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Das Gehirn ist mir schwer wüst. Ich habe diese Nacht fast gar nicht schlafen können. Beständig rollte ich mich im Bett umher, und beständig rollte mir selber im Kopfe der Gedanke: Wer war der verlarvte Scharfrichter, welcher zu Whitehall Karl I. köpfte? Erst gegen Morgen schlummerte ich ein, und da träumte mir: es sei Nacht und ich stände einsam auf dem Pont-neuf zu Paris und schaute hinab in die dunkle Seine. Unten aber, zwischen den Pfeilern der Brücke, kamen nackte Menschen zum Vorschein, die bis an die Hüften aus dem Wasser hervortauchten, in den Händen brennende Lampen hielten und etwas zu suchen schienen. Sie schauten mit bedeutsamen Blicken zu mir hinauf, und ich selber nickte ihnen hinab, wie im geheimnisvollsten Einverständnis ... Endlich schlug die schwere Notre-Dame-Glocke, und ich erwachte. Und nun grüble ich schon eine Stunde darüber nach, was eigentlich die nackten Leute unter dem Pont-neuf suchten. Ich glaube, im Traume wußt ich es und habe es seitdem vergessen.
Die glänzenden Morgennebel versprechen einen schönen Frühlingstag. Der Hahn kräht. Der alte Invalide, welcher neben uns wohnt, sitzt schon vor seiner Haustüre und singt seine napoleonischen Lieder. Sein Enkel, das blondgelockte Kind, ist ebenfalls schon auf seinen nackten Beinchen und steht jetzt vor meinem Fenster, ein Stück Zucker in den Händchen, und will damit die Rosen füttern. Ein Sperling trippelt heran mit den kleinen Füßchen und betrachtet das liebe Kind wie neugierig, wie verwundert. Mit hastigem Schritt kommt aber die Mutter, das schöne Bauerweib, nimmt das Kind auf den Arm und trägt es wieder ins Haus, damit es sich nicht in der Morgenluft erkälte.
Ich aber greife wieder zur Feder, um über das französische Theater meine verworrenen Gedanken in einem noch verworreneren Stile niederzukritzeln. Schwerlich wird in dieser geschriebenen Wildnis etwas zum Vorscheinkommen, was für Sie, teurer Freund, belehrsam wäre. Ihnen, dem Dramaturgen, der das Theater in allen seinen Beziehungen kennt und den Komödianten in die Nieren sieht wie uns Menschen der liebe Gott; Ihnen, der Sie auf den Brettern, die die Welt bedeuten, einst gelebt, geliebt und gelitten haben, wie in der Welt selbst der liebe Gott: Ihnen werde ich wohl weder über deutsches noch französisches Theater viel Neues sagen können! Nur flüchtige Bemerkungen wage ich hier hinzuwerfen, die ein geneigtes Kopfnicken von Ihnen erschmeicheln sollen.
So, hoffe ich, findet Ihre Beistimmung, was ich im vorigen Briefe über das französische Lustspiel angedeutet habe. Das sittliche Verhältnis oder vielmehr Mißverhältnis zwischen Mann und Weib ist hier in Frankreich der Dünger, welcher den Boden des Lustspiels so kostbar befruchtet. Die Ehe, oder vielmehr der Ehebruch, ist der Mittelpunkt aller jener Lustspielraketen, die so brillant in die Höhe schießen, aber eine melancholische Dunkelheit, wo nicht gar einen üblen Duft, zurücklassen. Die alte Religion, das katholische Christentum, welche die Ehe sanktionierte und den ungetreuen Gatten mit der Hölle bedrohte, ist hier mitsamt dieser Hölle erloschen. Die Moral, die nichts anders ist als die in die Sitten eingewachsene Religion, hat dadurch alle ihre Lebenswurzeln verloren und rankt jetzt mißmutig welk an den dürren Stäben der Vernunft, die man an die Stelle der Religion aufgepflanzt hat. Aber nicht einmal diese armselig wurzellose, nur auf Vernunft gestützte Moral wird hier gehörig respektiert, und die Gesellschaft huldigt nur der Konvenienz, welche nichts anderes ist als der Schein der Moral, die Verpflichtung einer sorgfältigen Vermeidung alles dessen, was einen öffentlichen Skandal hervorbringen kann; ich sage, einen öffentlichen, nicht einen heimlichen Skandal, denn alles Skandalöse, was nicht zur Erscheinung kommt, existiert nicht für die Gesellschaft; sie bestraft die Sünde nur in Fällen, wo die Zungen allzu laut murmeln. Und selbst dann gibt es gnädige Milderungen. Die Sünderin wird nicht früher ganz verdammt, als bis der Ehegatte selbst sein „Schuldig“ ausspricht. Der verrufensten Messaline öffnen sich die Flügeltore des französischen Salons, solange das eheliche Hornvieh geduldig an ihrer Seite hineintrabt. Dagegen das Mädchen, das sich wahnsinnig großmütig, weiblich aufopferungsvoll in die Arme des Geliebten wirft, ist auf immer aus der Gesellschaft verbannt. Aber dieses geschieht selten, erstens, weil Mädchen hierzulande nie lieben, und zweitens, weil sie im Liebesfalle sich so bald als möglich zu verheiraten suchen, um jener Freiheit teilhaft zu werden, die von der Sitte nur den verheirateten Frauen bewilligt ist.
Das ist es. Bei uns in Deutschland, wie auch in England und anderen germanischen Ländern, gestattet man den Mädchen die größtmöglichste Freiheit, verehelichte Frauen hingegen treten in die strengste Abhängigkeit und unter die ängstlichste Obhut ihres Gemahls. Hier in Frankreich ist, wie gesagt, das Gegenteil der Fall, junge Mädchen verharren hier so lange in klösterlicher Eingezogenheit, bis sie entweder heiraten oder unter strengster Aufsicht einer Verwandten in die Welt eingeführt werden. In der Welt, d.h. im französischen Salon, sitzen sie immer schweigend und wenig beachtet; denn es ist hier weder guter Ton noch klug, einem unverheirateten Mädchen den Hof zu machen.
Das ist es. Wir Deutsche, wie unsere germanischen Nachbarn, wir huldigen mit unserer Liebe immer nur unverheirateten Mädchen, und nur diese besingen unsere Poeten; bei den Franzosen hingegen ist nur die verheiratete Frau der Gegenstand der Liebe, im Leben wie in der Kunst.
Ich habe soeben auf eine Tatsache hingewiesen, welche einer wesentlichen Verschiedenheit der deutschen Tragödie und der französischen zum Grunde liegt. Die Heldinnen der deutschen Tragödien sind fast immer Jungfrauen, in der französischen Tragödie sind es verheiratete Weiber, und die komplizierteren Verhältnisse, die hier eintreten, eröffnen vielleicht einen freieren Spielraum für Handlung und Passion.
Es wird mir nie in den Sinn kommen, die französische Tragödie auf Kosten der deutschen, oder umgekehrt, zu preisen. Die Literatur und die Kunst jedes Landes sind bedingt von lokalen Bedürfnissen, die man bei ihrer Würdigung nicht unberücksichtigt lassen darf. Der Wert deutscher Tragödien, wie die von Goethe, Schiller, Kleist, Immermann, Grabbe, Oehlenschläger, Uhland, Grillparzer, Werner und dergleichen Großdichtern, besteht mehr in der Poesie als in der Handlung und Passion. Aber wie köstlich auch die Poesie ist, so wirkt sie doch mehr auf den einsamen Leser als auf eine große Versammlung. Was im Theater auf die Masse des Publikums am hinreißendsten wirkt, ist eben Handlung und Passion, und in diesen beiden exzellieren die französischen Trauerspieldichter. Die Franzosen sind schon von Natur aktiver und passionierter als wir, und es ist schwer zu bestimmen, ob es die angeborene Aktivität ist, wodurch die Passion bei ihnen mehr als bei uns zur äußeren Erscheinung kommt, oder ob die angeborene Passion ihren Handlungen einen leidenschaftlicheren Charakter erteilt und ihr ganzes Leben dadurch dramatischer gestaltet als das unsrige, dessen stille Gewässer im Zwangsbette des Herkommens ruhig dahinfließen und mehr Tiefe als Wellenschlag verraten. Genug, das Leben ist hier in Frankreich dramatischer, und der Spiegel des Lebens, das Theater, zeigt hier im höchsten Grade Handlung und Passion.
Die Passion, wie sie sich in der französischen Tragödie gebärdet, jener unaufhörliche Sturm der Gefühle, jener beständige Donner und Blitz, jene ewige Gemütsbewegung, ist den Bedürfnissen des französischen Publikums ebensosehr angemessen wie es den Bedürfnissen eines deutschen Publikums angemessen ist, daß der Autor die tollen Ausbrüche der Leidenschaft erst langsam motiviert, daß er nachher stille Partien eintreten läßt, damit sich das deutsche Gemüt wieder sanft erhole, daß er unserer Besinnung und der Ahnung kleine Ruhestellen gewährt, daß wir bequem und ohne Übereilung gerührt werden. Im deutschen Parterre sitzen friedliebende Staatsbürger und Regierungsbeamte, die dort ruhig ihr Sauerkraut verdauen möchten, und oben in den Logen sitzen blauäugige Töchter gebildeter Stände, schöne blonde Seelen, die ihren Strickstrumpf oder sonst eine Handarbeit ins Theater mitgebracht haben und gelinde schwärmen wollen, ohne daß ihnen eine Masche fällt. Und alle Zuschauer besitzen jene deutsche Tugend, die uns angeboren oder wenigstens anerzogen wird, Geduld. Auch geht man bei uns ins Schauspiel, um das Spiel der Komödianten oder, wie wir uns ausdrücken, die Leistungen der Künstler zu beurteilen, und letztere liefern allen Stoff der Unterhaltung in unseren Salons und Journalen. Ein Franzose hingegen geht ins Theater, um das Stück zu sehen, um Emotionen zu empfangen; über das Dargestellte werden die Darsteller ganz vergessen, und wenig ist überhaupt von ihnen die Rede. Die Unruhe treibt den Franzosen ins Theater, und hier sucht er am allerwenigsten Ruhe. Ließe ihm der Autor nur einen Moment Ruhe, er wäre kapabel, Azor zu rufen, was auf deutsch pfeifen heißt. Die Hauptaufgabe für den französischen Bühnendichter ist also, daß sein Publikum gar nicht zu sich selber, gar nicht zur Besinnung komme, daß Schlag auf Schlag die Emotionen herbeigeführt werden, daß Liebe, Haß, Eifersucht, Ehrgeiz, Stolz, Point d'honneur, kurz, alle jene leidenschaftlichen Gefühle, die im wirklichen Leben der Franzosen sich schon tobsüchtig genug gebärden, auf den Brettern in noch wilderen Rasereien ausbrechen.
Aber um zu beurteilen, ob in einem französischen Stück die Übertreibung der Leidenschaft zu groß ist, ob hier nicht alle Grenzen überschritten sind, dazu gehört die innigste Bekanntschaft mit dem französischen Leben selbst, das dem Dichter als Vorbild diente. Um französische Stücke einer gerechten Kritik zu unterwerfen, muß man sie mit französischem, nicht mit deutschem Maßstabe messen. Die Leidenschaften, die uns, wenn wir in einem umfriedeten Winkel des geruhsamen Deutschlands ein französisches Stück sehen oder lesen, ganz übertrieben erscheinen, sind vielleicht dem wirklichen Leben hier treu nachgesprochen, und was uns im theatralischen Gewande so greuelhaft unnatürlich vorkommt, ereignet sich täglich und stündlich zu Paris in der bürgerlichsten Wirklichkeit. Nein, in Deutschland ist es unmöglich, sich von dieser französischen Leidenschaft eine Vorstellung zu machen. Wir sehen ihre Handlungen, wir hören ihre Worte, aber diese Handlungen und Worte setzen uns zwar in Verwunderung, erregen in uns vielleicht eine ferne Ahnung, aber nimmermehr geben sie uns eine bestimmte Kenntnis der Gefühle, denen sie entsprossen. Wer wissen will, was Brennen ist, muß die Hand ins Feuer halten; der Anblick eines Gebrannten ist nicht hinreichend, und am ungenügendsten ist es, wenn wir über die Natur der Flamme nur durch Hörensagen oder Bücher unterrichtet werden. Leute, die am Nordpol der Gesellschaft leben, haben keinen Begriff davon, wie leicht in dem heißen Klima der französischen Sozietät die Herzen sich entzünden oder gar, während den Juliustagen, die Köpfe von den tollsten Sonnenstichen erhitzt sind. Hören wir, wie sie dort schreien, und sehen wir, wie sie Gesichter schneiden, wenn dergleichen Gluten ihnen Hirn und Herz versengen, so sind wir Deutschen schier verwundert und schütteln die Köpfe und erklären alles für Unnatur oder gar Wahnsinn.
Wie wir Deutsche in den Werken französischer Dichter den unaufhörlichen Sturm und Drang der Passion nicht begreifen können, so unbegreiflich ist den Franzosen die stille Heimlichkeit, das ahnung- und erinnerungssüchtige Traumleben, das selbst in den leidenschaftlich bewegtesten Dichtungen der Deutschen beständig hervortritt. Menschen, die nur an den Tag denken, nur dem Tage die höchste Geltung zuerkennen und ihn daher auch mit der erstaunlichsten Sicherheit handhaben, diese begreifen nicht die Gefühlsweise eines Volkes, das nur ein Gestern und ein Morgen, aber kein Heute hat, das sich der Vergangenheit beständig erinnert und die Zukunft beständig ahnet, aber die Gegenwart nimmermehr zu fassen weiß, in der Liebe wie in der Politik. Mit Verwunderung betrachten sie uns Deutsche, die wir oft sieben Jahre lang die blauen Augen der Geliebten anflehen, ehe wir es wagen, mit entschlossenem Arm ihre Hüften zu umschlingen. Sie sehen uns an mit Verwunderung, wenn wir erst die ganze Geschichte der französischen Revolution samt allen Kommentarien gründlich durchstudieren und die letzten Supplementbände abwarten, ehe wir diese Arbeit ins Deutsche übertragen, ehe wir eine Prachtausgabe der Menschenrechte, mit einer Dedikation an den König von Bayern ...
„O Hund, du Hund - Du bist nicht gesund - Du bist vermaledeit - In Ewigkeit - Vor deinem Biß behüte mich, mein Herr und Heiland, Jesu Christ, Amen!“
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