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Heinrich Heine: Über die Französische Bühne


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Achter Brief

Ich habe im vorletzten Briefe die beiden Chorführer des französischen Dramas besprochen. Es waren jedoch nicht eben die Namen Victor Hugo und Alexander Dumas, welche diesen Winter auf den Theatern des Boulevards am meisten florierten. Hier gab's drei Namen, die beständig im Munde des Volkes widerklangen, obgleich sie bis jetzt in der Literatur unbekannt sind. Es waren: Mallefille, Rougemont und Bouchardy. Von ersterem hoffe ich das Beste, er besitzt, soviel ich merke, große poetische Anlagen. Sie erinnern sich vielleicht seiner „Sieben Infanten von Lara“, jenes Greuelstücks, das wir einst an der Porte Saint-Martin miteinander sahen. Aus diesem wüsten Mischmasch von Blut und Wut traten manchmal wunderschöne, wahrhaft erhabene Szenen hervor, die von romantischer Phantasie und dramatischem Talente zeugten. Eine andere Tragödie von Mallefille, „Glenarvon“, ist von noch größerer Bedeutung, da sie weniger verworren und unklar und eine Exposition enthält, die erschütternd schön und grandios. In beiden Stücken sind die Rollen der ehebrecherischen Mutter vortrefflich besetzt durch Mademoiselle Georges, der ungeheuren, strahlenden Fleischsonne am Theaterhimmel des Boulevards. Vor einigen Monaten gab Mallefille ein neues Stück, betitelt „Der Alpenhirt“ (Le paysan des Alpes). Hier hat er sich einer größeren Einfachheit beflissen, aber auf Kosten des poetischen Gehalts. Das Stück ist schwächer als seine früheren Tragödien. Wie in diesen, werden auch hier die ehelichen Schranken pathetisch niedergerissen.

Der zweite Laureat des Boulevards, Rougemont, begründete seine Renommee durch drei Schauspiele, die in der kurzen Frist von etwa sechs Monaten hintereinander zum Vorschein kamen und des größten Beifalls genossen. Das erste hieß „Die Herzogin von Lavaubalière“, ein schwaches Machwerk, worin viel Handlung ist, die aber nicht überraschend kühn oder natürlich sich entfaltet, sondern immer mühsam durch kleinliche Berechnung herbeigeführt wird, so wie auch die Leidenschaft darin ihre Glut nur erheuchelt und innerlich träge und wurmkalt ist. Das zweite Stück, betitelt „Léon“, ist schon besser, und obgleich es ebenfalls an der erwähnten Vorsätzlichkeit leidet, so enthält es doch einige großartig erschütternde Szenen. Vorige Woche sah ich das dritte Stück, „Eulalie Grangèr“, ein rein bürgerliches Drama, ganz vortrefflich, indem der Verfasser darin der Natur seines Talentes gehorcht und die traurigen Wirrnisse heutiger Gesellschaft mit Verstandesklarheit in einem schön eingerahmten Gemälde darstellt.

Von Bouchardy, dem dritten Laureaten, ist bis jetzt nur ein einziges Stück aufgeführt worden, das aber mit beispiellosem Erfolg gekrönt ward. Es heißt „Gaspardo“, ist binnen fünf Monaten alle Tage gespielt worden, und geht es in diesem Zage fort, so erlebt es einige hundert Vorstellungen. Ehrlich gesagt, der Verstand steht mir still, wenn ich den letzten Gründen dieses kolossalen Beifalls nachsinne. Das Stück ist mittelmäßig, wo nicht gar ganz schlecht. Voll Handlung, wovon aber die eine über den Kopf der anderen stolpert, so daß ein Effekt dem anderen den Hals bricht. Der Gedanke, worin sich der ganze Spektakel bewegt, ist eng, und weder ein Charakter noch eine Situation kann sich natürlich entwickeln und entfalten. Dieses Aufeinandertürmen von Stoff ist zwar schon bei den vorhergenannten Bühnendichtern in unerträglichem Grade zu finden; aber der Verfasser des „Gaspardo“ hat sie beide noch überboten. Indessen, das ist Vorsatz, das ist Prinzip, wie mir einige junge Dramaturgen versichern, durch dieses Zusammenhäufen von heterogenen Stoffen, Zeitperioden und Lokalen unterscheidet sich der jetzige Romantiker von den ehemaligen Klassikern, die in den geschlossenen Schranken des Dramas auf die Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung so strenge hielten.

Haben diese Neuerer wirklich die Grenzen des französischen Theaters erweitert? Ich weiß nicht. Aber diese französischen Bühnendichter mahnen mich immer an den Kerkermeister, welcher über die Enge des Gefängnisses sich beklagte und, um den Raum desselben zu erweitem, kein besseres Mittel wußte, als daß er immer mehr und mehr Gefangene hineinsperrte, die aber, statt die Kerkerwände auszudehnen, sich nur einander erdrückten.

Nachträglich erwähne ich, daß auch in „Gaspardo“ und „Eulalie Grangèr“, wie in allen dionysischen Spielen des Boulevards, die Ehe als Sündenbock geschlachtet wird.

Ich möchte Ihnen gern noch, lieber Freund, von einigen anderen Bühnendichtern des Boulevards berichten, aber wenn sie auch dann und wann ein verdauliches Stück liefern, so zeigt sich darin nur eine Leichtigkeit der Behandlung, die wir bei allen Franzosen finden, keineswegs aber eine Eigentümlichkeit der Auffassung. Auch habe ich nur die Stücke gesehen und gleich vergessen und mich nie danach erkundigt, wie ihre Autoren hießen. Zum Ersatze aber will ich Ihnen die Namen der Eunuchen mitteilen, die dem König Ahasverus in Susa als Kämmerer dienten; sie hießen: Mehuman, Bistha, Harbona, Bigtha, Abagtha, Sethar und Charkas.

Die Theater des Boulevards, von denen ich eben sprach und die ich in diesen Briefen beständig im Sinne hatte, sind die eigentlichen Volkstheater, welche an der Porte Saint-Martin anfangen und dem Boulevard du Temple entlang in immer absteigendem Werte sich aufgestellt haben. Ja, diese lokale Rangordnung ist ganz richtig. Erst kommt das Schauspielhaus, welches den Namen der Porte Saint-Martin führt und für das Drama gewiß das beste Theater von Paris ist, die Werke von Hugo und Dumas am vortrefflichsten gibt und eine vortretffliche Truppe, worunter Mademoiselle Georges und Bocage, besitzt. Hierauf folgt das Ambigu-Comique, wo es schon mit Darstellung und Darstellern schlechter bestellt ist, aber noch immer das romantische Drama tragiert wird. Von da gelangen wir zu Frankoni, welche Bühne jedoch in dieser Reihe nicht mitzurechnen ist, da man dort mehr Pferde- als Menschenstücke aufführt. Dann kommt La Gälte, ein Theater, das unlängst abgebrannt, aber jetzt wieder aufgebaut ist und von außen wie von innen seinem heiteren Namen entspricht. Das romantische Drama hat hier ebenfalls das Bürgerrecht, und auch in diesem freundlichen Hause fließen zuweilen die Tränen und pochen die Herzen von den furchtbarsten Emotionen; aber hier wird doch schon mehr gesungen und gelacht, und das Vaudeville kommt schon mit seinem leichten Geträller zum Vorschein. Dasselbe ist der Fall in dem danebenstehenden Theater Les Folies dramatiques, welches ebenfalls Dramen und noch mehr Vaudevilles gibt; aber schlecht ist dieses Theater nicht zu nennen, und ich habe dort manches gute Stück aufführen, und zwar gut aufführen sehen. Nach den Folies dramatiques, dem Werte wie dem Lokale nach, folgt das Theater von Madame Sacqui, wo man ebenfalls noch Dramen, aber äußerst mittelmäßige, und die miserabelsten Singspäße gibt, die endlich bei dem benachbarten Fünembülen in die derbsten Possenreißereien ausarten. Hinter der Fünembülen, wo einer der vortrefflichsten Pierrots, der berühmte Debureau, seine weißen Gesichter schneidet, entdeckte ich noch ein ganz kleines Theater, welches Lazarry heißt, wo man ganz schlecht spielt, wo das Schlechte endlich seine Grenzen gefunden, wo die Kunst mit Brettern zugenagelt ist.

Während Ihrer Abwesenheit ist zu Paris noch ein neues Theater errichtet worden, ganz am Ende des Boulevards, bei der Bastille, und heißt Théâtre de la Porte Saint-Antoine. Es ist in jeder Hinsicht hors de ligne, und man kann es weder seiner artistischen noch lokalen Stellung nach unter die erwähnten Boulevardstheater rangieren. Auch ist es zu neu, als daß man über seinen Wert schon etwas Bestimmtes aussprechen dürfte. Die Stücke, die dort aufgeführt werden, sind übrigens nicht schlecht. Unlängst habe ich dort, in der Nachbarschaft der Bastille, ein Drama aufführen sehen, welches den Namen dieses Gefängnisses trägt und sehr ergreifende Stellen enthielt. Die Heldin, wie sich von selbst versteht, ist die Gemahlin des Gouverneurs der Bastille und entflieht mit einem Staatsgefangenen. Auch ein gutes Lustspiel sah ich dort aufführen, welches den Titel führt „Mariez-vous donc“ und die Schicksale eines Ehemanns veranschaulichte, der keine vornehme Konvenienzehe schließen wollte, sondern ein schönes Mädchen aus dem Volke heiratet. Der Vetter wird ihr Liebhaber, die Schwiegermutter bildet mit diesem und der getreuen Gemahlin die Hausopposition gegen den Ehemann, den ihr Luxus und die schlechte Wirtschaft in Armut stürzen. Um den Lebensunterhalt für seine Familie zu gewinnen, muß der Unglückliche endlich an der Barriere eine Tanzbude für Lumpengesindel eröffnen. Wenn die Quadrille nicht vollzählig ist, läßt er sein siebenjähriges Söhnchen mittanzen, und das Kind weiß schon seine Pas mit den liederlichsten Pantomimen des Chahuts zu variieren. So findet ihn ein Freund, und während der arme Mann, mit der Violine in der Hand, fiedelnd und springend die Touren angibt, findet er manchmal eine Zwischenpause, wo er dem Ankömmling seine Ehestandsnöten erzählen kann. Es gibt nichts Schmerzlicheres als der Kontrast der Erzählung und der gleichzeitigen Beschäftigung des Erzählers, der seine Leidensgeschichte oft unterbrechen muß, um mit einem „Chassez!“ oder „En avant deux!“ in die Tanzreihen einzuspringen und mitzutanzen. Die Tanzmusik, die melodramatisch jenen Ehestandsgeschichten als Akkompagnement dient, diese sonst so heiteren Töne schneiden einem hier ironisch gräßlich ins Herz. Ich habe nicht in das Gelächter der Zuschauer einstimmen können. Gelacht habe ich nur über den Schwiegervater, einen alten Trunkenbold, der all sein Hab und Gut verschluckt und endlich betteln gehn muß. Aber er bettelt höchst humoristisch. Er ist ein dicker Faulwanst mit einem rotversoffenen Gesichte, und an einem Seile führt er einen räudigen, blinden Hund, welchen er seinen Belisar nennt. Der Mensch, behauptet er, sei undankbar gegen die Hunde, die den blinden Menschen so oft als getreue Führer dienten; er aber wolle diesen Bestien ihre Menschenliebe vergelten, und er diene jetzt als Führer seinem armen Belisar, seinem blinden Hund.

Ich habe so herzlich gelacht, daß die Umstehenden mich gewiß für den Chatouilleur des Theaters hielten.

Wissen Sie, was ein Chatouilleur ist? Ich selber kenne die Bedeutung dieses Wortes erst seit kurzem und verdanke diese Belehrung meinem Barbier, dessen Bruder als Chatouilleur bei einem Boulevardstheater angestellt ist. Er wird nämlich dafür bezahlt, daß er bei der Vorstellung von Lustspielen jedesmal, wenn ein guter Witz gerissen wird, laut lacht und die Lachlust des Publikums aufreizt. Dieses ist ein sehr wichtiges Amt, und der Sukzeß von vielen Lustspielen hängt davon ab. Denn manchmal sind die guten Witze sehr schlecht, und das Publikum würde durchaus nicht lachen, wenn nicht der Chatouilleur die Kunst verstände, durch allerlei Modulationen seines Lachens, vom leisesten Kichern bis zum herzlichsten Wonnegrunzen, das Mitgelächter der Menge zu erzwingen. Das Lachen hat einen epidemischen Charakter wie das Gähnen, und ich empfehle Ihnen für die deutsche Bühne die Einführung eines Chatouilleurs, eines Vorlachers. Vorgähner besitzen Sie dort gewiß genug. Aber es ist nicht leicht, jenes Amt zu verrichten, und, wie mir mein Barbier versichert, es gehört viel Talent dazu. Sein Bruder übt es jetzt schon seit fünfzehn Jahren und brachte es darin zu einer solchen Virtuosität, daß er nur einen einzigen seiner feineren, halbgedämpften, halbenschlüpften Fistellaute anzuschlagen braucht, um die Menge in ein volles Jauchzen ausbrechen zu lassen. „Er ist ein Mann von Talent“, setzte mein Barbier hinzu, „und er verdient mehr Geld als ich; denn außerdem ist er noch als Leidtragender bei den Pompes Funèbres angestellt, und er hat des Morgens oft fünf bis sechs Leichenzüge, wo er, in seiner rabenschwarzen Trauerkleidung mit weißem Taschentuch und betrübtem Gesichte, so weinerlich aussehen kann, daß man schwören sollte, er folge dem Sarge seines eignen Vaters.“

Wahrlich, lieber Lewald, ich habe Respekt vor dieser Vielseitigkeit, doch wäre ich auch derselben fähig, für alles Geld in der Welt möchte ich nicht die Ämter dieses Mannes übernehmen. Denken Sie sich, wie schrecklich es ist, an einem Frühlingsmorgen, wenn man eben seinen vergnügten Kaffee getrunken und die Sonne einem froh ins Herz lacht, schon gleich eine Leichenbittermiene vorzunehmen und Tränen zu vergießen für irgendeinen abgeschiedenen Gewürzkrämer, den man vielleicht gar nicht kennt und dessen Tod einem nur erfreulich sein kann, weil er dem Leidtragenden sieben Francs und zehn Sous einträgt. Und dann, wenn man sechsmal vom Kirchhofe zurückgekehrt und todmüde und sterbensverdrießlich und ernsthaft ist, soll man noch den ganzen Abend lachen über alle schlechten Witze, die man schon so oft belacht hat, lachen mit dem ganzen Gesichte, mit jeder Muskel, mit allen Krämpfen des Leibes und der Seele, um ein blasiertes Parterre zum Mitgelächter zu stimulieren ... Das ist entsetzlich! Ich möchte lieber König von Frankreich sein.






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© Wolfgang Fricke