gesellschaft das Feld geräumt hat. Die schöne Aristokratie, diese Elite, die sich durch Rang, Bildung, Geburt, Fashion und Müßiggang auszeichnet, flüchtete sich in die Italienische Oper, in diese musikalische Oase, wo die großen Nachtigallen der Kunst noch immer trillern, die Quellen der Melodie noch immer zaubervoll rieseln und die Palmen der Schönheit mit ihren stolzen Fächern Beifall winken ... während ringsumher eine blasse Sandwüste, eine Sahara der Musik. Nur noch einzelne gute Konzerte tauchen manchmal hervor in dieser Wüste und gewähren dem Freunde der Tonkunst eine außerordentliche Labung. Dahin gehörten diesen Winter die Sonntage des Conservatoires. Einige Privatsoireen auf der Rue de Bondy und besonders die Konzerte von Berlioz und Liszt. Die beiden letzteren sind wohl die merkwürdigsten Erscheinungen in der hiesigen musikalischen Welt; ich sage die merkwürdigsten, nicht die schönsten, nicht die erfreulichsten. Von Berlioz werden wir bald eine Oper erhalten. Das Sujet ist eine Episode aus dem Leben Benvenutos Cellini, der Guß des Perseus. Man erwartet Außerordentliches, da dieser Komponist schon Außerordentliches geleistet. Seine Geistesrichtung ist das Phantastische, nicht verbunden mit Gemüt, sondern mit Sentimentalität; er hat große Ähnlichkeit mit Callot, Gozzi und Hoffmann. Schon seine äußere Erscheinung deutet darauf hin. Es ist schade, daß er seine ungeheure, antediluvianische Frisur, diese aufsträubenden Haare, die über seine Stirne, wie ein Wald über eine schroffe Felswand, sich erhoben, abschneiden lassen; so sah ich ihn zum ersten Male vor sechs Jahren, und so wird er immer in meinem Gedächtnisse stehen. Es war im. Conservatoire de musique, und man gab eine große Symphonie von ihm, ein bizarres Nachtstück, das nur zuweilen erhellt wird von einer sentimentalweißen Weiberrobe, die darin hin und her flattert, oder von einem schwefelgelben Blitz der Ironie. Das Beste darin ist ein Hexensabbat, wo der Teufel Messe liest und die katholische Kirchenmusik mit der schauerlichsten, blutigsten Possenhaftigkeit parodiert wird. Es ist eine Farce, wobei alle geheimen Schlangen, die wir im Herzen tragen, freudig emporzischen. Mein Logennachbar, ein redseliger junger Mann, zeigte mir den Komponisten, welcher sich, am äußersten Ende des Saales, in einem Winkel des Orchesters befand und die Pauke schlug. Denn die Pauke ist sein Instrument. „Sehen Sie in der Avant-scène“, sagte mein Nachbar, „jene dicke Engländerin? Das ist Miß Smithson; in diese Dame ist Herr Berlioz seit drei Jahren sterbens verliebt, und dieser Leidenschaft verdanken wir die wilde Symphonie, die Sie heute hören.“ In der Tat, in der Avant-scène-Loge saß die berühmte Schauspielerin von Coventgarden; Berlioz sah immer unverwandt nach ihr hin, und jedesmal, wenn sein Blick dem ihrigen begegnete, schlug er los auf seine Pauke, wie wütend. Miß Smithson ist seitdem Madame Berlioz geworden, und ihr Gatte hat sich seitdem auch die Haare abschneiden lassen. Als ich diesen Winter im Conservatoire wieder seine Symphonie hörte, saß er wieder als Paukenschläger im Hintergründe des Orchesters, die dicke Engländerin saß wieder in der Avant-scène, ihre Blicke begegneten sich wieder ... aber er schlug nicht mehr so wütend auf die Pauke.

Liszt ist der nächste Wahlverwandte von Berlioz und weiß dessen Musik am besten zu exekutieren. Ich brauche Ihnen von seinem Talente nicht zu reden; sein Ruhm ist europäisch. Er ist unstreitig derjenige Künstler, welcher in Paris die unbedingtesten Enthusiasten findet, aber auch die eifrigsten Widersacher. Das ist ein bedeutendes Zeichen, daß niemand mit Indifferenz von ihm redet. Ohne positiven Gehalt kann man in dieser Welt weder günstige noch feindliche Passionen erwecken. Es gehört Feuer dazu, um die Menschen zu entzünden, sowohl zum Haß als zur Liebe. Was am besten für Liszt zeugt, ist die volle Achtung, womit selbst die Gegner seinen persönlichen Wert anerkennen. Er ist ein Mensch von verschrobenem, aber edlem Charakter, uneigennützig und ohne Falsch. Höchst merkwürdig sind seine Geistesrichtungen, er hat große Anlagen zur Spekulation, und mehr noch als die Interessen seiner Kunst interessieren ihn die Untersuchungen der verschiedenen Schulen, die sich mit der Lösung der großen, Himmel und Erde umfassenden Frage beschäftigen. Er glühte lange Zeit für die schöne Saint-Simonistische Weltansicht, später umnebelten in die spiritualistischen, oder vielmehr vaporistischen Gedanken von Ballanche, jetzt schwärmt er für die republikanisch katholischen Lehren eines Lamennais, welcher die Jakobinermütze aufs Kreuz gepflanzt hat ... Der Himmel weiß, in welchem Geistesstall er sein nächstes Steckenpferd finden wird. Aber lobenswert bleibt immer dieses unermüdliche Lechzen nach Licht und Gottheit, es zeugt von seinem Sinn für das Heilige, für das Religiöse. Daß ein so unruhiger Kopf, der von allen Nöten und Doktrinen der Zeit in die Wirre getrieben wird, der das Bedürfnis fühlt, sich um alle Bedürfnisse der Menschheit zu bekümmern, und gern die Nase in alle Töpfe steckt, worin der liebe Gott die Zukunft kocht: daß Franz Liszt kein stiller Klavierspieler für ruhige Staatsbürger und gemütliche Schlafmützen sein kann, das versteht sich von selbst. Wenn er am Fortepiano sitzt und sich mehrmals das Haar über die Stirne zurückgestrichen hat und zu improvisieren beginnt, dann stürmt er nicht selten allzu toll über die elfenbeinernen Tasten, und es erklingt eine Wildnis von himmelhohen Gedanken, wozwischen hie und da die süßesten Blumen ihren Duft verbreiten, daß man zugleich, beängstigt und beseligt wird, aber doch noch mehr beängstigt.

Ich gestehe es Ihnen, wie sehr ich auch Liszt liebe, so wirkt doch seine Musik nicht angenehm auf mein Gemüt, um so mehr, da ich ein Sonntagskind bin und die Gespenster auch sehe, welche andere Leute nur hören, da, wie Sie wissen, bei jedem Ton, den die Hand auf dem Klavier anschlägt, auch die entsprechende Klangfigur in meinem Geiste aufsteigt, kurz, da die Musik meinem innern Auge sichtbar wird. Noch zittert mir der Verstand im Kopfe, bei der Erinnerung des Konzertes, worin ich Liszt zuletzt spielen hörte. Es war im Konzerte für die unglücklichen Italiener, im Hotel jener schönen, edlen und leidenden Fürstin, welche ihr leibliches und ihr geistiges Vaterland, Italien und den Himmel, so schön repräsentiert ... (Sie haben sie gewiß in Paris gesehen, die ideale Gestalt, welche dennoch nur das Gefängnis ist, worin die heiligste Engelseele, eingekerkert worden ... Aber dieser Kerker ist so schön, das jeder wie verzaubert davor stehenbleibt und ihn anstaunt).

Es war im Konzerte zum Besten der unglücklichen Italiener, wo ich Liszt verflossenen Winter zuletzt spielen hörte, ich weiß nicht mehr was, aber ich möchte darauf schwören, er variierte einige Themata aus der Apokalypse. Anfangs konnte ich sie nicht ganz deutlich sehen, die vier mystischen Tiere, ich hörte nur ihre Stimme, besonders das Gebrüll des Löwen und das Krächzen des Adlers. Den Ochsen mit dem Buch, in der Hand sah ich ganz genau. Am besten spielte er das Tal Josaphat. Es waren Schranken wie bei einem Turnier, und als Zuschauer um den ungeheuren Raum drängten sich die auferstandenen Völker, grabesbleich und zitternd. Zuerst galoppierte Satan in die Schranken, schwarzgeharnischt, auf einem milchweißen Schimmel. Langsam ritt hinter ihm her der Tod, auf seinem fahlen Pferde. Endlich erschien Christus, in goldener Rüstung, auf einem schwarzen Roß, und mit seiner heiligen Lanze stach er erst Satan zu Boden, hernach den Tod, und die Zuschauer Jauchzten ... Stürmischen Beifall zollte man dem Spiel des wackeren Liszt, welcher ermüdet das Klavier verließ, sich vor den Damen verbeugte ... Um die Lippen der Schönsten zog jenes melancholisch-süße Lächeln ...

Es wäre ungerecht, wenn ich bei dieser Gelegenheit nicht eines Pianisten erwähnen wollte, der neben Liszt am meisten gefeiert wird. Es ist Chopin, der nicht bloß als Virtuose durch technische Vollendung glänzt, sondern auch als Komponist das Höchste leistet. Das ist ein Mensch vom ersten Range. Chopin ist der Liebling jener Elite, die in der Musik die höchsten Geistesgenüsse sucht. Sein Ruhm ist aristokratischer Art, er ist parfümiert von den Lobsprüchen der guten Gesellschaft, er ist vornehm wie seine Person.

Chopin ist von französischen Eltern in Polen geboren und hat einen Teil seiner Erziehung in Deutschland genossen. Diese Einflüsse dreier Nationalitäten machen seine Persönlichkeit zu einer höchst merkwürdigen Erscheinung; er hat sich nämlich das Beste angeeignet, wodurch sich die drei Völker auszeichnen: Polen gab ihm seinen chevaleresken Sinn und seinen geschichtlichen Schmerz, Frankreich gab ihm seine leichte Anmut, seine Grazie, Deutschland gab ihm den romantischen Tiefsinn ... Die Natur aber gab ihm eine zierliche, schlanke, etwas schmächtige Gestalt, das edelste Herz und das Genie. Ja, dem Chopin muß man Genie zusprechen, in der vollen Bedeutung des Worts; er ist nicht bloß Virtuose, er ist auch Poet, er kann uns die Poesie, die in seiner Seele lebt, zur Anschauung bringen, er ist Tondichter, und nichts gleicht dem Genuß, den er uns verschafft, wenn er am Klavier sitzt und improvisiert. Er ist alsdann weder Pole noch Franzose noch Deutscher, er verrät dann einen weit höheren Ursprung, man merkt alsdann, er stammt aus dem Lande Mozarts, Raffaels, Goethes, sein wahres Vaterland ist das Traumreich der Poesie. Wenn er am Klavier sitzt und improvisiert, ist es mir, als besuche mich ein Landsmann aus der geliebten Heimat und erzähle mir die kuriosesten Dinge, die, während in einer Abwesenheit, dort passiert sind ... Manchmal möcht ich ihn mit Fragen unterbrechen: Und wie geht's der schönen. Nixe, die ihren silbernen Schleier so kokett um die grünen Locken zu binden wußte? Verfolgt sie noch immer der weißbärtige Meergott mit seiner närrisch abgestandenen liebe? Sind bei uns die Rosen noch immer so flammenstolz? Singen die Bäume noch immer so schön im Mondschein? ...

Ach! es ist schon lange her, daß ich in der Fremde lebe, und mit meinem fabelhaften Heimweh komme ich mir manchmal vor wie der Fliegende Holländer und seine Schiffsgenossen, die auf den kalten Wellen ewig geschaukelt werden und vergebens zurückverlangen nach den stillen Kaien, Tulpen, Myfrowen, Tonpfeifen und Porzellantassen von Holland ... „Amsterdam! Amsterdam! wann kommen wir wieder nach Amsterdam!“ seufzen sie im Sturm, während die Heulwinde sie beständig hin und her schleudern auf den verdammten Wogen ihrer Wasserhölle. Wohl begreife ich den Schmerz, womit der Kapitän des verwünschten Schiffes einst sagte: „Komme ich jemals zurück nach Amsterdam, so will ich dort lieber ein Stein werden an irgendeiner Straßenecke, als daß ich jemals die Stadt wieder verließe!“ Armer Vanderdecken!

Ich hoffe, liebster Freund, daß diese Briefe Sie froh und heiter antreffen, im rosigen Lebenslichte, und daß es mir nicht wie dem Fliegenden Holländer ergehe, dessen Briefe gewöhnlich an Personen gerichtet sind, die während seiner Abwesenheit in der Heimat längst verstorben sind!






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© Wolfgang Fricke